Alles hat seine Zeit: Rituale gegen das Vergessen

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Am Freitag, dem 18.10., eröffnet mit »Alles hat seine Zeit. Rituale gegen das Vergessen« die erste große Judaica-Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin. Sie widmet sich in 16 kurzen Kapiteln dem Thema der »rites des passages«: Zum einen werden existentielle Einschnitte im Leben wie Geburt, Mündigkeit, Eheschließung und Tod mit der religiösen Tradition verbunden. Zum anderen wird die kollektive Dimension des Gedenkens am Jahreszyklus jüdischer Feiertage dargestellt: Rituale gegen das Vergessen, die jede Generation mit eigenen historischen Erfahrungen weiterschreibt…

Mehr als 60 ausgesuchte Objekte aus öffentlichen und privaten Sammlungen zeigen, was sich hinter dem religiösen und dem säkularen Gedenken verbirgt. »Das Besondere an der Ausstellung ist das Wechselverhältnis zwischen der sakralen und der profanen Zeit. Am Beispiel von Zeremonialobjekten und anderen Gegenständen sowie den rituellen Handlungen thematisiert die Ausstellung das Eindringen historischer Ereignisse in die heilige Zeit der kollektiven Fest- und privaten Feiertage«, sagt Cilly Kugelmann, Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin.

Den Impuls für die Ausstellung gab ein Zitat aus der jüdischen Weisheitsliteratur: »Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: …« (Kohelet 3, 1-8). In allen Kulturen gibt es Rituale, die die Stationen im Leben des Einzelnen markieren und Gemeinsamkeiten schaffen. Jeder Mensch braucht Rituale gegen das Vergessen, um sich seiner Kultur, seiner Religion, seiner Geschichte und Identität zu vergewissern. »Die Rituale, die sich im Judentum zyklisch wiederholen, sind deshalb so wichtig, weil die Ereignisse, an die sie erinnern, konstitutiv für religiöse und kulturelle jüdische Identitäten sind. Ohne das ritualisierte Erinnern könnten sich die Inhalte des Judentums auflösen«, sagt Kuratorin Felicitas Heimann-Jelinek.

Die Ausstellung »Alles hat seine Zeit. Rituale gegen das Vergessen« widmet sich ausgewählten Zeitabschnitten, die Gegenstand jüdischer Erinnerung und den damit verbundenen Übergangsriten sind. Zur Veranschaulichung werden individuelle Erinnerungsstrategien ebenso aufgegriffen wie solche, die wichtig für das Kollektiv sind. Zu den säkularen Ritualen zählen beispielsweise im Kapitel »Erinnerung an das Leben« Objekte zur Geburt, des ersten »rites des passages«. Im Kapitel »Erinnerung an das Vaterland« werden jüdische Kultgegenstände gezeigt, die für die Loyalität der europäischen Juden zu ihrem jeweiligen Vaterland stehen.

Unter den kollektiven Feiertagen wird unter der Überschrift »Erinnerung an die Befreiung« das Pessach-Fest vorgestellt, welches auch unter säkularen Juden ein identitätsstiftendes jährliches Ritual ist. Das Kapitel »Erinnerung an die Wanderung« behandelt das siebentägige Laubhüttenfest Sukkot, mit dem die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten wachgehalten wird. Im Andenken an die provisorischen Unterstände in der Wüste errichten Juden für das jährliche Fest einfache Laubhütten, die während der Festwoche bewohnt werden. Im deutschen Landjudentum waren diese Laubhütten entweder fest in Wohnhäuser unter dem Dach eingebaut oder wurden vor den Feiertagen im Garten aufgebaut. Eine solche mobile, seriell gefertigte Laubhütte hat sich in Baisingen, einem Dorf bei Rottenburg am Neckar, erhalten. Sie wurde noch bis zum Jahr 2000 als Geflügelstall verwendet und für diese Ausstellung aufwändig restauriert.

