80 Jahre Pogromnacht – Alisa Kirby

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„Viele wurden mitgenommen und ins Konzentrationslager gebracht, aber nicht mein Vater. Er hatte sich drauf vorbereitet … seine ganzen Orden vom Krieg rausgeholt, aber man hat ihn nicht geholt“…

80 Jahre Pogromnacht – Zeitzeugenberichte aus Nürnberg

Alisa Kirby wurde am 5. Juni 1921 als Ilse Wertheimer in Nürnberg geboren. Ab 1931 besuchte sie das Labenwolf-Lyzeum, wo sie die Mittlere ­Reife erlangte. Als Jüdin wurde sie aber schon nicht mehr zur Abschlussfeier zu­gelassen. 1936/37 war Vater Julius gezwungen, sein Geschäft für Baubedarf in der Fürther Straße weit unter Wert zu verkaufen. Zwar versuchten die Wertheimers zu emigrieren, die Familie stand auf der Liste für eine Auswanderung in die USA, doch die Wartenummer war zu hoch. Ilse gelang es jedoch, in England eine Au-Pair-Stelle zu bekommen. Drei Wochen vor Kriegsbeginn ging die 18-Jährige nach London; ihre Familie blieb in Deutschland zurück: Die Eltern und der jüngere Bruder Hans wurden 1941 mit einem Sammeltransport nach Riga-Jungfernhof verschleppt und getötet. Ilse Wertheimer heiratete in England einen Deutschen und ging mit ihm 1950 nach Israel. Dort nahm sie den Namen Alisa an; heute lebt sie in Naharija.

Julius und Hedwig Wertheimer, Repro: www.nurinst.org

Wir wohnten zuerst in der Bayreuther-/Ecke Lenbachstraße. Am Rathenauplatz in der Nähe war eine gewöhnliche Volksschule. 1927 kam ich für 4 Jahre dorthin, ich kann mich noch ganz gut erinnern, wie altmodisch das damals war. Der Lehrer hatte noch so einen Stock und hat den Kindern sogar die Hosen ausgezogen, sie über den Stuhl gelegt und ihnen eine hinten drauf gegeben. Einmal war ich ungezogen, da hat man mir eins auf die Hand gegeben, das hat fürchterlich wehgetan. Da waren arme und reiche Kinder zusammen. Von dem aufkommenden Nazismus habe ich nicht viel gemerkt. 1931 kam ich auf das Labenwolf-Lyzeum. Es gab sehr viel Armut und das war ja auch ein Grund, warum die Nazis an die Macht kamen. Wir haben Kleider mit in die Schule genommen, um sie den Kindern zu geben, die nichts Ordentliches anzuziehen hatten. In der Labenwolfschule waren wir 21 jüdische Schülerinnen in einer Klasse zusammen mit Katholiken, denn angeblich waren mehr die Protestanten rechts gerichtet als die Katholiken, so hat man mir das erklärt.

Der Kontakt zwischen uns jüdischen und den nicht-jüdischen Mädchen war in Ordnung, aber da wir so viele jüdische Schülerinnen waren, blieben wir lieber untereinander. Wir hatten großes Glück, dass der Direktor der Labenwolfschule deutschnational war, der war uns gut gesinnt. Es gab eigentlich nur einen, den Mathematiklehrer, der gleich nach den Wahlen in seiner SA-Uniform gekommen ist. Ich weiß jetzt nicht mehr genau, ob er auch direkt gesagt hat, dass er gegen uns war. Jedenfalls war er nicht sehr angenehm. Es gab aber auch einen Lehrer, der hat sich ganz offen zu uns bekannt, der hat keinen Hehl daraus gemacht. Nach und nach sind die jüdischen Schülerinnen alle ausgewandert und ich war 1936 die letzte jüdische Schülerin. In der Schule hat man mich nicht angegriffen. Aber auf der Straße, da war das gang und gäbe. Da gab es eine Schule in der Sulzbacher Straße, etwa auf Hausnummer 30. Da waren nur Jungens und die haben mir »Jude« nachgerufen, aber das ist ja nichts Besonderes, das gibt es auf der ganzen Welt. An direkte Anfeindungen des Nazi-Lehrers kann ich mich nicht erinnern. Aber wir wussten, dass er ein überzeugter Nazi war, denn er hat immer den Hitlergruß gemacht. Es gab oft Feiern auf dem Schulhof, die begannen dann mit dem Deutschland- und dem Horst-Wessel-Lied, und das Paradoxe ist, da mussten wir auch mitmachen. Wir jüdischen Mädchen standen zusammen, der Arm tat uns weh und wir haben ihn auf dem Vordermann abgelegt. Aber wir haben keine Strafen bekommen, weil wir Juden waren. 1936 hat mich der Direktor des »Labenwolfs« in sein Büro gerufen und gesagt, es tue ihm sehr leid, aber ich könne nicht an der Feier zur Abschlussprüfung teilnehmen. Das wäre nicht erlaubt, dass Juden an der Feier teil­nehmen.

