Sweet Mud

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„Sweet Mud – im Himmel gefangen“ von Dror Shaul spielt in den 70er Jahren in einem Kibbuz, einer ländlichen Kollektivsiedlung in Israel mit gemeinsamem Eigentum und basisdemokratischen Strukturen…

Gaston Kirsche

Das Knacken eines Lollies beim Draufbeißen ist das erste Geräusch im Film. Der 12-jährige Dvir sitzt alleine im Heu und denkt nach. Es gibt für ihn nur zwei Möglichkeiten, und er muss handeln. Die Konsequenzen sind für ihn kaum zu überblicken. Ein Vorgriff auf den Schluß des Filmes. Dvir bekommt von seiner ersten Freundin einen ihrer letzten beiden Notlollies geschenkt, die ihr der Vater aus Frankreich geschickt hat, zum Lutschen, wenn sie mal nicht mehr weiter weiß. Und er muß eine folgenschwere Entscheidung fällen.

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Szenenwechsel. Es ist Nacht, ein Mann legt seine Zeitung zur Seite, nimmt sich seine Uzi und erklärt, draußen mal zu patroullieren. Ein schreiendes Baby ist zu hören, eine Frau macht sich an einem Kasten zu schaffen. Es gibt einen Lautsprecher und ein dutzend Schalter, sie probiert aus, aus welchem Raum das Babyschreien kommt. Dann nimmt sie ein bereitstehendes vorgewärmtes Milchtrinkfläschchen, im Bild ist der Kasten zu sehen, ihre tröstenden Worte sind zu hören. Ein Text wird eingeblendet: Wir sind in einem Kibbuz, wo die Kinder gemeinsam in einem Kinderhaus untergebracht sind und auch schlafen. Damit ihre Eltern nicht von der Arbeit abgehalten werden, heißt es im eingeblendeten Text, und damit ist das Thema des Filmes klar: Kindheit im Kibbuz ist etwas anderes als ein Aufwachsen in Familienstrukturen, und der Film stellt dies recht einseitig als Unterordnung unter das Dogma der Arbeitsproduktivität dar. Dabei ist „Sweet Mud“ ein bewegender Film. Nur, dass Kollektivität auschliesslich mit Kontrolle und Hierarchie gleichgesetzt wird. So kann es sein, aber eben nicht nur. Solidarität und Gleichberechtigung kommt nicht vor. Dvirs Mutter Miri lebt allein, ihr Mann ist tot, ein Unfall sagen alle. Erst spät wird Dvir erfahren, was mit seinem Vater passiert ist. Davor muß er erleben, wie demütig es für seine Mutter ist, auf dem Plenum beantragen zu müssen, dass ihr Freund, den sie in einer Kur kennengelernt hat, sie besuchen darf. Vier Wochen seien zu lang, wirft einer ein, schließlich würde er versorgt werden müssen, aber nicht mitarbeiten. Aber Miri sei doch psychisch angeschlagen und hätte soviel durchgemacht, wirft eine Andere ein. Dvir schaut durchs Fenster heimlich bei dieser Vollversammlung zu, er fühlt sich für seine Mutter verantwortlich.

