Um unserer selbst willen: Kränkungen und Verletzungen überwinden

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Meir  Shalev ist ein israelischer Schriftsteller, bekannt durch sein erstes Buch „Russischer Roman“, zuletzt auch durch sein semi-autobiographisches Buch „Meine russiche Grossmutter und ihr amerikanischer Staubsauger“. Dieser Autor schrieb nicht nur bewegende Romane, sondern auch persönliche Analysen zu den Geschichten der Tora…

Rabbiner Dr. Tom Kučera

Das Buch heisst auf Deutsch „Aller Anfang“ und behandelt erste Ereignisse in dem Buch der Bücher, z.B. der erste Traum, der erste Hass, das erste Lachen. Es beginnt jedoch mit der ersten Liebe. Die Liebe, Ahawah, ist ein ungewöhliches Wort, das besonders in Liedern und Filmen viel zu abgedroschen wurde. Und dann die Firma Ahawa, die aus dem Salz des Toten Meeres kosmetische Produkte herstellt.

Die Ahawa ist als Verb im ersten Abschnitt von Schma zu hören -we´ahawta, du sollst lieben, den Ewigen – oder auch du wirst ihn lieben, falls du es noch nicht tust oder denkst, persönliche Gründe dafür zu haben. Ich denke, dass das Judentum mit diesem Ansatz einen Unterschied zu anderen Religionen darstellt.  Ich bin immer abgeneigt zu behaupten, was Gott liebt, sei es auch die Aussage, Gott liebe Steaks. Im ersten Schma -Absatz steht nicht: Gott liebt dich und deswegen sollst du dein Leben ändern, sondern liebe Gott, den Ewigen, und dadurch wird etwas in deinem Leben verändert. Interessanterweise spricht der Dekalog weder von der Liebe Gottes noch von der Liebe zu Gott, sondern davon, dass man sich kein Abbild Gottes machen und seinen Name nicht missbrauchen darf. Der Dekalog findet sich erst im zweiten Buch Mosche. Wir sind heute aber im ersten Buch, bei der Erinnerung an die Schöpfung, die einer der Hauptgründe von Rosch haSchanah ist.

Wo finden wir in der Torah zum ersten Mal das Wort Ahawah, Liebe? Meir Shalev schreibt: „Es sind schon Generationen aufeinander gefolgt, wir waren fruchtbar und haben uns vermehrt, haben gezürnt und getötet, gesündigt und Strafe erhalten, haben eine Stadt, einen Turm und eine Arche gebaut, haben uns betrunken und haben geweint, haben und wurden vertrieben, haben gelacht und zum Lachen gebracht, haben geleugnet und uns gefürchtet, haben einen Weinberg und eine Tamariske gepflanzt – und immer noch keine Liebe gekannt. All diese Wortstämme sind bereits vorgekommen, und nur dieser eine, lieben, nicht. Und dann – eine Überraschung. Eine böse Überraschung: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Jizhak, gehe in das Land Morija und bring ihn dort …als Brandopfer dar.“

Es ist die Akeidat Jizchak, die altbekannte Rosch haSchana-Lesung. Wir hatten sie im letzten Schuljahr im Religionsunterricht mit den Kindern in der 8. Klasse besprochen, weil es ein Thema in unserem ausgezeichneten Lehrbuch ist, das von Rychlá geschrieben und vom Kultusministerium unterstützt wurde. Als Erklärung steht da, dass Awraham dadurch lernen sollte, dass Menschenopfer im Judentum nicht erlaubt sind. Die Kinder fanden die Antwort zwar richtig aber nicht zufriedenstellend. Wir müssen nach anderen Gründen suchen, um diese schwierige Geschichte zu verstehen. Vieleicht ist sie eine Kritik am blinden Gehorsam eines Gläubigen. Die talmudischen Rabbiner wollten in einigen Fällen nicht einmal der Tora gegenüber gehorsam sein, deswegen haben sie u.a. die Steinigung praktisch abgeschafft.