Ich kann mich auch noch erinnern, dass man alle jüdischen Fleischgeschäfte geschlossen hat, weil man gesagt hat, koscher, das Schächten, das sei Tierquälerei. Einige Orthodoxe, die nur koscher gegessen haben, die mussten sich dann Fleisch aus dem Ausland kommen lassen. Uns war das nicht so wichtig, wir haben das dann woanders gekauft. Wir haben unser Leben so weitergeführt, wie es eben möglich war.

Es gab schrecklich viele Gesetze und Verbote. An jedem Kino, am Opernhaus und überall stand »Eintritt für Juden verboten« oder »Juden unerwünscht«. Wir sind trotzdem in die Oper gegangen. Wir waren jung, wir waren Kinder. Es hat uns weiter nicht gestört, und es ist auch nichts passiert. Ich war sogar noch 1938 für einen Monat in München in einer jüdischen Kochschule. Dort haben wir uns im Kino den Film »Bel Ami« angesehen. Na ja, es war dunkel, ich hatte sicher etwas Angst, aber ich bin trotzdem hingegangen.

Ich war in einer jüdischen Gruppe, denn in die Hitlerjugend oder den BDM konnte man ja nicht. In Nürnberg gab’s den Habonim und Esra. Esra, das waren die Frommen, und es gab noch die Zionisten. Aber wir waren die deutsch-jüdische Jugend. Die setzte sich nicht nur aus unserer Klasse, denn in unserer Schule waren ja auch Zionisten, sondern aus anderen Jungen und Mädchen in unserem Alter zusammen. Am Wochenende sind wir auf Fahrt gegangen, so hat man das genannt, beispielsweise mit dem Fahrrad. Neben der Synagoge war ein Vereinshaus, da hatte die Jugendbewegung ein Zimmer, dort fanden unsere Treffen statt. Wir sind in die Synagoge gegangen, nicht aus religiösen Gründen, sondern um uns dort zu treffen.

Später zogen wir, also meine Eltern und die Kinder, in unser eigenes Haus in der Sulzbacher Straße 50 um. Von dort sind wir oft in den Stadtpark gegangen und haben Handball gespielt oder uns mit anderen getroffen. Da war ein kleiner Kiosk, wir nannten ihn Milchhäuschen, gleich neben der Bayreuther Straße und dem Rosengarten. Weiter rechts war ein Restaurant und früher war es so, dass jeder etwas zu Essen mitgenommen hat und man nur noch etwas zu trinken kaufte. Man nannte das »Auspacken«. Freitagabends oder Samstag früh sind wir in die Synagoge gegangen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass in der Nähe der Synagoge, beim Hans-Sachs-Platz oder auf dem Obstmarkt, auf einer Hauswand ganz groß geschrieben stand: »Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid.« In Sütterlin-Handschrift, in alter gotischer Schrift oder wie das hieß.