Als Stephan, der Freund von Dvirs Mutter Miri im warmen Sommer 1974 zu Besuch kommt, lebt sie auf. Stephan hilft Dvir dabei, einen Drachen für den jährlichen Drachenflugwettbewerb zu bauen. Als Dvir sich darüber freut, den Wettbewerb gewonnen zu haben, taucht Avraham auf, brüllt ihn an und wirft den Jungen aggressiv nieder. Dvirs Hund war nicht angeleint, obwohl Avraham dies verlangt hatte, damit der nicht seine Hündin befruchtet. Das ist aber wohl passiert, und Avrahams Zorn wird erst durch Stephan gebremst, der ihm dabei den Arm bricht. Auf dem nächsten Plenum wird beschlossen, dass Stephan sofort abreisen muß, weil er gegen das Prinzip der Gewaltfreiheit innerhalb des Kibbuz verstossen hätte. Warum sich hier nicht Andere für Stephan einsetzen, die dabei waren, als er nur Dvir helfen wollte, bleibt im Film unklar, die soziale Kontrolle scheint sehr ausgeprägt zu sein. Stephan reist ab und der Kibbuz wirkt auf Miri erneut reglementierend, willkürlich, einengend. Avraham tötet den Hund von Dvir. Miri weiß sich außer sich vor Wut und Verzweifelung dagegen nicht anders zu helfen, als Avraham im Stall mit der Mistgabel zu bedrohen, um ein Schuldeingeständnis zu erreichen. Zwei andere Kibbuznik gehen dazwischen, Miri wird in die geschlossene Psychatrie weggefahren. Als Miri wiederkommt, ist sie lethargisch. Dvir fühlt sich für seine Mutter verantwortlich, ist überfordert und verzweifelt. In der Schule bereitet er sich auf die Bar Mizwa vor. Bar Mizwa bedeutet religionsmündig, aber in dem laizistisch orientierten Kibbuz geht es um anderes. Bei der Feier springen Jungen und Mädchen, wenn sie aufgerufen werden, aus fünf Meter Höhe auf ein Springtuch, stürmen im Laufschritt eine Zweimeterwand hoch, balancieren über einen Baumstamm. Alles abends, in feierlich von Fackeln und Feuer erleuchteter Umgebung auf einer Wiese. Die Eltern halten jeweils eine Rede, darüber, wie arbeitssam und tüchtig ihre Kinder nun werden, welche Berufe sie ergreifen können. Miri verliert dabei die Fassung, ruft sie sei traurig, als Mutter versagt zu haben und er, Dvir, solle aus dem Kibbuz fliehen. Andere Kibbuznik halten sie fest, wollen sie zum Schweigen bringen. In dieser Schlüsselsequenz des Filmes wird deutlich, wie sehr die militärische Konfrontation im Nahen Osten schon 1974 bis in den Alltag dominierte – du kannst Offizier werden, erklärt ein Vater in der Rede an seinen Sohn. Deutlich wird auch, wie sehr das Ideal von körperlicher Tüchtigkeit und Arbeitsfetisch, das aus der klasssischen ArbeiterInnenbewegung in den Kibbuz übernommen wurde, die dortigen Ideale prägt. Psychische Labilität ist da ebensowenig gerne gesehen wie auf dem freien Arbeitsmarkt.

Für die Gründergenerationen der Kibbuzim war der Arbeitsfetisch zentraler Bestandteil ihrer Ideologie: Sich pflügend das Land zu erarbeiten, Stadtbewohner und Intellektuelle in kräftige, sonnengebräunte Bauern und Bäuerinnen zu verwandeln. Über die Jahre haben die Kibbuz-Bauern so unfruchtbares Land zum Blühen gebracht – zum Teil mit massiver Bewässerung, die einen Raubbau an den Ressourcen bedeutet. Arbeit war und ist dabei ein Wert für sich und in sich selbst. Der Schriftsteller Amos Oz beschreibt in einem seiner Bücher sehr anschaulich, wie er sich bemüht, bei der körperlichen Arbeit im Kibbuz mitzuhalten, Muskeln zu bekommen, ein kräftiger Landarbeiter zu werden. Die Kritik am Arbeitsfetisch ist ein interessanter Erzählstrang in „Sweet Mud“.

Immer wieder gibt es in „Sweet Mud“ auch Sequenzen, in denen sich in fester Partnerschaft lebende Kibbuznik heimlich mit anderen Partnern zum Sex treffen. Offensichtlich soll hier eine Doppelmoral veranschaulicht werden, die an ein herkömmliches, patriarchal geprägtes dörfliches Sozialsystem erinnert, aber fortschrittlich, anders sein will. Eine Schlüsselszene hierbei ist, als ein Lehrer sich auf den Feldern heimlich mit einer Erzieherin trifft und sie Sex an einem Baum haben, während der Lehrer die Kindergruppe von Dvir bei der Erfüllung einer Aufgabe im Rahmen der Vorbereitung zur Bar Mizwa beaufsichtigt. Die Erzieherin bittet den Lehrer, sie zur Lehrerin zu befördern. Gleichzeitig wirft ihr der Lehrer im politisch-moralischen Jargon vor, sie sei „verantwortungslos“, weil sie kein Kondom mitgebracht hat. Dvir und ein anderer Junge nutzen die Gelegenheit und stellen die Lautsprecheranlage in dem vom Lehrer genutzten Transporter an. So ertönt die Internationale, was den heimlichen Sex stört. Diese Symbolik wirkt schief und unvermittelt, weil die politischen Ansprüche im Kibbuz nur angedeutet werden. In einigen Szenen wird ausgespielt, wie sie zum Aufbau moralischen Drucks genutzt werden, aber das politische Selbstverständnis selbst, die freiwillige Verpflichtung aller, die ins Kibbuz gehen, etwas anderes als das vom kapitalistischen Wert dominierte Leben zu suchen, bleibt unausgesprochen, diffus.