Leider betrachten viele Juden der Gegenwart ihren Gehorsam dem Gesetz gegenüber so ausschlaggebend, dass sie bereit sind, u.a. Frauen in Bussen zusammenzuschlagen oder andere strafbare Handlungen zu begehen, weil sie davon überzeugt sind, nach dem Gesetz zu handeln. Dabei möchte ich die Initiatiave Women at the Wall erwähnen. Das sind Frauen unter der Leitung von Anat Hoffman, die dafür kämpfen, gleichberechtigt mit Männern an der Kothel zu beten. Was hindert sie daran? Ich vermute der blinde Gehorsam, dessen Kritik wir in der heutigen Geschichte von Akejdat Jizchak erkennen können.

Auf alle Fälle kommt hier zum ersten Mal in der Torah das Wort Ahawah – Liebe vor, in einem so schwierigen Kontext, dass wir das Wort gar nicht richtig wahrnehmen. Meir Shalev beobachtet: „ausser der Tatsache, dass es sich um die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn handelt, hat sie auch etwas Erstaunliches an sich: Nicht der Tora-Autor und nicht Awraham erwähnen sie. Weder sagt Awraham zu Jizchak, dass er ihn liebe, noch erzählt der Schriftsteller dem Leser, dass Awraham seinen Sohn liebt, sondern Gott persönlich spricht davon zu Awraham, als erläutere er nicht nur uns, sondern auch dem ersten Liebenden selbst.“ Meir Shalev spricht hier eine klare, obwohl unangenehme Wahrheit aus: viele unserer Gedankenprozesse und Gefühlsbewegungen  laufen automatisch (implizit) ab, sodass wir sie nicht benennen können oder wollen. Auf der persönlichen Ebene, auch im Familienleben, werden oft direkte Benennungen vermieden.
Zahlreiche jüdische Schrifsteller greifen sehr plastisch diesen Mangel auf, so dass wir während der Lektüre fast leiden, wenn die Protagonisten nicht das nötige Wort aussprechen, die nötige Geste machen oder den dringenden Schritt wagen. Ich denke zum Beispiel an das Märchen „Plötzlich tief im Wald“ von Amos Oz: Die Bewohner eines Dorfes leben schon seit zwei Generationen ohne Tiere, die aufeinmal verschwunden sind. Die kleinen Kinder dort hatten niemals Tiere gesehen. Es gibt einen Grund dafür, doch keiner möchte darüber sprechen, jeder tut so, als ob er sich nicht erinnere. Die Erwachsenen hüllen sich ins Schweigen, bis zwei Kinder sich entschließen, zu ergründen, was damals geschehen war.  Das ist der Inhalt des Märchens. Im wirklichen Leben, wenn es darauf ankommt, verhalten wir uns leider genauso wie die Menschen in den Geschichten. Deshalb sollten wir uns immer wieder mit Belletrisitk befassen, die unsere Sozialkompetenz stärken kann und uns Einblicke in das menschliche Wesen gewährt. Wer sich in die Vorstellungswelten der Fiktion begibt, vermag sich leichter in  die Sichtweise anderer hineinzuversetzten und  trainiert damit sein Emphatievermögen. Das Gehirn reagiert auf Erzählungen so, als erlebten wir die beschriebenen Handlungen selbst. Spannende Bücher trainieren mentale Prozesse, die wir für das soziale Miteinander im Alltag benötigen.

Auch aus diesem Grund feiern wir Rosch haSchanah, das uns zu diesem Ziel für die kommende Zeit verhelfen soll. Auf der kollektiven Ebene, besonders im Gemeindeleben, sollen wir die Benennung von Gefühlen auch zulassen. Welche Zuneigung empfinde ich für meine Gemeinde? Warum, oder  warum nicht? Eine Gemeinde ist wie ein Organismus, der mehr oder weniger gut funktioniert. Wir kennen die Grenzen unseres eigenen Körpers, wenn wir krank oder atemlos werden oder dies und das nicht mehr schaffen. Der Organismus der Gemeinde kann genauso versagen, sogar verletzen. Ja, in der Gemeinde kann man sich sogar die Finger verbrennen. Wichtig ist dabei, wie ich damit umgehe. Neige ich dazu, mich zurückzuziehen, oder stelle ich mich den Herausforderungen, weil ich erkenne, dass Gegensätze überall existieren. Sie finden sich in der Gesellschaft, in der Gemeinde und auch in der Natur. Als ich im Sommer einen  botanischen Garten besucht hatte, ist mir ein wunderbarer Baum aufgefallen und hat mich mit seiner Schönheit beeindruckt – ginkgo biloba. Seine Blätter werden wegen der Flavone und Terpene hirnstimulierend angesehen, doch gleichzeitig enthalten sie die Gingkosäure, die krebserregend ist und vor dem Gebrauch der Ginkgoblätter reduziert werden muss. Diese Gegensätze sind Teil einer vernünftigen  Weltordnung.  Warum sollte es in einer Gemeinde anders sein?

