Nichts Neues in Jerusalem

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Mosche Ya´akov Ben-Gavriêl schrieb nach seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg einen Antikriegsroman voller Überraschungen, der nun im deutschen Original vorliegt…

Rezension von Galina Hristeva
Zuerst erschienen auf: Literaturkritik.de

„Warum Krieg?“ fragte der große Pazifist Albert Einstein im Juli 1932 den großen Menschenkenner Sigmund Freud. In seinem langen Antwortbrief erklärte Freud, dass der „innerhalb jedes lebenden Wesens“ arbeitende Todestrieb sich auch „nach außen, gegen die Objekte“ wenden kann. „Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes Leben dadurch, daß es fremdes zerstört“, so Freuds pessimistische Botschaft.

„Weshalb ist […] überhaupt Krieg?“ fragten sich die Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Auf diese Frage hat der einfache Soldat Stanislaus Katczinsky in Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues eine schlichte Antwort: „Es muß Leute geben, denen der Krieg nützt.“ Remarque fragt nach dem Sinn und Zweck des Kriegs und erzählt „ohne Anklagen [und] mit viel Akkuratesse“ (Hellmuth Karasek) vom Warten in den Schützengräben, von den Schlachten, von den schweren Frontverletzungen und vom Tod.

Der in Wien als Eugen Hoeflich geborene und seit 1927 in Jerusalem lebende Schriftsteller Mosche Ya´akov Ben-Gavriêl stellte sich ebenfalls die Frage „Warum Krieg?“ und schrieb einen nicht weniger spektakulären Anti-Kriegsroman: Jerusalem wird verkauft oder Gold auf der Straße. In diesem „Tatsachenroman“, dem das Tagebuch des Autors zugrunde liegt, erzählt er jedoch „nichts von Schlachten oder militärischen Bewegungen“. Anders als Remarque, dessen einleitendes Motto ausdrücklich darauf besteht, das Buch sei keine Anklage, stellt Ben-Gavriêl seine Anklage voran: „Es ist die erste Darstellung der in aller Historie wohl ersten Plünderung dieser Heiligen Stadt nicht durch den Feind, sondern durch den Freund. Deutsche, Österreicher und Türken führten hier bis zum Einzug Allenbys einen Krieg nicht um eine Idee, nicht von Mann gegen Mann, sondern einen Kampf um die höchsten Goldkurse, gegen eine Bevölkerung, die infolge dieses Krieges der militärischen Spekulanten in unvorstellbarer Weise hungerte.“

Faehnrich Dan: „Türkei prompt greifbar“ sollte der Roman ursprünglich heißen. Zu Beginn liegt der österreichische k.u.k. Leutnant Dan im Hospital, leidet unter dem „trostlos monotonen Ablauf der Tage“, an „ungeheuerer uferloser Langeweile“ und beschließt daher am 15. September 1916, seinem Geburtstag, ein Tagebuch zu beginnen. Dan fragt sich: „Wo sind die schönen kindlichen Zeiten des Kriegsbeginnes, da einem der Heldentod etwas war, auf das man sich freute, wie auf das Ausgehen mit einem Mädchen am Sonnabend?“ Nur wenige Seiten später konstatiert er abgeklärt und erbarmungslos: „Österreich ist allem Anschein nach zum Tod verurteilt. Ich weine ihm nicht nach.“

Die Tagebuchform wird nicht durchgehalten, wohl aber die damit einhergehende Ich-und Innenperspektive. Eingebettet in die Tagebuchform findet man literarische Formen und Schreibweisen wie Reisebericht, Abenteuerroman, Kriegsroman, humoristischer Roman, Autobiografie, Biografie, Bekenntnis. Das Abenteuer nimmt seinen Lauf durch folgende „denkwürdige“ Depesche: „leutnant dan hat das kommando der detachierten k.u.k. unterabteilung jerusalem zu übernehmen stop sofort via millitärbevollmächtigten constantinopel abgehen stop vollzug anher melden stop instradierungsabt a.o.k.“ Dan reist unverzüglich von Wien nach Konstantinopel, wo der schöne Frühlingstag und die erlesenen Dinners ihn „alles Militärische“ vergessen lassen. Vor allem gilt es aber, „das Prestige [zu] wahren. Man muss zeigen, daß man etwas Besseres ist als die lausigen Türken und zumindest ebensoviel wie die Preußen“. Vom Ort Haidar Pascha aus geht es dann nach Asien – in eine, wie Dan hofft, „reinere Atmosphäre“.