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Die in „Sweet Mud“ veranschaulichte Kritik an den sozialistisch orientierten, auf ein alternatives Wirtschaften ausgerichteten Kibbuzim ist dabei, anders als dies in Rezensionen oft unterstellt wird, keine Generalabrechnung mit der Kibbuz-Bewegung. Es ist die Aufarbeitung seiner Kindheit im Kibbuz durch den Regisseur Dror Shaul: „Als ein Junge, der in einem Kibbuz geboren wurde und aufgewachsen ist, stellt sich mein Film einem kollektiven Gedächtnis entgegen, dass der Kibbuz ein Lebensraum für pittoreske Landschaften und die magischen Düfte der Natur ist – mit meinen eigenen, privaten Erinnerungen, in denen Menschen einfach Menschen sind, unabhängig von der Ideologie, die sie sich zu tragen entscheiden, und die sich zuerst um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern und erst dann um die Bedürfnisse der Schwächeren. Diesen Film zu machen, war ein langer und manchmal ermüdender Prozess, der dem des Heranwachsens, des Erwachsenwerdens ähnelte. Mein Ziel war es, einen Film über die Sehnsucht nach Wärme und Gefühlen zu machen, die Sehnsucht nach der Illusion, dass wir nicht tatsächlich allein sind.“

Miri, die Mutter des Protagonisten, hat es schwer im Kibbuz und kommt gegen die MeinungsführerInnen nicht an, die recht autoritär bestimmen, was „wir“ in ihrem Kibbuz bedeutet und die Basisdemokratie dominieren. Aber unzweifelhaft ist, dass Miri mit ihrer schweren Depression außerhalb der Kibbuz-Gemeinschaft völlig auf sich allein gestellt wäre und sich ihre NachbarInnen in einem normalen Wohnhaus wohl nicht so um ihren 12-jährigen Sohn bemüht hätten – wie dies im Kinderhaus und in den Alltagsabläufen des Kibbuz mit gemeinsamen Mahlzeiten und Festen der Fall ist. Gleichwohl ist in „Sweet Mud“ zu sehen, wie Ansprüche und Umsetzung auseinanderklaffen.

Die Kibbuzim sind der Inbegriff der frühen Aufbaujahre in Israel, als viele sich für eine sozialistische Gesellschaftsordnung einsetzten. Kibuzzim basieren auf gemeinschaftlichem Besitz, gemeinschaftlicher Verantwortung und Arbeit. Der Alltag war ursprünglich bestimmt von bäuerlichem kollektiven Leben. Derzeit gibt es in Israel an die 270 Kibbuzim mit einer Größe von bis zu 1700 EinwohnerInnen, die aber aufgrund der gegenwärtig sehr marktwirtschaftlichen Orientierung Israels um ihr ökonomisches Überleben ringen. Die staatliche Unterstützung für die Kibbuzim wurde stark zurückgenommen. Zu Neugründungen kommt es nicht. Als Israel 1948 gegründet wurde, lebten acht Prozent der Israelis in einem Kibbuz, gegenwärtig sind es nur etwa drei Prozent. In „Sweet Mud“ wird ein schöner Gedanke von Karl Marx paraphrasiert: Jeder und jede sollte „nach seinen Möglichkeiten geben“ und „gemäß seinen Bedürfnissen erhalten“. Die KibbuzgründerInnen wollten sich aufgrund ihrer leidvollen Erfahrungen mit Kapitalismus und Antisemitismus einen jüdischen Arbeiterstaat auf eigenem Boden aufbauen. Sie kamen aus der zionistisch-sozialistischen Bewegung und setzten sich für eine klassenlose Gesellschaft ein, für Gleichheit und Gemeinschaft. Die ersten Kibbuzim gründeten sie bereits in den Jahrzehnten vor der Gründung Israels im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina. Nach der Befreiung von der deutschen nationalsozialistischen Terrorherrschaft konnten viele Überlebende der Shoah nur heimlich nach Palästina einwandern. Die Briten hatten ein Einreiseverbot über Palästina verhängt, weil sie die Einwanderung von KommunistInnen verhindern wollten: „Unter dem Vorwand, Flüchtlinge einzulassen, werden die Juden Palästina mit Kommunisten und sowjetischen Spionen überschwemmen, die gesamte britische Politik untergraben und die Region in einen Stützpunkt für die Russen verwandeln“, erklärte damals Hauptmann Roy Linklater von der Palästina-Abteilung des britischen Geheimdienstes in einem Bericht.