Verletzungen sind eine grosse Herausforderug für uns alle, ich denke sogar, eine der größten, die wir zu überwinden haben. Amos Oz schreibt in dem erwähnten Märchen: „Und außerdem erschrecken wir alle manchmal, geraten sogar in Panik, und manchmal sind wir alle müde oder hungrig, und jeder von uns hat Dinge, die ihn anziehen, und andere, die ihn abstoßen oder Widerwillen in ihm wachrufen. Ausserdem sind wir alle, ohne Ausnahme, sehr verletzlich.“ Die heutige Geschichte von Awraham und Akejdat Jizchak zeigt uns viele Verletzungen. Letzendlich wurden wie in einem Roman Tolstois  alle verletzt. Gott, weil ihn Awraham nicht verstanden hat, Awraham, weil ihm Gott so etwas Unmögliches sagen konnte, Sara, weil ihr Mann ihr gar nicht vertraute und sich ihr nicht anvertraute, und besonders Jizchak, der nicht begreifen konnte, wieso ihn sein liebender Vater verletzen wollte.

Drei Tage waren Awraham und Jizchak unterwegs. Wajelechu schnejhem jachdaw. Beide sind zusammen gegangen. Und nach der Opferung heisst es: Darauf kehrte Awraham zu seinen Dienern zurück. Wo ist Jizchak? Viele Kommentatoren denken, dass Jizchak nicht mit seinem Vater zurückkehrte, sondern allein seines Weges ging. Tatsächlich finden wir später in der Tora kein weiteres Miteinader mehr für die beiden. Falls es so sein sollte, können wir diese Geschichte als einen Hilfeschrei gegen die Auswirkungen verletzter Gefühle verstehen, sei es, dass ich mich verletzt fühle, sei es, dass ich verletzt habe. Beide Situationen sind in meinem Leben immer zu finden.

Dies war auch ein großes Thema für die talmudischen Rabbiner (BM 84a). Rabbi Jochanan ben Sakaj wird als Gründer des rabbinischen Judentums angesehen, weil er die erste Jeschiwa in Jawne gründete und nach der Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer im Jahre 70 n.d.Z. die Fortsetzung der jüdischen Tradition sicherstellte. Eines Tages trifft er schwimmend Resch Lakisch, den vagabundierenden Räuber. Ich mag ihn sehr, weil ich ein Jahr in Jerusalem in der nach ihm genannten Straße lebte. In der talmudischen Geschichte treffen sich also Rabbi Jochanan und Resch Lakisch im Fluss Jarden. Da die Analyse dieser ungewöhnlichen Geschichte zu weit führen würde, beschränke ich mich auf das Ende der Episode. Rabbi Jochanan versprach Resch Lakisch seine Tochter, falls dieser die Teschuwa machen würde. Und so geschah es. Rabbi Jochanan unterrichtete Resch Lakisch in der Tora und in der Mischna und machte ihn zu einem gelehrten und bedeutenden Mann. Eines Tages stritten die beiden im Bet ha-midrasch über die Reinigungsgesetze der Metallgegenstände. Sie könnten nach der Fertigstellung verunreinigt sein.Die Frage lautet: Wann sind sie vollständig fertig? Rabbi Jochanan sagte, sobald man sie im Ofen gebrannt hat, Resch Lakisch meinte dagegen, sobald man sie im Wasser gehärtet hat.

Vielleicht wundern wir uns jetzt über die scheinbare Belanglosigkeit dieses Streits. Die Streitthemen des klassischen Judentum des ersten Jahrhunderts mögen uns heute merkwürdig erscheinen. Doch wie ist das heute? Ist das, worüber wir uns manchmal streiten wirklich wesentlich? Wenn wir streiten, sind wir von der  Bedeutung unseres Streites völlig überzeugt. Dies mag in diesem Augenblick auch so sein. Doch Zeit heilt nicht nur, sie relativiert auch. Später schütteln wir vielleicht den Kopf darüber, dass wir über ein so belangloses Thema so leidenschaftlich streiten konnten. Es gibt einen weisen Spruch, der sagt: Bedenke bei jedem Streit mit einem Mitmenschen, ob diese Auseinandersetzung in fünf Jahren noch die gleiche Bedeutung hat, wie heute. Mögen uns unsere eigene Streiterfahrungen nachsichtig mit dem Thema des heftigen Streits zwischen Rabbi Jochanan und Rabbi Lakisch machen.