1937 habe ich dann eine Stellung angenommen, um einen kaufmännischen Beruf zu erlernen. Da war ich bei einer Firma Gutmann und Company in der Roritzerstraße angestellt. Die führten unter anderem Zubehör für Vorhänge. Die Inhaber selbst waren auch Juden, aber vorher schon nach Turin, in Italien, emigriert. Sie hatten einen Geschäftsführer, der war Halbjude. Und da war ich ein ganzes Jahr lang als Lehrmädchen. Dann hat mein Vater im April 1938 entschieden, der Beruf kaufmännische Angestellte hätte keine Zukunft für mich hier in Deutschland und hat mich auf einer jüdischen Mädchenhaushaltungsschule in Frankfurt für ein Jahr eingeschrieben.

Die Synagoge am Hans-Sachs-Platz war sehr schön. Meine Eltern sind da auch hingegangen, sie waren nicht sehr fromm, eher liberal. Wir waren ja mal rund 10.000 Juden in Nürnberg. Es war jedenfalls die einzige Synagoge, wo ich mich wohl gefühlt habe, auch ich bin nicht sehr fromm. Da konnten Männer und Frauen gemeinsam unten sitzen, nur Frauen, die lieber alleine sitzen wollten, konnten oben auf die Empore gehen. Mit 12 Jahren ist nach jüdischem Glauben die Konfirmation für Mädchen, die Bat Mizwa. Wir trugen weiße Kleider und da, wo der Thoraschrein stand – das wäre bei den Orthodoxen nie gegangen – gab es so eine Bühne, da standen dann alle unsere Stühle und wir haben da auch unsere Psalmen gelernt. Zu Hause haben wir Geschenke bekommen und eine Feier gehalten. Die Predigt von unserem Hauptrabbiner, Dr. Freudenthal, die war in Deutsch, nicht auf Hebräisch. Die Gebetbücher waren zweisprachig, auf der einen Seite Deutsch, auf der andern Seite Hebräisch. Damals konnte ich das Hebräische sowieso nicht verstehen.

Wir waren Juden, bewusste Juden, das wollten wir auch nicht verheimlichen. Wir waren Deutsche jüdischen Glaubens. Das war alles ganz selbstverständlich. Aber wir hatten so einen großen Familienkreis, dass meine Eltern, außer geschäftlich, hauptsächlich mit Leuten jüdischen Glaubens zusammen waren. Das hat sich eben so ergeben.

Ich glaube, die Parteitage waren jedes Jahr am Luitpoldhain. Einmal bin ich sogar hingegangen, das hat mich sehr interessiert. Am Bahnhof sah ich den Hitler auf seinem Wagen und er hat den Hitlergruß gemacht. Das waren große Feiern in Nürnberg, das war gefährlich. Nachdem die Deutschen doch so gern trinken, wurde natürlich Bier gesoffen, und anschließend liefen viele mit nassen Hosen herum, das war kein sehr schöner Anblick. Da haben wir uns ferngehalten.

Natürlich kenne ich auch den Julius Streicher. Der war sehr bekannt, da er aus Nürnberg kam und es damals überall diese Stürmer Kästen gab. Diese gläsernen Zeitungskästen sahen mehr oder weniger genauso aus wie heute. Vermutlich haben die meisten das auch alles geglaubt, was in der Zeitung stand, nehme ich an. Wenn man das jeden Tag liest, das ist wie Gehirnwäsche. Auch bei uns in der Sulzbacher Straße gab es so einen Kasten. Nürnberg war durch Streicher irgendwie etwas antisemitischer und es gab Leute, die sind von Nürnberg nach Berlin gezogen, denn das war eine viel internationalere Stadt, da fühlte man den Antisemitismus nicht so. Ich kann mich erinnern, dass gesagt wurde: Kauft nicht bei Juden usw. Die Schaufensterscheiben der Läden wurden eingeschmissen, aber später hat es die Läden immer noch gegeben. In der Innenstadt, da gab es viele Textilgeschäfte: Levinger & Co., die Gebrüder Manes, die Marmorecke und das Kaufhaus Tietz. Ich weiß nicht, wann die ihre Läden aufgegeben haben, aber die gab es noch lange nach 1933. Bis es eben nicht mehr ging und die Leute weggegangen sind, zugemacht haben oder zumachen mussten.