Landschaftsbeschreibungen gehören zu Ben-Gavriêls Stärken. Leutnant Dan durchquert „Steppen und Wüsten, Städte und Dörfer, pastorale Landschaften und solche von erhabener Grandiosität, niederdrückend in ihrer allzu großen Erhabenheit“. Immer wieder, leise, unaufdringlich und doch unmissverständlich schleicht sich zutiefst Beunruhigendes in die Exotik der Landschaft ein: „Palästinensische Juden kamen an die Waggons und erzählten uns, daß sie aus unbekannten Gründen in dieses Steppendorf verbannt wurden, wo sie allmählich verhungerten. Kurz vor Abfahrt des Zuges wurde eine Gruppe von Armeniern vorbeigetrieben.“ Fürwahr eine „merkwürdige Reise“, die auch nach Aleppo führt, der „beinweißen Stadt“, „in deren Mauern Tausende von armenischen Waisen liegen, deren Väter und Mütter man mit deutscher Erlaubnis an den Straßen Anatoliens erschlug“.

„Gottes Lächeln“ und ein Hauch aus „Tausenundeiner Nacht“ liegen über Damaskus. Und dann kommt Jerusalem mit dem k.u.k. mobilen Reservespital Ratisbonne, in dem Dan endlich Quartier beziehen und seinen Dienst antreten wird. Heilig und geheimnisvoll ist Jerusalem! Das Krankenhaus Ratisbonne wiederum ist „ein merkwürdiges Gemisch […] aus Spital ohne Kranke, Kaserne mit Privatleuten in Uniform und Lager einer halb militärischen sanitären Expedition“. Dans Dienst kurz auf den Punkt gebracht: „Im übrigen besteht meine Beschäftigung darin, den Anschein von Beschäftigung zu erwecken.“ Fast auf jeder Seite des Romans begegnet man dem Wort „merkwürdig“, vieles in Dans Alltag ist grotesk-absurd, ja irrsinnig wie die ganze Expedition und die Beziehungen der Verbündeten untereinander: „Die Herren Deutschen. Mit unseren Bundesgenossen habe ich dienstlich beinahe gar nichts zu tun. Ich komme daher gut mit ihnen aus.“ „Ein besonderes Kapitel“ sind auch die Türken: „Beinahe jeder Einzelne ist ein Politiker. Viele halten uns, besonders aber die Deutschen, für weit größere Feinde der Türkei als die Engländer und würden mit weit größerer Begeisterung auf Seiten der letzteren kämpfen.“

Ratisbonne ist weit weg von der Front. Es ist „der ruhende Pol, wo man täglich frisches Brot bäckt, wo man allwöchentlich zweimal schlachtet und bei wesentlichen Anlässen warmen Champagner trinkt“. Aber Ratisbonne ist auch ein Ort, „wo Welt und Krieg sich um die Kurse drehen“. Während der Krieg da draußen bei Gaza und im fernen Europa tobt – immer wieder bringt man von der Front eine Leiche nach Ratisbonne –, laufen in Jerusalem die Geschäfte auf Hochtouren. Das Gold liegt auf der Straße, und in Jerusalem werden durch Spekulationen Vermögen verdient. „Es ist ein Vergnügen, in Ratisbonne Krieg zu führen!“ Für neue exquisite Dinners mit Champagner und „Blumen aus dem Garten Gethsemane“ sorgen auch Erzherzog Hubert aus Wien und Djamal Pascha aus Konstantinopel mit ihrem hohen Besuch, der alles noch mehr aufwirbelt.

Eine „Goldgräberstadt“ ist Jerusalem, aber eine, „in der die Märtyrer verhungern und die Spekulanten sich heilig sprechen“. Ben-Gavriêls erzählerische Strategie in diesem Buch ist raffiniert und subtil, seine Erzähltechnik „ungewöhnlich“, wie der Herausgeber Sebastian Schirrmeister in seinem hervorragenden Kommentar bemerkt. Während wir mit dem eher ruhigen, mal gemütlich plaudernden, mal vor sich hin reflektierenden, aber die Welt immer genau beobachtenden Leutnant Dan das Leben in Jerusalem in all seinen Facetten kennen lernen, werden wir auch mit seinem Freund Walter Zinner konfrontiert. Zinner, der das österreichische k.u.k. Pflichtbewusstsein verkörpert, der sich im Buch aber immer mehr zum Ankläger entwickelt. Zinner, der hochsensible Nervenmensch, der jede einzelne Luftschwingung in diesen unruhigen Zeiten registriert und sich maßlos darüber aufregt. Zinner, der „Fatalist“, der von Tag zu Tag zum Kriegsgegner wird. Zinner, der Jude, der „schon wieder einen Zusammenstoß mit einem deutschen Offizier hatte“ und der immer mehr verzweifelt und doch Widerstand zu leisten versucht.

