Shoah und Pin-Ups – Der NO!artist Boris Lurie

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Vor 90 Jahren wurde der NO!artist Boris Lurie geboren. In diesem Jahr erinnerte endlich eine Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln an ihn. Wir haben uns noch einmal das 2006 entstandene einzige Filmporträt über den Künstler angesehen…

Von Judith Kessler

„Ich bin hier sitzen geblieben wegen der Kunst“, sagt Boris Lurie, 1924 in Leningrad geboren und in Riga aufgewachsen, bis die Deutschen seine Jugend beendeten. Seit über 60 Jahren, länger als an jedem anderen Ort, lebt Lurie in New York. Aber noch immer ist er „Borja“, liebt litauisches Brot und „Homemade bacon, polish style“ aus russischen Deli-Läden. Mit seiner Baseballmütze, der Sonnenbrille und den Einkaufstüten, die er hält wie John Wayne seine Colts, sieht er aus wie jeder andere Opi auf Manhattans oder Tel Avivs Straßen, nicht wie einer, der die amerikanische Öffentlichkeit Jahrzehnte mit drastischen NO!art-Aktionen gegen Atomwaffentests, Rassismus oder Frauenunterdrückung geschreckt hat.

Der Film von Reinhild Dettmer-Finke und Matthias Reichelt über den Künstler Boris Lurie verzichtet auf jede Kommentierung. Aber ohnehin ist Lurie sich selbst der beste Kommentar. „NO!art heißt… zu versuchen, allein zu denken“, sagt er, der einer der Gründer von NO!art ist, die Ende der 50er Jahre als Gegenbewegung zum etablierten Kunstmarkt und zur Pop-Art entstand, bei der immer „alles wunderbar“ war. Sie hingegen wollten „subjektiv und politisch“ sein. Dem sauber Gefälligen setzte NO!art denTabubruch entgegen, die Provokation. Damals begann Lurie mit Collagen wie „Massaker von My Lai“ und „Lumumba ist tot“, das Totalitarismus-Symbole mit Werbefotos verband, ein Hakenkreuz mit Stripperinnen,oder eben die Shoah mit Pin-Ups…

Das spielfilmlange Porträt nähert sich dem Gegenstand seines Titels langsam, fast zögerlich an. Doch spätestens nach der Hälfte des Films ist klar, dass „Shoah und Pin-Ups“ genau das meint, was es sagt. Die Kamera fährt wie beiläufig über Schwarz-Weiß-Fotos und verblasstes Technicolor. Für heutige Sehgewohnheiten wirken die Bildchen, die hier wie in den Spindtüren von Bauarbeitern hängen, fast harmlos und antiquiert: üppige Busen, Strapse, platinblonde Turmfrisuren – harmlos, bis sie ein Bild mit ausgemergelten Männern in Häftlingskleidung einrahmen … Buchenwald.

Die Allianz der quicklebendigen nackten Mädchen mit dem Grauen macht die hundertfach gesehenen (oder übersehenen Bilder auf neue Weise schockierend. Lurie geht weiter – die Stripperin, die dem Betrachter in „Railroad Collage“ ihren nackten Hintern entgegenstreckt, umrahmt nichts, sie steht mitten drin, hineinmontiert in einen Leichenberg auf einem offenen Eisenbahnwaggon. Darf man so etwas? 1963 war das Bild ein Skandal, und noch immer bleibt einem bei dem Anblick die Luft weg. Aber ging es Lurie um den Skandal? Dass sie um des PR-Effekts willen „das Grauen trivialisieren“ und die Opfer lächerlich machen würden – das wird auch heute gern geschrieben, wenn Künstler es wagen, mit ihrer Kunst zu behaupten, dass nicht die Nackten obszön sind, sondern die Gaskammern und die Atombomben oder dass „Auschwitz menschlich ist“, von Menschen gemacht und prinzipiell wiederholbar. Darf man den Finger so tief in die Wunde bohren? Darf man die Lagertoten mit den Lustnackten zusammenbringen? Darf man dem Millionentod den eigenen Überlebenswillen entgegenstellen? Verzeihen wir es Lurie, weil er Jude ist? Oder weil er im KZ war? Adelt ihn das? Dürfte ein Nichtjude es also nicht? Wovon hängt das ab? Von Alter, Religion, Nationalität? Immer dieselben Fragen – der Film beantwortet sie auch nicht. Aber sie sind wieder einmal gestellt.