In den ersten Jahrzehnten spielte das Ideal der klassenlosen Gesellschaft im Lebensalltag der Kibbuzmitglieder eine große Rolle. Die Einzelnen besaßen kein Eigentum, sondern brachten ihre Arbeitsleistung für die Gemeinschaft ein. Statt Lohn stellte der Kibbuz Wohnung, Kleidung, Verpflegung, Bildung, Pflege und medizinische Versorgung zur Verfügung. Die Gleichberechtigung umfasste auch eine Rotation in allen wichtigen Ämtern und bei der Besetzung der Arbeitsplätze. Da ohne Befreiung aus der patriarchalen Geschlechterrolle Frauen nicht gleichberechtigt wären, wurden viele hauswirtschaftliche Aufgaben als Dienstleistungen vom Kibbuz angeboten. Es bestanden Wäschereien, Schneidereien, gemeinsame Küchen mit Speisesaal, der auch Zentrum des gemeinschaftlichen Lebens war. Die patriarchale Kleinfamilie sollte so aufgelöst werden, die Kindererziehung ebenfalls vergemeinschaftet werden. Die Kinder wurden in einigen Kibbuz bereits als Säuglinge in einem eigenen Kinderhaus in ihren jeweiligen Altersgruppen betreut. Weil der tägliche Kontakt zu den Eltern nur wenig Raum einnahm, waren die Kibbuz-Kinder stark auf ihre Altersgruppe fixiert. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelten sich die Kinderhäuser hin zu Kinderläden, und die Eltern lebten mit ihren Kindern in einer Wohnung, einem kleinen Haus.

Seit einigen Jahren gibt es in Israel eine selbstkritische Debatte über die Kindererziehung in dem Kibbuzim. Auslöser waren kritische Wortmeldungen von Erwachsenen, die als Kind im Kibbuz aufwuchsen. In einigen Büchern wird behauptet, die kollektive Kindererziehung im Kibbuz würde psychologische Schäden anrichten, während in anderen Publikationen die Ansicht vertreten wird, dass Kibbuzkinder besonders selbstständig und sozial sind. Im Presseheft zum Film wird die einseitige Sichtweise des Filmes auf die Erziehung im Kibbuz deutlich, wenn es heißt: „Mit Sweet Mud – Im Himmel gefangen gibt es den ersten abendfüllenden Spielfilm, der wagt, das auszusprechen, was Generationen unglücklicher Kinder verdrängt haben.“ Obwohl der Film 2006 beim Israeli Academy Award als bester Film ausgezeichnet wurde und 2007 auf der Berlinale den Gläsernen Bären und beim Sundance Festival den Jury Price gewann, wurde er im Feuilleton hierzulande kaum beachtet. Jetzt ist die Auflage der deutschspachigen DVD  fast ausverkauft, aber beim Label absolut Medien ist „Sweet Mud“ noch erhältlich.

Sweet Mud – Im Himmel gefangen, Israel 2006, 98 Minuten. Regie und Buch Dror Shaul; Kamera Sebastian Edschmid; Schnitt Isaac Sehayek, Musik Tsoof Philosof, Adi Rennert; Mit Tomer Steinhof, Ronit Yudkevitz, Henri Garcin, Shai Avivi, Gal Zaid, Sharon Zuckerman, Pini Tavger, Daniel Kitsis, Joseph Korman, Idit Tzur, Rivka Neuman, Hila Ofer, Omer Berger, Ami Weil, Natan Sgan-Cohen. Die DVD enthält die deutsche und die hebräische Sprachfassung. Mit englischen Untertiteln. Freigegeben ab 12 Jahren, erschienen bei absolut Medien GmbH. Für 15 Euro dort erhältlich.

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