Die Unternehmen wurden teilweise unter Druck verkauft. So auch bei meinem Vater. Der hat seine Eisengroßhandlung in der Fürther Straße an seinen Reisenden und seinen Prokuristen verkauft. Ich glaube, die Enkelkinder führen das heute noch weiter. Amschler und Schlosser heißt die Firma. Der Amschler, der Reisende, war ein Nazi, er ist im Krieg umgekommen. Der Herr Schlosser war jedoch in Ordnung. Ich weiß nicht, ob das 1936 oder 1937 war. Wenn wir das Geschäft nicht verkauft hätten, dann hätte man es uns weggenommen. Es wurde eben unter Druck verkauft, das heißt sehr billig verkauft. Ich habe später versucht, eine Entschädigung zu erhalten. Aber mein Rechtsanwalt hat gesagt, da ist nichts zu machen, denn es wurde ganz legal verkauft. Das war’s dann!

In der »Reichskristallnacht«, da war ich in Frankfurt an der jüdischen Haushaltsschule. Am 9. November in der Nacht haben wir nichts gehört in der Schule, die sind nicht zu uns reingekommen. Aber am nächsten Morgen wurden wir informiert, dass die Schule geschlossen wird. Auf der Straße habe ich gesehen, wie Leute auf Lastwagen aufgeladen wurden. Ich bin dann nach Nürnberg zurück. Bei uns in der Wohnung weiß ich nur, das hat mein Vater mir erzählt, dass er sich gut angezogen und seine ganzen Orden vom Krieg rausgeholt hat. Er hatte sich drauf vorbereitet, dass man ihn mitnimmt, aber man hat ihn nicht geholt. Bei uns wurde nur ganz wenig kaputt gemacht. Wir waren ja die einzigen Juden in unserem Haus, die anderen waren alle keine Juden. Viele wurden mitgenommen und ins Konzentrationslager gebracht, aber nicht mein Vater. Warum man ihn nicht mitgenommen hat, kann ich nicht sagen.

Wenn ich die Deutschen beschuldige, muss ich dazu sagen, dass uns die ganze Welt ja nicht aufgenommen hat. Das hat nicht nur damit zu tun gehabt, dass man keine Juden reinlassen wollte, sondern beispielsweise die Engländer haben niemand hereingelassen ohne Geld. Wenn man Geld hatte und eine Fabrik aufgemacht hat mit 25 Leuten, dann konnte man nach England gehen. So war das bei einer Freundin von mir, deren Familie aber schon 1929 ausgewandert war. Und für Amerika hatten wir leider eine zu hohe Wartenummer. Wir hatten Nummer 25.000 und die Amerikaner haben jedes Jahr nur einige Tausend aus Deutschland aufgenommen. Und deshalb sind wir nicht rausgekommen. Ich bin dann als Au Pair nach England gegangen. Ich hatte eine Freundin in England, die hatte für mich eine Familie gefunden. Das musste alles ganz legal gehen, da hat mich eine Familie angefordert und ich konnte ausreisen. Aber die Deutschen haben mich erst nicht gehen lassen. Zuerst musste ich 18 Jahre alt sein, um nach England fahren zu können. Ich wurde im Juni 1939 18 Jahre alt, aber einen Pass habe ich zunächst nicht bekommen. Die »Reichsfluchtsteuer« hat mein Vater bezahlt, aber ich weiß nicht wie viel. Und ich musste eine Liste machen, was ich alles mitnehme: Kleider, Schuhe, eine Kamera, eine Nähmaschine usw., eigentlich nichts Besonderes. Die haben mich gefragt, wozu ich das alles brauchte und dann gesagt, das dürfe ich alles nicht mitnehmen. Ich habe dann ein paar Schuhe gestrichen und ein paar Kleider. Bis mir das dann genehmigt wurde und ich den Pass ausgehändigt bekommen habe, hat man mich schikaniert. Drei Wochen vor dem Kriegsausbruch am 1. September 1939 bin ich mit einer Freundin zusammen nach England gefahren.

