Über den Film „Just the Wind“…
Von Gaston Kirsche
Jungle World v. 18. Juli 2013
Draußen dämmert es. Eine Frau um die 40 wäscht sich im Halbdunkel mit Wasser aus einer Schüssel. Sie rührt einen Brei an und füttert einen alten Mann auf der Couch. Es ist ihr pflegedürftiger Vater. Sie weckt ihre Tochter, ermahnt das Mädchen, dass auch der jüngere Bruder zur Schule muss und macht sich auf den Weg durch den Wald zu ihrer Arbeitsstelle.
Die ungarische Romni Mari (Katalin Toldi), ihr Vater (György Toldi), die Teenagerin Anna (Gyöngyi Lendvai) und der präpubertäre Sohn Rió (Lajos Sárkány) kämpfen jeden Tag gegen Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung. Ihr Haus ist nicht an die dörfliche Infrastruktur angeschlossen, es hat keinen Strom, kein fließendes Wasser. Die Trampelpfade, auf denen die Bewohner zur nächstgrößeren Straße gehen, sind weder befestigt noch beleuchtet.
Zu Zeiten der k. u. k. -Monarchie war es den Roma in Österreich-Ungarn verboten, die Hauptstraßen zu benutzen. Sie legten deshalb selbst Pfade an, um von ihren Siedlungen in die Dörfer und Städte zu kommen, erzählte der ungarische Regisseur Bence Fliegauf nach der Vorführung des Films »Just The Wind« auf dem Londoner Film Festival 2012. Der Regisseur entschied sich, den Film zu machen, als er 2009 von einer antiziganistischen Anschlagserie las.
»Just The Wind« begleitet die Familie einen Tag lang. Es ist der Tag, an dem sie erfahren, dass in der Nachbarschaft eine Roma-Familie nachts in ihrem Haus erschossen wurde. Die Familie, von rassistischem Terror bedroht und von der Polizei im Stich gelassen, versucht, den Tag nach der Tat zu überstehen. Doch die Hoffnung, dass sie in Ruhe gelassen werden, erweist sich als trügerisch.
Ausgehend von einer realen Mordserie in Ungarn, die insgesamt acht Roma das Leben kostete, zeigt Bence Fliegauf die Pogromstimmung, die in Gewalt gegen Minderheiten mündet. Die Kamera heftet sich eng an die Fersen der Figuren und macht ihre Atemlosigkeit auch physisch erfahrbar.
»Just The Wind« wurde größtenteils ohne Stativ gefilmt. Mit Handkamera und Over-Shoulder begleitet der Film seine Figuren und nimmt ihre Perspektive ein. Bence Fliegauf hat sich zwei Jahre Zeit genommen, um die Siedlung und das Haus für seinen Film zu finden und das Leben der Roma in Ungarn kennenzulernen. Bei seinen Besuchen hat er zugleich seine Darsteller, allesamt Laien, kennengelernt. Ganz bewusst hat Fliegauf entschieden, seine Protagonisten nicht in großen Gruppen, sondern als Einzelpersonen zu zeigen, um das Stereotyp der Roma-Großfamilie zu unterlaufen. Das herkömmliche Bild der Roma als gefühlsgeleitete Menschen, so Fliegauf, gehe damit einher, dass sie meist in großen, chaotischen Gruppen gezeigt würden: »Was passiert, wenn eine Romani nicht den Stereotypen entsprechen will, die die erwarten, die ihre Siedlung besuchen?«
Mari, Anna und Rió musizieren nicht. Sie sind nicht lustig, auch wenn Mari den Spitznamen Birdy hat. Sie haben Angst, sind ernst. Mal tobt Rió mit anderen Jungs am See, wirkt ansonsten aber verschlossen, in sich gekehrt. Die Schule schwänzt er, stromert durch den Wald. Heimlich geht er in das Haus der ermordeten Familie. Blutspritzer kleben an der Wand, alles sieht aus wie eben noch benutzt. Er nimmt sich Konserven und eine Madonnenstatue. Da tauchen zwei Polizisten auf, Rió versteckt sich, wird so Zeuge, wie ein lokaler Beamter einem auswärtigen erklärt, das Attentat habe die Falschen getroffen. Die Familie sei fleißig gewesen. Wenn man ihn gefragt hätte, hätte er sagen können, wo sich die »raubenden Zigeuner« in der Gegend aufhalten. Rió ist äußerlich gefasst, als er aus dem Haus verschwindet. Er macht die Dinge mit sich alleine aus. Später im Wald schlägt er in ohnmächtiger Wut einen kleinen Baum kaputt.
