„Es geht um die Verteidigung unserer Demokratien und Menschenrechte, die Verteidigung unserer Zukunft“

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Jourhaus, seit 2005 Eingang zur Gedenkstätte (Originalgebäude), (c) Guido Radig

Ein Interview mit Stefan Dietrich über Schülerreisen, die er aus dem Schweizer Aargau an die Erinnerungsorte der Schoa organisiert…

Das Interview erschien auf der Webseite der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA)

Herr Dietrich, Sie organisieren seit vielen Jahren Schülerreisen aus dem Aargau an die Erinnerungsorte des Holocaust. Warum ist dieses Lehrangebot aus Ihrer Sicht heute so wichtig?

Stefan Dietrich: Es gibt aus meiner Sicht verschiedene wichtige Argumente, die für die Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Verbrechen an ausgewählten Erinnerungsorten sprechen:

Erstens stellt der Holocaust eine historische Zäsur dar und ist Bestandteil unserer Lehrpläne. Das Lehrangebot betrachte ich als wichtiges Grundlagenthema, da die planmässige, systematische und industrielle Ermordung der europäischen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten einen einmaligen Bruch in der Menschheitsgeschichte darstellt. Die Thematisierung und Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur und der Shoah sind – heute selbstverständlich – ein obligatorischer und fester Teil unserer Lehrpläne in der Schweiz.

Aus pädagogischer Sicht ist ein Besuch eines ausserschulischen historischen Lernortes grundsätzlich auch eine Erweiterung des Lern- und Erfahrungsangebots der Schule und ermöglicht neue, intensivere Lernchancen. Historische Ereignisse werden mit der Gegenwart, der Lebenswelt der Jugendlichen, in Verbindung gebracht und verknüpft. Das Lehrangebot ermöglicht eine starke kognitive und oft auch eine emotionale Auseinandersetzung am Ort des historischen Geschehens und wirkt erfahrungsgemäss bei der überwiegenden Mehrheit der Schülerinnen und Schüler zusätzlich motivierend.

In Bezug auf die nationalsozialistische Diktatur und die Shoah befinden wir uns in einer Übergangsphase. Es leben immer weniger Zeitzeugen und in wenigen Jahren wird es nicht mehr möglich sein, das direkte und persönliche Gespräch mit ihnen zu führen.

Gibt es noch weitere Gründe, die für die Schülerreisen an die Erinnerungsorte sprechen?

Das im Falle meiner Schule fakultative Lehrangebot, Erinnerungsorte – beispielsweise die KZ-Gedenkstätte Dachau – aufzusuchen, wird seit Jahren von immer mehr Schülerinnen und Schülern wahrgenommen. Die Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen ist vor Ort viel intensiver. Das historische Vorwissen und das in der Schule erlernte Wissen wird vor Ort greifbar, spürbar und anhand ausgewählter individueller Schicksale auch persönlicher. Ein Besuch einer KZ-Gedenkstätte bleibt über lange Zeit in Erinnerung.

In zahlreichen Staaten und Gesellschaften Europas sind zurzeit besorgniserregende Prozesse zu beobachten. Autoritäre Denkmuster scheinen wieder salonfähig zu werden und auch Nationalismen erreichen den gesellschaftlichen Mainstream. Längst überholt geglaubte nationalistische und rassistische Gedanken und Ideologien werden vom Müllhaufen der Geschichte geholt und erfolgreich weiterverbreitet. Mit solchen Reisen können junge Menschen für solche Entwicklungen sensibilisiert werden.

Was denken Sie nehmen Ihre Schüler für die Zukunft von solchen Reisen mit?

Mit Sicherheit bleiben bei vielen Schülerinnen und Schülern die starken Eindrücke, die sie während des Aufenthaltes am jeweiligen Erinnerungsort, auf dem Gelände der Gedenkstätten, erhielten. Diese materielle Erfahrung des Historischen bleibt. Verstärkt wurden diese Erfahrungen bisher vor allem durch zahlreiche persönliche Gespräche mit Überlebenden.

Unsere Schüler halten ihre Eindrücke in der Regel während oder nach den Reisen schriftlich, in Form von Aufsätzen fest. Diese Texte sind oft berührend und geben einen tieferen Einblick. Es geht hierbei nicht um schulische Leistungen, sondern um ein Aufzeigen der Erfahrungen, der Auseinandersetzungen und erster Verarbeitungsprozesse. Es geht nicht nur um das Historische, das Erlernen von Fakten und Jahreszahlen, sondern vielmehr darum, das Geschehene, die damaligen Prozesse, die Vergangenheit zu verstehen und daraus für die Gegenwart und Zukunft «zu lernen». Wichtig ist hierbei auch die Personifizierung, die Vermenschlichung einzelner Schicksale.

Wie nachhaltig die Erfahrungen einer solchen Reise noch nachwirken, ist schwer zu beantworten. Alle empirischen Untersuchungen weisen aber darauf hin, dass Lernende diese Gelegenheiten positiv in Erinnerung behalten. Dies alles dient als Anker im Meer des Wissens, um sich Wesentliches anzueignen. Denn es geht bei diesem Lehrangebot schliesslich auch darum, dass unsere Schüler für aktuelle und zukünftige Entwicklungen und die Bewahrung unserer Demokratie sensibilisiert werden.