Schließlich kommt das Grauen: „Der Tod steigt heran von Ber-Sheva nach Gaza, von Gaza nach Hebron, von Hebron nach Jerusalem.“ Was wie ein humoristischer Abenteuerroman begonnen hat, sich dann immer mehr „der Grenze des Wahnsinns“ nähert, endet in unbeschreiblichem Elend und Entsetzen. Überall in den Synagogen Jerusalems „verhungern alte Männer und alte Weiber, wahnsinnig geworden, reißen sich die Kleider vom Leib“.

Ben-Gavriêls Talent, Komik und Tragik, Humor, Ironie, bitteren Sarkasmus und härteste Satire zu vermischen ist erstaunlich. Ebenso erstaunlich ist seine Kunst, große historische Ereignisse mit wenigen kraftvollen Strichen zu skizzieren: „Das Schreckensregiment, das der wahnsinnige Djemal etabliert hat, erreicht Jerusalem. Die Bestie ist losgelassen. Wer nicht Türkisch spricht, ist politisch verdächtig. Araber werden gehängt, und nun kommt die Reihe auch an die Juden. Längst hat der Tod die christlichen Armenier gefressen. Die Zionisten, die man, wahrscheinlich aus Angst vor den Amerikanern, nur nach Cospoli, nach Damaskus oder auch in die Wüste verschickt hat, fallen nun der blinden Rache des Kamelpaschas zum Opfer.“ Und mitten in diesem apokalyptischen Schrecken vernimmt man, das Gold sei „auf zehneinviertel gestiegen“.

Um den „unerträglichen Hexensabbat“ zu beenden, beschließt Zinner, Djemal Pascha umzubringen. Ben-Gavriêls Buch ist nicht zuletzt das fein psychologisierende Porträt eines Menschen, der „die Lethargie des Opferlamms“ zu verlassen versucht. Zinners Pläne, Djemal Pascha zu erschießen und das Goldene Tor in Jerusalem zu sprengen, müssen allerdings scheitern. Doch Zinner ist auch deshalb eine tragische Figur, weil er sich über sein österreichisches Pflichtbewusstsein nicht hinwegzusetzen vermag und Dans Angebot, zusammen zu desertieren und in Asien zu bleiben, ausschlägt. Er wird abkommandiert und „ins Ungewisse geschickt“, was „Kriegsgericht oder Front heißt“.

Ein weiteres Telegramm entscheidet über Dans Schicksal und setzt dem Abenteuer Jerusalem ein Ende: „leutnant dan hat sofort cospoli abzugehen stop vollzug melden.“ Schade nur, dass er beim gerade beginnenden, „großen Ausverkauf der Türkei“ nicht dabei sein kann, wie Leutnant Feleky, eine der vielen Figuren in diesem Roman, süffisant bemerkt! Denn: „Was bis jetzt war, ist nichts gegen das, was nun kommt. Jetzt ist die ganze Türkei prompt greifbar“.

Vieles in diesem Buch ist autobiografisch: Eugen Hoeflich selbst war als Offizier und Kommandant einer österreichischen Kompanie 1917 in Jerusalem stationiert. 1940 kündigte er die Absicht an, den Roman zu schreiben. 1946 wurde der auf Deutsch geschriebene Text ins Hebräische übersetzt und in Tel Aviv veröffentlicht. Nun erscheint er in der neuen Reihe des Arco Verlags „Europa in Israel“ zum ersten Mal im deutschen Original. Es ist ein in jeder Beziehung ungewöhnliches, überraschendes, kurioses, glänzend geschriebenes, geradezu sensationelles Buch über den Wahnsinn und die Verlogenheit des Kriegs. Ein Antikriegsroman par excellence, der Remarques Im Westen nichts Neues in nichts nachsteht. Ein Roman, der bei all seiner durchdringenden Humanität nüchtern-analytisch hinter die Kulissen blickt, zentrale Mechanismen des „Irrenhauses“ Krieg wortgewaltig entblößt und klare Antworten auf die Frage „Warum Krieg?“ gibt.

Mosche Ya’akov Ben-Gavriêl: Jerusalem wird verkauft oder Gold auf der Straße. Ein Tatsachenroman (Tagebuch 1917). Herausgegeben und mit einem Nachwort von Sebastian Schirrmeister. Arco Verlag, Wuppertal 2016, 256 S., 22,00 EUR, Bestellen?