Als Anna alleine an der Busstation steht, hält der Busfahrer ein paar Meter von ihr entfernt und hupt dann ungeduldig: Sie soll sich beeilen. Es ist eine dieser allgegenwärtigen Schikanen. Im Klassenzimmer angekommen, lernt sie englische Vokabeln. Und lädt ihr Mobiltelefon auf, weil es hier eine Steckdose gibt. Als der Hausmeister hereinkommt, zieht sie den Stecker sofort heraus. Bloß nicht angreifbar machen. Er geht um sie herum, mustert sie, fragt sie, ob sie etwas über den Diebstahl wisse: Ein Monitor sei am Vortag gestohlen worden. Mit gesenktem Blick verneint sie. Später wird der Hausmeister ihre Mutter schikanieren. Sie putzt in der Schule, kommt nicht rechtzeitig, weil der Bus Verspätung hat. Dafür soll sie sein Essenstablett wegbringen. Später behauptet er beinahe beiläufig, sie stinke. Mari bleibt gefasst, lässt die Beleidigung über sich ergehen. Sein Essenstablett entleert sie dafür heimlich in den Putzeimer seiner blonden Freundin.
Vormittags war sie bei ihrem Hauptjob, der Autobahnmeisterei: Mittelstreifen putzen. Laute, schmutzige Arbeit. Die Einweiserin schenkt ihr ein paar getragene Kleidungsstücke für Anna. Und los. Mari raucht, dabei kommt sie für diesen kurzen Moment, den sie für sich hat, zur Ruhe. Auch abends, vor dem Einschlafen, ihr Vater und die Kinder liegen schon im Bett, hat sie diesen kurzen Moment für sich, eine Zigarette lang. Als Anna ein Geräusch hört und beunruhigt fragt, was denn da draußen vor sich gehe, sagt Mari: Es ist nur der Wind. Sie sprechen Ungarisch miteinander, Romanes spricht kaum jemand in Ungarn. Es wird auch nicht gern gesehen, obwohl rund zehn Prozent der Bevölkerung Roma sind.
Antiziganistische Gewalt ist in Ungarn verbreitet – bei einer Umfrage 2009 gab jeder fünfte Roma an, innerhalb der letzten zwölf Monate Opfer eines gewalttätigen Angriffs geworden zu sein. Die Morde, die der Film aufgreift, waren jedoch außergewöhnlich brutal und folgten einem Muster. Es handelte sich immer um nächtliche Überfälle auf bewohnte Häuser in Roma-Siedlungen. Meist wurden Brandsätze auf die Unterkünfte geworfen, anschließend wurde auf die vor dem Feuer Fliehenden geschossen. Im Vorspann des Filmes ist von Überfällen auf 16 Häuser die Rede, bei denen 63 Schüsse aus Jagdgewehren auf 55 Opfer abgegeben wurden. Fünf Menschen wurden schwer verletzt, sechs starben.
Dass Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International von höheren Anschlags- und Opferzahlen ausgehen, hat einen einfachen Grund: Neben der Mordserie gab es weitere tödliche Angriffe auf Roma, die aber anderen Tätern zugeordnet wurden. So etwa einem Rassisten, der im Mai 2009 mit Rasierklingen im ostungarischen Abádszalók einem schlafenden Ehepaar in dessen Haus die Hälse aufschnitt.
Ein Mord mit einem Jagdgewehr, der der Serie zugerechnet wird, wurde in der Nacht zum 23. Februar 2009 verübt. In dem 60 Kilometer von Budapest entfernten Ort Tatárszentgyörgy warfen die Attentäter Brandsätze auf das Dach eines kleinen Holzhauses. Der 27jährige Robert Csorba, sein vierjähriger Sohn Robi und seine sechsjährige Tochter Bianca rannten sofort aus dem Haus. Robi wurde mit einer Schrotladung, die sein Gesicht zerfetzte, sofort getötet, sein Vater schwer verletzt. Die ebenfalls getroffene Bianca konnte sich verstecken, die Attentäter fanden sie nicht schnell genug, um sie zu töten. Die Mutter konnte sich mit dem Baby aus einem Seitenfenster retten. Erst nach einer Stunde kamen der unmittelbar angerufene Krankenwagen und die Polizei in den Roma-Stadtteil. Csadas Csorba, der im Nachbarhaus wohnende Vater von Robert Csorba, sagte später, sein Sohn wäre nicht verblutet, wenn der Krankenwagen sofort gekommen wäre. Auch die Dorfpolizisten hätten kein Engagement bei der Tataufklärung gezeigt: »Sie haben auf die Fuß- und Handabdrücke der Täter im Schnee uriniert, um sie zu verwischen. Sie haben uns einfach nicht geholfen«, so Csadas Csorba laut einem Bericht von Amnesty International, der auch festhielt: »Die Polizeibeamten weigern sich, die Kugeln als Beweismittel anzuerkennen und zu sichern. Sie machen einen Elektrizitätsbrand und die folgende Explosion für die Ereignisse verantwortlich.« Nur weil sich auf Bitte der Familie Csorba die EU-Abgeordnete Viktória Mohácsi einschaltete, wurde ermittelt. Auf Forderung Mohácsis übernahm die Nationale Ermittlungsbehörde den Fall, die beiden Leichen wurden obduziert, die Schüsse als Todesursache festgestellt. Der Polizeibericht musste geändert werden.