„Ich hätte gern angenehme Bilder gemacht, aber es hat mich immer etwas gehindert“, sagt Boris Lurie. Er hat nur kurz „illustrative Erinnerungen“ gemalt – Bilder mit Stacheldraht, Männer an Galgen. Aber das war „nicht die richtige Kunst“, und es war nicht genug, um auszudrücken, was doch niemand verstehen konnte.

Irgendwann war die erste Skizze einer zerstückelten Frau da. Erst später sei ihm klar geworden, dass das alles mit der Vergangenheit zu tun hatte… und mit Horrorfotos in Hochglanzmagazinen. Im Mai 1945 hatte Amerika zum ersten Mal Fotos aus den KZ zu sehen bekommen – zwischen Reklameseiten und Partyberichten. Vorher, als das Morden noch im Gange war, hatte sich die Presse geweigert, zu berichten.

Was geht da in einem wie Lurie vor, der die Familie verloren hat, der mit seinem Vater bereits Riga, Lenta und Stutthof überlebt hatte, bevor sich beide für ein Außenkommando von Buchenwald meldeten, weil Buchenwald so „einen guten Ruf hatte“. Vier Jahre Hölle. Dann die Befreiung. Dann das Verdrängen.

Während Vater Lurie Geschäfte mit Thyssen macht, fängt Boris als Dolmetsch bei den Amerikanern an. „Ich war mit den Siegern… Ich war nicht der überlebende KZ-Häftling.“

Nur keine Schwächen zeigen. „Boris ist stark“, sagt da jemand und „Boris ist kein Opfer“. In der Tat ist Boris Lurie einer, dem es unter widrigsten Umständen immer wieder gelang, zu überleben und Kunst zu schaffen. Und doch läuft noch eine anderer „Film“ in diesem Film mit – der sich spiegelt in seiner voll gestopften chaotischen Behausung, im zwanghaften Sammeln und Bewahren, in übervollen Kühlschränken.

Dieser Boris isst und raucht, und isst und raucht und füllt immer wieder die Vorräte auf. „Die Hauptsache ist der Magen“, sagt er, als jemand fragt, ob die Leute im Lager an Sex gedacht hätten – „so einfach ist das“.

So einfach ist das. Das, was hinter Statement und Fassade ist, erschließt sich aus seinen eingeblendeten Gedichten und dem, was die Kamera gesehen hat: Boris’ Leben und das der Welt hängt in Schichten an den Wänden: Fotos, Briefe, Zeitungsausrisse, gesuchtes, gefundenes. „Du denkst, mein Freund, was war, das ist nicht länger…“. Nichts ist vorbei.

Bilder, die ihm wichtig sind, hat Lurie in durchsichtige Folie verpackt: Fotos vom Vater, den Geschwistern, der hübschen Schulfreundin, Borja als Baby, als Junge („ich war ungezogen, ein paar mal bin ich von der Schule geflogen“). Ein Stadtplan von Riga und der Weg nach Rumbula, wo seine Mutter, die Großmutter und die kleine Schwester ermordet wurden. Darüber redet er nicht, er nennt Eckdaten. Der Tod steckt in den Pausen. Es ist Beatrice, die französische Freundin, die tausende Kilometer entfernt von seinen nächtlichen Alpträumen spricht.