In einem erbitterten Streit benutzen wir nicht nur logische Argumente, sondern häufig auch emotionale und verletzende Argumente, die unter die Gürtellinie zielen. Rabbi Jochanan ging es leider ähnlich. In der aufgeheizten Situation, als er keine logischen Argumente mehr hatte, wollte er Rabbi Lakisch an seiner verwundbarsten Stelle treffen und rief ihm zu: „Ein Räuber kennt sein Räuberzeug.“

Resch Lakisch versuchte sich zu verteidigen, aber Rabbi Jochanan legte zu: „Ich war derjeniege, der dich unter die Fittiche der Göttlichkeit gebracht hat.“ Ende Diskussion. Rabbi Jochanan wurde schwach, und der tief verletzte Resch Lakisch krank. Seine Frau ging zu ihrem Vater, Rabbi Jochanan, und bat ihn um ihrer Kinder willen um die Fürsprache für die Gesundheit ihres Mannes. Doch Rabbi Jochanan zitierte den Tanach-Vers: „Lass nur deine Waisen, ich will sie ernähren.“  Die Tochter flehte zum zweiten Mal ihren Vater um das Genesungsgebet für ihren Mann an, diesmal um ihrer Witwenschaft willen. Und wieder bekam sie einen Tanach-Vers zu hören: „Deine Witwen mögen auf mich  vertrauen.“

Offenen Mundes folgen wir diesem Gespräch, sprachlos über den Missbrauch der Tanach-Verse, sprachlos über die Härte des Herzens. Es kann kein gutes Ende nehmen. Es hat auch kein gutes Ende. Resch Lakisch stirbt. Der Tod tilgt alle Verletzungen. Der Tod bricht aber auch die verhärteten Herzen auf, doch es ist zu spät. Der Tod hat allem unwiederbringlich ein Ende gesetzt. Rabbi Jochanan sehnt sich den verstorbenen Rabbi Lakisch herbei. Man versucht ihn zu trösten, ihn zu zerstreuen, ihm den Verlust von Resch Lakisch leichter zu machen. Aber nichts hilft. Rabbi Jochanan schreit verzweifelt: „Keiner von euch kann mir Resch Lakisch ersetzen. Als ich etwas sagte, hatte er 24 Einwände und ich konnte sie 24mal widerlegen. Durch unsere Diskussionen erweiterten wir unsere Tradition. Und ihr sagt auf mein Argument: es gibt einen Text, der es unterstützt. Ich weiss doch selbst, was meine Argumente unterstützt.“

Möglicherweise scheint uns die Einstellung von Rabbi Jochanan eitel. Trotzdem spürt er tief in seinem Herzen seine Schuld. Er zerreisst seine Gewänder, weint, läuft herum und schreit: Hecha at, bar Lakisch. Wo bist du, Sohn Lakisch, wo bist du. In dieser Verzweiflung verlor Rabbi Jochanan seinen Verstand. Seine Schüler flehten um Erbarmen und er starb.

Diese dramatische Geschichte aus dem Talmud lehrt uns, dass sowohl unser Bewirken der Verletzungen, als auch unser Verletztsein letztendlich eine Art Tod darstellen. Nach zehn Tagen der Teschuwa, bei der Tora-Lesung am Jom Kippur, werden wir die Worte hören, die uns von diesem Tag an begleiten sollen: hachajim wehamawet natati lefanecha – Leben und Tod liegen vor dir. Die kannst tun, was du möchtest. Jedoch, uwacharta bachajim – wähle das Leben. Wir haben eine freie Wahl, wir haben auch die Wahl für das Leben. Möge unser neues Jahr 5774 immer mit einer guten Wahl und mit Leben erfüllt sein..

Rabbiner Dr. Tom Kučera, München, zum Schacharit Rosch haSchanah 5774 / 2013.

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