Am Tag des Abschieds, im August, kam meine Familie mit an den Nürnberger Bahnhof. Alle hatten sicher gehofft, dass wir uns wiedersehen, nehme ich an. Man konnte sich ja schreiben. Noch während des Krieges durfte einmal im Monat eine Karte mit 25 Worten geschickt werden. Das haben meine Verwandten dann auch getan. Bis mein Großvater eines Tages geschrieben hat, dass er jetzt alleine ist. Wir wussten ja von nichts, bis nach dem Krieg, bis ich vom Roten Kreuz gehört habe, dass meine Eltern in Jungfernhof, bei Riga, umgekommen sind. Sie konnten nicht mehr rechtzeitig das Land verlassen, denn Amerika ist in den Krieg eingetreten. Verwandte haben noch versucht, eine Ausreise nach Kuba oder so etwas zu erreichen, aber es ging nicht mehr. Und in die Schweiz, nun gut, wenn man viel Geld hatte, konnte man dorthin gehen, wenn man kein Geld hatte, haben sie einen zurückgeschickt ins Lager. Die Leute fragen immer, warum seid ihr nicht raus. Auch für Palästina gab es Zertifikate, die konnte man zwar kaufen, für 1.000 Pfund oder so. Ich hatte keine Ahnung vom Zionismus, ich wusste darüber von zu Hause aus gar nichts. Das hängt immer davon ab, wie die Eltern eingestellt waren. Ich wusste überhaupt nichts von Palästina oder so. Wir hatten eine befreundete Familie, die ist nach Tel Aviv ausgewandert, aber später ist sie dann weiter nach Amerika. Meine Eltern aus Deutschland rauszubrin­gen, dazu war gar keine Möglich­keit. Mein Vater hat nie daran geglaubt, dass Hitler so lange regieren könnte. Er hat immer gedacht, dass sich die Nazis nicht lange halten könnten und am Anfang hatte keiner gewusst, dass es Krieg geben würde.

Mütterlicherseits wurden fast alle gerettet. Väterlicherseits sind alle umgekommen, bis auf einen Halbbruder meines Vaters und seine Tochter. Hätten wir eine niedrigere Nummer gehabt für Amerika, dann wäre ich bestimmt nicht hier. Denn ich hatte schon damals eine Fahrkarte, um mit dem Schiff von England nach Amerika zu fahren. Wenn ich meinen Mann nicht kennen gelernt hätte, wäre ich heute auch in Amerika.

Mein kleiner Bruder ist zusammen mit meinen Eltern deportiert worden. Er war fünf Jahre jünger als ich. Mit einem Kindertransport durfte er nicht mitfahren, denn die Leute von der Jewish Agency, oder wer das da in Berlin organisiert hat, die haben erst die Kinder aus Familien genommen, die ihre Kinder nicht mehr ernähren konnten. Und so ist er eben bei meinen Eltern geblieben.

Als ich in England ankam, war ich anfangs traurig, denn es war dort sehr unangenehm. Es war zwar eine jüdische Familie, aber ich war ein Außenseiter. Dann kam ich in eine andere jüdische Familie, das war zufällig die Schwester. Das waren auch Juden und die haben gesagt, das mit den Konzentrationslagern und den Gräueln, das stimmt doch alles nicht. Also das konnte ich überhaupt nicht verstehen. Da musste ich alleine in der Küche essen. Und dann hatte ich Glück im Unglück, denn die Familie ist eine Woche bevor der Krieg ausgebrochen ist aus London weg. Mich haben sie alleine im Haus gelassen mit Hund und Katze. Aber die Mutter meiner Freundin, die das für mich alles organisiert hatte, sagte, »Das kommt überhaupt nicht in Frage, Du kommst zu mir.« Und ich habe 14 Tage bei ihr gewohnt. Dann hat sich zufällig ergeben, dass zwei Häuser weiter bei einer jüdischen Familie das Au-Pair-Mädchen kurz vorher weggegangen ist. Der Mann war 48 Jahre vorher aus Stuttgart gekommen, sprach also auch Deutsch, aber seine Frau war Engländerin. Da war ich dann von 1939 bis 1943. Ich durfte eine Ausbildung machen. Da hatte ich großes Glück, für sie war ich wie ein eigenes Kind. Ich aß mit der Familie, ich hatte eine Waschfrau und jemanden für die schweren Arbeiten. Ich durfte mit ihnen ins Thea­ter und ins Kino. Da habe ich es gut gehabt.

