Das Vermächtnis von Shulamit Aloni, unserer großen Lehrmeisterin

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Shula führte uns Bürger- und Menschenrechte, die Ungleichbehandlung von Frauen, die Misere der Homosexuellen und die Finsternis der Besatzung vor Augen. Ihr Vermächtnis ist groß, doch sie hat nicht genug Erben…

Von Yossi Sarid, Haaretz, 24.01.2014
Übersetzung von Daniela Marcus

In meinem öffentlichen Leben hatte ich keinen Lehrmeister, außer Shulamit Aloni. Sie war meine einzige Lehrmeisterin, unsere große Lehrmeisterin. Und nichts bereitet mir mehr Kummer als die Tatsache, dass mein Name mit der Geschichte ihres Rückzugs aus der Politik verbunden ist. Doch ich werde diese Geschichte heute nicht richtigstellen. Vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt, vielleicht auch nicht.

Heute hörte ich einen Radiomoderator über „die Frau, die die Leute gerne hassten“ reden. Es stimmt, viele Leute hassten sie und viele liebten sie und niemand blieb ihr gegenüber gleichgültig. Was kann es schlimmeres und kränkenderes für jemanden –insbesondere für eine politische Persönlichkeit− geben als Gleichgültigkeit? „Oh, nur noch eine von dieser Sorte – wie langweilig ist das, wirklich, ein einziges großes Gähnen.“ Doch andererseits provozierte Shula immer. Sie reizte und sie forderte heraus.

Wenn jemand gestorben ist, fragt jeder nach dem Vermächtnis: Welche Manifestation oder welche Botschaft lässt der Verstorbene zurück? Und dann versucht jeder sofort, dieses Vermächtnis an sich zu reißen, als ob es eine Decke wäre, die zu klein ist, um alle zuzudecken.

Doch nicht im Fall von Shulas Tod. Obwohl wir uns von ihr trennen, können wir uns nicht von dem trennen, was sie uns allen hinterlassen hat, von diesen Konzepten und Pflichten, die heute noch genauso relevant sind wie sie es schon immer waren. Wer kann dieses Vermächtnis für sich allein beanspruchen? Wer würde versuchen, es an sich zu reißen? Wer würde es wagen?

Shula führte uns zum ersten Mal die Bürgerrechte vor Augen, und es ist ihr Credo, das wir den nachfolgenden Generationen übergeben. Nicht nur der Staat hat Rechte, wie uns gelehrt wurde. Und der Staat ist keine Gottheit, die Opfer und Verehrung fordert. Ich bezweifle ernsthaft, dass das jetzige Kultusministerium zarten Pflänzchen ermöglichen würde, durch seine Staatsbürgerkundebücher, die ihren Wert nicht verloren haben, verdorben zu werden.

Shula führte uns auch die Menschenrechte vor Augen. Es gibt diejenigen, die unter uns leben und keine Staatsbürger aber dennoch Menschen sind, mit dem vollen Anspruch auf unveräußerliche Rechte. In einer Zeit, in der Asylsuchende rücksichtslos abgeschoben werden, würde Shula mit Sicherheit diejenigen, die die Asylsuchenden abschieben, fragen: Schämt ihr euch nicht?

Und Shula führte uns die Ungleichbehandlung von Frauen vor Augen. Wer außer ihr hat dies noch als Problem betrachtet? Golda Meir sicherlich nicht. Sie hatte das höchste Amt in Israel inne und war damit zufrieden. Doch Shulamit Aloni wusste nur zu genau, dass es andere Frauen neben ihr gibt, und dass diese noch immer ungeheuerliche Entbehrungen und Diskriminierungen erleiden müssen.

Shula machte uns bewusst, dass homosexuelle Männer und Frauen und Transsexuelle genauso Menschen sind wie andere auch. Bereits vor 25 Jahren kämpfte sie dafür, diese Menschen aus ihrer Kammer der Scham, der Angst und der Diskriminierung herauszuholen.

Shula brachte uns dazu, der inhärenten Spannung zwischen Religion und Staat, zwischen Politik und Glaube entgegenzutreten. Wer sah sie nicht missbilligend an oder rang seufzend die Hände, wenn er ihre Forderung hörte, diese zu trennen? Ja, um das Ansehen des Staates und die Ehre der Religion zu schützen, ist es notwendig, das Religiöse herauszunehmen und die Kräfte zu entfernen, die das Land mit Ultranationalismus infizieren und die Religion mit Fanatismus vergiften. Lässt man die beiden beisammen, führt dies in die Katastrophe.

Sie war eine der ersten, die uns die Besatzung vor Augen führte. Diese unbeschreibliche Region jenseits der Hügel der Finsternis – nur wenige machten sich die Mühe, sich dafür zu interessieren. Der Tag wird kommen, an dem der Status der besetzten Gebiete und die besetzenden Siedler den Staat Israel aufzehren werden. Dann wird der Staat die Form der Demokratie wegwerfen und die Form der Apartheid annehmen.

Wer, wenn nicht Shula, konnte im Alleingang eine Bewegung schaffen, die auch Jahrzehnte später einen effektiven Einfluss auf die Lebensqualität in Israel haben würde? Man kann sich unsere politische Landschaft ohne andere, oberflächliche Parteien vorstellen, doch nicht ohne Meretz, mit all ihren Höhen und Tiefen. Shula hat ihre Überzeugungen durch ihren Geist in jeden jungfräulichen Boden gepflanzt und ließ sie nicht vom Wind verwehen.

Doch vor allen Dingen gilt: „Du hast nichts zu befürchten.“ Und in der Tat fürchtete sie nichts. Was sie zu sagen hatte, das sagte sie, selbst wenn man ihr nicht zuhören wollte. Man mochte schlecht bei ihr wegkommen, doch sie selbst gewann an Integrität und ihrer unnachahmlichen Art.

Wenn wir in den letzten Jahren aufgebracht oder ängstlich waren, redeten wir miteinander. Ich rief sie an oder sie rief mich an – niemals, um uns über persönliche Angelegenheiten auszulassen, sondern wir sprachen einfach miteinander und fühlten uns dann besser. Sie drang immer zum Handeln. Wir müssen etwas tun, wir müssen protestieren, uns widersetzen, wir müssen wenigstens unsere Stimme hörbar machen. Wenn nicht wir, wer dann? Und wenn nicht jetzt, wann dann? Viele meiner Kolumnen in Haaretz wurden infolge ihres Drängens und aufgrund ihrer Inspiration geschrieben.

Shulamit Aloni hat ein Vermächtnis hinterlassen. Das ist sicher. Nicht sicher ist, ob sie auch genügend Erben hinterlassen hat. Und ich werde niemals die großen Schuhe vergessen, die ich anzuziehen hatte

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