In anderen bekannt geworden Fällen war es ähnlich. Die örtliche Polizei ermittelte zuerst wegen angeblicher Eifersucht, wegen Streits um Geld sowie wegen technischer Ursachen. Erst eine landesweite Sonderkommission konnte im August 2009 die vier mutmaßlichen Serientäter festnehmen. Der Prozess wegen Mordversuchs und Mord begann im März 2011. »Einer der Beschuldigten ist ein sehr bekannter rechter Aktivist«, so Eszter Jovánovics, Koordinatorin des Roma-Programms der ungarischen Bürgerrechtsvereinigung Társaság a Szabadságjogokért (TASZ), gegenüber der Jungle World. Ein anderer Angeklagter sei ein »früherer Informant des militärischen Sicherheitsbüros«. Wenn in dem Prozess nicht bis zum 21. August ein Urteil gesprochen wird, werden die Angeklagten, da ihre Untersuchungshaft endet, entlassen werden müssen, sagt Jovánovics.
Schneller geht es mit Verurteilungen, wenn Roma angeklagt werden. Mitte Mai wurden neun Roma zu Haftstrafen von zweieinhalb bis vier Jahren verurteilt wegen Angriffs auf vier Mitglieder der rechtsextremen »Ungarischen Garde«. Als strafverschärfend bewertete das Gericht, dass es sich um »Rassismus«, also ein »Verbrechen gegen die Nation« handele. »Gegenüber Roma den Vorwurf des Rassismus zu erheben und diesen Vorwurf als strafverschärfend in Gerichtsverfahren einzuführen, stellt für den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma eine Umkehrung des Schutzes vor Rassismus dar«, erklärt dessen Vorsitzender Romani Rose. Ein halbes Jahr nach der Mordserie gegen Roma bedrohten im November 2009 Gruppen der »Ungarischen Garde« und anderer Bürgerwehren in dem Ort Sajóbábony die Roma-Minderheit: Sie riegelten die Stadtviertel der Roma ab und hinderten deren Kinder am Schulbesuch. »Die damalige Reaktion der Roma, die sich zur Selbstverteidigung zusammenschlossen, muss auch vor dem Hintergrund der Mordserie in den Jahren 2008 und 2009 gesehen werden«, erklärt Herbert Heuß vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.
»Just The Wind« konzentriert sich auf den gesellschaftlichen Antiziganismus. Der institutionelle Antiziganismus der völkischen Regierung, von Verwaltung und Justiz, kommt im Film nicht vor, wohl aber der polizeiliche. Was gezeigt wird an Elend und Ausgrenzung ist nicht übertrieben: »Die Lebensumstände der ungarischen Roma sind realistisch dargestellt«, sagt Eszter Jovánovics. »Ich fand den Film sehr gut und die meisten Leute, die ich kenne, auch.« Völkische Ungarn kritisierten »Just The Wind« bereits heftig, bevor der Film überhaupt ins Kino kam. Regisseur Fliegauf gefällt das. Damit hätten sie nur oppositionelle Ungarn dazu motiviert, sich den Film im Kino anzuschauen. Tatsächlich fand der Film erfreulicherweise ein großes Publikum und erreichte Kreise weit über die für Bürgerrechte von Roma Engagierten hinaus.
Just The Wind (Ungarn/D/F 2012) Buch und Regie: Bence Fliegauf. Mit Lajos Sárkány, Katalin Toldi, Gyöngyi Lendvai, György Toldi. Kinostart: 18. Juli
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