Aus Deutschland bin ich rausgeschmissen worden, weil ich Jüdin war, und als ich dann nach England kam, war ich nicht nur Jüdin, sondern auch noch Deutsche. Das war für mich etwas sehr Unverständliches, dass man als Deutsche aus Deutschland ausgewiesen wurde, weil man Jüdin war, und in ein anderes Land kam, so wie ich nach England, und dort dann als Deutsche feindselig angesehen wurde. Das machte das Leben etwas schwierig, bis man sich etabliert hat. Dasselbe galt auch für meinen Mann Georg. Er war auch ein jüdischer Emigrant, er kam aus Bielefeld, und man hat ihn gleich eingesperrt, weil er Deutscher war. Für drei Jahre. Solches Verhalten kann ich den Engländern nicht so leicht verzeihen.

Meinen Mann habe ich 1943 kennen gelernt, da war er bereits in der britischen Armee. Wir haben im September 1943 geheiratet und zwei Monate später ist er in den Krieg geschickt worden. Er wollte nicht nach Japan oder Indien, er wollte gegen die Deutschen kämpfen. Ich war über zwei Jahre alleine und es war schwer, eine Arbeit zu finden. Ich habe bei einer amerikanischen Firma gearbeitet, sieben Jahre lang, bis sechs Wochen bevor meine Tochter zur Welt gekommen ist. Wir hatten nicht viel Geld, aber wir waren sparsam und anspruchslos und wir waren jung.

Mein Mann hatte noch einen Bruder in Israel. Und da seine ganze Familie umgekommen ist, dachte er, es wäre schön, mit dem Bruder und seiner Familie in Israel zu leben. Das ist einer der Gründe, warum mein Mann nach Israel wollte und weil er nicht wollte, dass man unseren Kindern »Jid« oder so nachruft. Und da dachte er, Israel sei das richtige Land für uns. Jetzt leb ich schon seit 1950 hier, und ich muss sagen, es war wohl die richtige Entscheidung. Ich fühle mich hier frei, ich bin Israeli, hier wird man nicht angegriffen, weil man Jude ist. Für meine Kinder ist es ganz selbstverständlich, dass sie Israelis sind. Sie kennen gar nichts anderes, meine Enkelkinder ganz besonders. Und so hoffen wir, dass wir auch in Zukunft mit den Nachbarn zu einem Frieden kommen werden.

Als wir von den Vernichtungslagern gehört haben, versuchten wir, dies zu verdrängen. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass die Menschen sich wie zur Dusche ausziehen mussten und dann in die Gaskammer geschickt wurden. Meine Eltern waren nicht lange in Jungfernhof bei Riga. Ich glaube, sie mussten nicht lange leiden, sie sind ziemlich schnell in die Gaskammer gekommen. Das haben wir ja erst nachher erfahren. In England habe ich auch nicht so sehr viel mitbekommen, ich weiß nicht, ob die das vertuschen wollten oder ob wir nicht so viel Zeitung gelesen haben. Das weiß ich nicht mehr. Wir waren mit uns selber beschäftigt, mit dem Kampf um unser eigenes Leben. Wir haben versucht, das Beste draus zu machen.

Ja, ich glaube, Deutschland ist eine Kulturnation und gerade deshalb frage ich mich, wie konnte das in Deutschland passieren, wo die Kultur so hoch entwickelt war. Ich bin sehr oft nach Nürnberg zurückgekommen, ich fühle mich dort wohl, ich finde die Stadt auch sehr schön. Ich treffe Leute, mit denen ich mich gut verstehe, wir haben ein Gesprächsthema, wir kommen aus demselben Milieu, haben die­selben Erinnerungen. Das Leben ist in Nürnberg einfacher als in Israel. Hier ist das Leben schwerer, denn wir mussten alles neu schaffen.

Das Interview wurde im Mai 1999 in Naharija (Israel) geführt. Auszug aus dem von Jim G. Tobias herausgegebenen Lesebuch, »… und wir waren Deutsche!« Jüdische Emigranten erinnern sich, Nürnberg 2009