Der Historikerin Victoria Kumar hat auf lediglich 216 Seiten die Geschichte der jüdischen Emigration und der nationalsozialistischen Vertreibung aus Österreich ins Heilige Land 1920 bis 1945 zusammengefasst…
Rezension von Karl Pfeifer
Ihre Einleitung mit einem Zitat von Amos Oz ist problematisch, denn dieser impliziert in seinem Roman, die Haltung des Jischuv wäre hauptsächlich von Mitleid für die Überlebenden und von Überheblichkeit bestimmt gewesen „ist es denn unsere Schuld, dass sie dort bleiben und auf Hitler warten mussten, statt noch rechtzeitig herzukommen.“
Pauschal behauptet sie „Die Massen an europäischen Jüdinnen und Juden, die speziell nach 1938 als Flüchtlinge ins Land gekommen waren, wurden von den früheren, sich selbst zur Pioniergeneration zählenden Einwanderergruppen keinesfalls mit offenen Armen empfangen.“ Und damit ist auch schon die Tendenz des Buches sichtbar.
Mein Bruder 1913 in Wiener Neustadt geboren, in Baden bei Wien aufgewachsen, ging weil er nicht in den Alpenverein aufgenommen wurde zur rechten zionistischen Jugendbewegung Betar. 1935 „vergaß“ er von einem Landurlaub auf das Schulschiff zurückzukehren und konnte später durch Dienst in der Mandatspolizei seinen Aufenthalt legalisieren. Durch ihn wurde ich mit mehreren österreichischen Juden bekannt, sowohl mit solchen die zionistisch motiviert vor dem Anschluss ins Land kamen als auch mit jenen, die aus Österreich vertrieben wurden. Ich kann mich nicht erinnern, je solche abwertende Sprüche über die Überlebenden von diesen gehört zu haben. Ich selbst wurde in einem Kibbuz von 1943 bis 1946 erzogen und auch dort wurde nie so von den Überlebenden gesprochen. Die Mehrheit der Juden im Land war arm und trotzdem gelang es den allermeisten Einwanderern Fuß zu fassen. Sicher gab es Menschen, die so dachten, wie Oz es beschreibt. Doch waren sie in der Mehrheit?
Wer so wie ich 1951 nach Österreich zurückgekehrt ist, konnte von einigen anderen Rückkehrern hören, wie schrecklich es ihnen in der „Emigration in Palästina“ gegangen ist. Und tatsächlich konnte z.B. ein älterer Rechtsanwalt, der in Tel Aviv am Bau arbeiten musste, den Aufenthalt im Heiligen Land als eine Hölle empfunden haben. Chaim Weizmann, der Vorsitzende der zionistischen Bewegung und erste Präsident Israels, sagte damals, die Welt bestehe aus zweierlei Nationen, denjenigen, die keine Juden in ihren Ländern haben wollen, und den anderen, die nicht bereit sind, Juden aufzunehmen. Die einzige Gesellschaft, die nicht nur bereit war diese Juden – „unsere Brüder, unsere Schwestern“ – aufzunehmen, sondern diese auch voll zu integrieren war der Jischuv. Doch in der Stunde der größten Not, im Mai 1939 hatten die Briten mit ihrem „Weißbuch“ die legale Einwanderungsmöglichkeit eingeschränkt.
Kumar resümiert: „Für mehr als 15.000 österreichischen Jüdinnen und Juden wurde Palästina nach dem „Anschluss“ ein weitgehend beliebiger, aber rettender Zufluchtsort, der nach wenigen Monaten der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich als einzige Fluchtmöglichkeit geblieben war.“
Das wichtige zweibändige Werk von Tuvia Friling über die zionistischen Rettungsversuche während des Holocausts (Arrows in the Dark, David Ben-Gurion, the Yishuv Leadership and Rescue Attempts during the Holocaust, 2005) hat Kumar leider nicht gelesen, obwohl dieses Buch 31 Mal Österreich, 13 Mal Wien und 4 Mal den Anschluss erwähnt.
Viktoria Kumar schreibt über Theodor Herzl: „Eine Korrespondentenstelle der angesehenen Wiener Tageszeitung „Neue Freie Presse“ führte ihn 1891 nach Paris, wo er unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre“ und den damit einhergehenden antisemitischen Kampagnen Überzeugungen entfaltete, die aus ihm einen Zionisten machten.“
Tatsächlich fand Herzl erst in Paris den Abstand zu den damals in Deutschland und Österreich grassierenden Antisemitismus mit dem er bereits viel früher konfrontiert worden war.
Er bemerkt auf den ersten Seiten seines Tagebuches, [1922, erste Auflage]: „Wann ich eigentlich anfing, mich mit der Judenfrage zu beschäftigen? Wahrscheinlich, seit sie aufkam. Sicher, seit ich Dührings Buch gelesen… [Eugen Dühring, die Judenfrage, 1881] „In Österreich oder Deutschland muß ich immer befürchten, daß mir hepp-hepp nachgerufen wird. Hier [Paris] gehe ich doch „unerkannt“ durch die Menge. In diesem Unerkannt! Liegt ein furchtbarer Vorwurf gegen die Antisemiten. Das Hepp-hepp hörte ich mit meinen Ohren bisher nur zweimal. Das erstemal in Mainz auf der Durchreise 1888. Ich kam am Abend in ein billiges Konzertlokal, trank dort mein Bier, und als ich aufstand und durch den Lärm und Qualm zur Türe ging, rief mir ein Bursche „Hepp-hepp“ nach. Um ihn herum entstand ein rohes Gewieher. Das zweitemal wurde mir in Baden bei Wien „Saujud“ nachgerufen, als ich im Wagen aus der Hinterbrühl von [Ludwig] Speidel kam.“
Ein weiteres Thema zur Geschichte Österreichs wäre ein umfassendes Werk über „Willkommenskultur“ für rückkehrende jüdische Österreicher nach der Befreiung des Landes durch die Alliierten.
Victoria Kumar: Land der Verheißung – Ort der Zuflucht. Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945, StudienVerlag 2016, Bestellen?