Die Ermordung der Frauen seiner Familie und seine Jugend, die keine war – das sei sein Problem, meint ein Freund, deswegen sei er nicht verheiratet. Wie das mit Boris und den Frauen tatsächlich war, lässt sich nur ahnen – ein paar vergilbte Fotos, der junge Boris, mit hoher Stirn und Schnauzbart… Nur seine Geliebte von einst, Beatrice, die einem Picasso-Gemälde entstiegen scheint, lächelt: „Boris – das ist die Liebe meiner Jugend“. In ihrer eleganten Pariser Wohnung erzählt sie über ihn, den „Großzügigen“, den „guten Menschen“, den „schönen Mann“. Fotos zeigen die beiden am Strand und sie, die erfolgreiche Werbeagentin, auf ihrer Lambretta und High Heels in New York.

„Das hat mich sehr bedrückt“, dass sie Geld verdient hat und ich nicht“, sagt indes Boris in seiner Wohnhöhle. Aber wer kaufe schon Bilder, „die auf Menschen erschütternd wirken“. Ein Interviewpartner findet die einfache Formel: „Er hat sich mit schwierigen Themen befasst“ und „Amerika mag keine schwierigen Sachen“. Europa auch nicht.

Boris Lurie ist ein Großer, und ist so doch ein Unbekannter geblieben. Einer, der beständig auf dem Grat wandert, bei dem alles Intellekt und „Bauch“ zugleich und in Schichten angelegt ist: Da sind die Pin-Ups – von Girlie bis Hardcore – die ihn als Mann magisch anziehen, die zwischen all der Ohnmacht Leben bedeuten, und die ihn abstoßen, weil sie Körper zu Waren machen. Da hängt das Foto eines SS-Mannes, der Spaß daran hatte, nackte Frauen zu knipsen. „Dazu braucht man keinen Boris Lurie“, sagt Boris Lurie – es sei derselbe perverse Genuss, den man von den Bildern der Folterer aus irakischeGefängnissen kenne. Es hört nicht auf.

Und es ist alles doppelbödig – wie die unfreiwillige Symbiose auf Leben und Tod mit dem Vater, dem Geschäftsmann, der von ihm, dem Familienunfähigen sagt: „Boris is a meschuggener“, und von dem er sich erst lösen kann, als der stirbt. Nun macht Boris, der Kommunist, in Immobilien und lebt davon, dass er an der Börse anlegt – „mit gutem Erfolg, kann ich sagen, mit sehr gutem Erfolg“. Das habe er im KZ gelernt, das „Jagen und Riskieren“. Trotzdem kommt der Putz im Studio von der Decke, und weigert er sich, seine Arbeiten in klimatisierten Räumen zu lagern, „weil es viel kostet“. Da ist er wieder, der andere „Film“…

Richtig lachen, beinahe glücklich, sieht man Lurie nur zweimal: als er ein zurückgekauftes Bild auspackt, das er gleich nach der Ankunft in New York gemalt und danach nie wieder gesehen hat. Und als der 82-jährige sagt: „Ich habe unlängst erfahren, dass die Mädchen mich den schönen Borja nannten“. Der „schöne Borja“ ist da schon sehr schwach, sogar das Bäuchlein ist weg. Seit Beginn der Dreharbeiten sind acht Monate vergangen. Inzwischen hat er eine neue Herzklappe. Seine Wohnung wurde renoviert und er bewegt sich zwischen den nun kahlen Wänden wie ein Fremder. Nur sein Kühlschrank, der scheint noch voller.

So ist „Shoa und Pin-Ups“ nicht nur ein Film über einen konsequenten Künstler, dessen Werk Würdigung verdient, sondern auch ein Film über das, was nie vergeht, bis zum Ende, über die Bewältigungsstrategien eines Überlebenden, der hortet und festhält, der lautlos schreit, weil nur so die entsetzliche Einsamkeit zu ertragen ist. Am Ende trägt Boris wieder seinen Glücksbringer, die Goldmünze, die er all die Lagerjahre im Mund versteckt hielt. Gebe NO!, dass sie ihm noch einmal Glück bringt.

Boris Lurie ist anderthalb Jahre, am 8.Januar 2008, nach den Dreharbeiten in New York gestorben.

http://www.borislurie-derfilm.de/