»Erinnerung an den Tempel«

Der Jerusalemer Tempel nimmt in der jüdischen Geistesgeschichte einen singulären Platz ein. Die lebendige und kollektive Erinnerung an die Zerstörung des zweiten Tempels in Jerusalem (70 n.d.Z) ist im Judentum ein wesentlicher Teil der Kultur, Religion und Identität. Den Rundgang durch die Ausstellung eröffnet daher eine Projektion des berühmten Mosaiks aus der spätantiken Synagoge von Bet Alpha in Israel. Diese Synagoge symbolisiert die Entwicklung vom Opfergottesdienst zum Wortgottesdienst: An die Stelle des zerstörten Tempels traten dezentrale Synagogen, die sich durch die Anwesenheit einer Tora-Rolle in ein »kleines Heiligtum« wandelten.

»Erinnerung an das Wort«

Hebräisch ist die Sprache der jüdischen Bibel. Der Tradition nach wurden die fünf Bücher der Tora Moses von Gott am Sinai in jener Sprache diktiert, in der er bereits die Welt geschaffen hatte: Hebräisch. Lange Zeit war Hebräisch die Sprache der Liturgie. Erst mit Beginn des Mittelalters setzte sich das Hebräische auch im Alltag durch.

Neben Objekten aus dem Schulalltag werden in diesem Kapitel erstmals drei mittelalterliche Schiefertafeln aus Köln ausgestellt: Kritzeleien, Zeichnungen und Schreibübungen in hebräischer, frühjiddischer und mittelhochdeutscher Sprache zeugen vom schulischen Alltag der Kinder und Jugendlichen in der damaligen jüdischen Gemeinde. Die drei Schiefertafeln gehören zu einem einzigartigen Fund aus dem Schutt des Pestpogroms Ende August 1349.

Quintan Ana Wikswo: »Erinnerung an das Tabu«

In allen Ausstellungsräumen stehen den traditionellen jüdischen Zeremonialobjekten insgesamt 20 großformatige Fotoarbeiten der amerikanischen Künstlerin Quintan Ana Wikswo gegenüber: Sie greifen ein Thema auf, das bislang aus den Erinnerungsritualen der Gedenkpolitik ausgeblendet war – die Opfergruppe der sexuell ausgebeuteten Frauen in Konzentrationslagern. Mit der Kamera und selbstgeführten Zeitzeugeninterviews näherte sich die Künstlerin diesem Tabuthema.
Zur fotografischen Dokumentation des Ortes im ehemaligen KZ Dachau verwendete Wikswo eigens für das Projekt präparierte Kameras mit einer besonderen Geschichte: Die Fotoapparate waren von Zwangsarbeiterinnen für AGFA in Dachau hergestellt worden. In ihrem Inneren platzierte Wikswo Pflanzen, die zusammen mit der defekten Optik der alten Kameras einen besonderen Effekt produzieren. Der dadurch entstehende Eindruck von Versehrtheit ist beabsichtigt und verweist auf Verletzungen und Leidensgeschichten der zwangsprostituierten Frauen.

Angelehnt an die Berichte der Frauen verfasste Wikswo für jedes Bild ein Gedicht. Diese fragmentarischen und abstrakten Texte geben Hinweise auf die Geschichte der Sonderbauten. Bordelle für Häftlinge gab es in mehreren Konzentrationslagern. Die sogenannten Sonderbauten wurden in den meisten Fällen abgerissen, kein Schild und keine Tafel erinnerten über Jahrzehnte an ihre Existenz und Funktion. Mit ihrer Arbeit rüttelt Quintan Ana Wikswo an dem Tabu, das die Erinnerung an die spezifische Form sexueller Ausbeutung von Frauen als Zwangsprostituierte in den Konzentrationslagern bis heute umgibt.

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Die Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin entstand in Kooperation mit dem Jüdischen Museum München. Medienpartner ist zittyBerlin.

Der kostenlose Audioguide (dt/engl) führt Besucher durch die 16 Kapitel der Ausstellung. Es sprechen: Felicitas Heimann-Jelinek (Kuratorin), Cilly Kugelmann (Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin), Michael Wiehen (Ausgrabungsleiter Archäologische Zone Köln), Quintan Ana Wikswo (Künstlerin), Bill Gross (Leihgeber), Inka Bertz (Leiterin Sammlungen im Jüdischen Museum Berlin), Bernhard Purin (Direktor des Jüdischen Museums München). Länge: ca. 60 Minuten.

Die Ausstellung eröffnet am 18. Oktober 2013 im Jüdischen Museum Berlin. Laufzeit v. 18. Oktober 2013 bis 9. Februar 2014