Gibt es eine Reise, die Ihnen oder Ihren Schülern besonders in Erinnerung geblieben ist?

Es gibt mehrere Reisen und Eindrücke, die sich vielen Schülerinnen und Schülern eingeprägt haben. Die eindrücklichsten waren diejenigen mit Überlebenden, die für den Tag der Befreiung am 29. April aus der Ukraine und aus Russland angereist waren und mit uns im Internationalen Jugendgästehaus übernachteten und die Mahlzeiten eingenommen haben. Dank der hilfsbereiten Übersetzer und Betreuer ergaben sich zwischendurch immer wieder Gespräche unserer mehrheitlich 15- und 16-jährigen Schülerinnen und Schüler und den über 90-jährigen Zeitzeugen. Diese Gespräche, die abendlichen Vorträge und Fragerunden waren oft sehr emotional, und ehemalige Schüler erinnern sich heute noch gerne daran. In Erinnerung blieben die Gespräche mit Zeitzeugen, die damals, als sie nach Dachau oder zuerst in ein anderes Konzentrationslager kamen, etwa im Alter unserer Schülerinnen und Schüler waren und rückblickend, ohne Verbitterung, aber mahnend über ihr Schicksal berichteten. Ihre Botschaft an uns war «Seid wachsam!».

Was ist Ihre persönliche Motivation, solche Reisen durchzuführen?

Im Alter von 15 Jahren besuchte ich, damals als Schüler, zum ersten Mal eine KZ-Gedenkstätte. Es war Dachau. Rückblickend war für mich dieser Besuch prägend und eine Folge war die Auseinandersetzung mit der Geschichte meiner Familie. So oft wie möglich begann ich meine Grosseltern zu befragen und wollte über das Leben als junge Erwachsene in den 30er und 40er Jahren erfahren. Bis heute beschäftige ich mich mit der Frage, wie es möglich war (und heute noch ist), dass unmenschliche Ideologien Millionen von Menschen in Deutschland begeistern konnten und auch heute noch Anhänger finden.

Durch Aufklärung, Information und Erinnerung können wir künftige Generationen erreichen und sie für Vergangenheit und Gegenwart sensibilisieren. Leider zeigt unsere Gegenwart deutlich, wie dünn die Schicht unserer Demokratien und Zivilisationen ist und wie leicht sie in Frage gestellt werden können.

Ich bin überzeugt: Es geht hier auch um die Verteidigung unserer Demokratien und Menschenrechte, die Verteidigung unserer Zukunft.

Was wünschen Sie sich von Seiten der Schulen an Unterstützung, um solche Reisen auch künftig durchführen zu können oder anders gefragt, machen die Schulen aus Ihrer Sicht genug, um solche Reisen zu unterstützen?

Unser Bildungswesen hat nicht nur die Aufgabe, Wissen und Kompetenzen zu vermitteln und junge Menschen fürs Berufsleben vorzubereiten, sondern auch, uns wichtige Werte zu vermitteln und auch vorzuleben. Hierzu gehören Demokratie, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Daher ist die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur und der Shoah nicht nur reine Wissensvermittlung, sondern es geht hierbei um eine Haltungsfrage mit starkem Gegenwartsbezug.

Als grundlegend und wichtig betrachte ich daher, dass sich Schulen einsetzen, vorangehen und deutlich Position beziehen – auch gegen allfällige, oft vorgeschobene Zwänge und Widerstände, sogenannte Sparmassnahmen bzw. Kürzungen im Bildungsbereich. Es geht hierbei auch darum Farbe zu bekennen! Neben ideeller Unterstützung ist eine finanzielle seitens der Schulen und Gemeinden notwendig, damit auch Lernende aus sozial schwächeren Familien diese Lernangebote nützen können. Daran kann man die Haltung der Schulen und Gemeinden erkennen. Viele sind vorbildlich.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass das Feedback sowohl bei Schülerinnen und Schülern, wie auch bei Eltern und im gesellschaftlichen Umfeld durchwegs sehr positiv war. Immer mehr Schulen im Aargau organisieren solche Reisen, beispielsweise in die KZ-Gedenkstätte Dachau oder nach Auschwitz.

Stefan Dietrich (Jahrgang 1974) ist Historiker und unterrichtet an der Sek- und Realschule in Bremgarten (AG). Seit vielen Jahren organisiert er für die Abschlussklassen Reisen in die KZ-Gedenkstätte Dachau. Er nahm an Lehrerweiterbildungen und Konferenzen in Auschwitz und Yad Vashem teil. Neben seiner beruflichen Lehrertätigkeit setzt er sich mit dem aktuellen historischen Revisionismus und Nationalismus in Südosteuropa auseinander.

Bild oben: Jourhaus, seit 2005 Eingang zur Gedenkstätte (Originalgebäude), (c) Guido Radig