Neubeginn nach der Katastrophe

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Eindrucksvolle Ausstellung über jüdisches Leben in Augsburg nach 1945…

Von Jim G. Tobias

„In Augsburg trafen wir auf hunderte osteuropäische Juden, die zum Teil in Lagern rund um Augsburg, zum anderen Teil in zugeordneten Häusern oder auch privat unter der deutschen Bevölkerung wohnten“, erinnert sich Esther Frisch, die mit ihrer Mutter 1946 aus Polen geflüchtet war. Die beiden hatten Glück: Mit „arischen“ Papieren, unter ständiger Angst vor Entdeckung, erlebten sie im Januar 1945 in einem kleinen Städtchen nahe Warschau den Einmarsch russischer Truppen. Doch nach alledem, was ihnen widerfahren war, gab es für sie nur ein Ziel: Erez Israel. Auf dem Weg dorthin strandeten sie, wie weitere rund 400 andere Juden aus Osteuropa, in der Fuggerstadt. Da zu dieser Zeit der jüdische Staat noch nicht Wirklichkeit war und die britische Mandatsmacht in Palästina den Juden die Einwanderung verweigerte, mussten sie etliche Jahre in Augsburg ausharren.

Über diese kurze Episode der Nachkriegsgeschichte, nahezu ein halbes Jahrhundert verdrängt und vergessen, informiert die neue Ausstellung „Gehen oder Bleiben“ des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben. Obwohl der jüdische Neubeginn im Land der Täter in den letzten Dekaden zunehmend in den Fokus der deutschen Historiker rückte, ist es immer noch kaum bekannt, dass in den ersten Nachkriegsjahren rund 200.000 Juden in Deutschland lebten. Deutsche jüdischen Glaubens war jedoch nur einige wenige darunter. Nach der Befreiung entstanden zahlreiche Gemeinden und Camps, in denen es zu einer Wiedergeburt der nahezu vernichteten osteuropäischen jüdischen Kultur kam. In Augsburg schlossen sich die Überlebenden der Shoa im Herbst 1945 zu einem Jüdischen Komitee zusammen, welches das soziale, politische und kulturelle Leben in der Stadt organisierte. Wenngleich die zumeist aus Polen stammenden Juden auch ihre deutschen Glaubensbrüder mit einbeziehen wollten, scheiterte eine Zusammenarbeit. Nur eine Handvoll ehemaliger Augsburger und andere deutsche Juden waren in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, die im Mai 1946 die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Augsburg gründeten. Ausländische Juden durften jedoch nicht Mitglied werden, die kulturellen Gegensätze waren unüberbrückbar, wie Bernhard Bezen, der damalige Geschäftsführer der IKG Augsburg seinerzeit bestätigte: „Es ist halt heute bei uns in Augsburg so, dass wir, die alten Augsburger Juden, hier so stark in der Minderheit sind und uns der Majorität unserer ausländischen Glaubensgenossen fügen sollen, was bei deren Mentalität, die ja in krassem Widerspruch zu unserer rituellen und auch kulturmäßigen Auffassung ist, für uns eine fast unüberwindliche Aufgabe bedeutet.“

Dennoch war für beide Gruppen die Synagoge in der Halderstraße Treffpunkt und Zentrum ihres religiösen und sozialen Lebens, wobei die osteuropäischen Juden nahezu alle Bereiche dominierten: Neben dem Sportverein Bar Kochba, dessen Fußballmannschaft in der jüdischen Liga des Rajon München spielte, initiierte das osteuropäische Komitee eine Berufsschule und bot Hebräisch-Unterricht an, wie sich Hanoch Gutfreund, der Sohn des damaligen Vizepräsidenten, Abraham Gutfreund, erinnert: „Mit Esther und einigen älteren Kindern besuchte ich einen Kurs und wurde zum ersten Mal in die hebräische Sprache eingeführt.“


Hebräischunterricht in Augsburg: Hanoch Gutfreund an der Tafel und Esther Solomianski (Frisch) im weißen Kleid. Foto: Hanoch Gutfreund, Jerusalem.

Während die osteuropäischen Juden von einem Neubeginn im erst entstehenden Staat Israel oder von den „unbegrenzten Möglichkeiten“ in den USA, Kanada oder Australien träumten, hofften die deutschen Juden auf ein Leben ohne Verfolgung in einem demokratischen Deutschland. Doch die Frage „Gehen oder Bleiben“ stellten sich lange Zeit alle Juden. Letztlich blieben aus den unterschiedlichsten Gründen auch einige osteuropäische Juden in Augsburg, die sich Anfang der 1950er Jahre der Israelitischen Kultusgemeinde anschließen durften.

Die Ausstellung ermöglicht, anhand von bislang unveröffentlichten historischen Fotografien und persönlichen Erinnerungen von Zeitzeugen, die parellelen Lebenswelten und gegensätzlichen Zukunftsvorstellungen der osteuropäischen sowie deutschen Juden zu erfahren. Zu verdanken ist diese eindrucksvolle Exhibition, nebst dem reichbebilderten Begleitband, der jungen Kuratorin Andrea Sinn, die akribisch recherchiert sowie mit großer Kompetenz und sicherer Hand Überraschendes zutage gefördert hat. Eine spannende Reise durch die deutsch-jüdische Nachkriegsgeschichte!

Ausstellungseröffnung:
9. Mai 2012, 19.00 Uhr, Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben, Halderstr. 6-8, 86150 Augsburg

Begleitbuch:
Andrea Sinn, Gehen oder Bleiben. Lebenswelten osteuropäischer und deutscher Juden in der Nachkriegszeit, 1945 – 1950, Augsburg 2012, 88 Seiten, deutsch/englisch, ISBN 978-3-9814958-0-5, € 14,–

Begleitprogramm

20.5.12, ganztägig
Exkursion Auf den Spuren jüdischer DPs in Bayern.
Augsburg-Landsberg-Wolfratshausen (ehemaliges DP-Lager Föhrenwald)-München (Ausstellung “Juden 45/90 im Jüdischen Museum München)

20.6.12, 19 Uhr
Unterbrochenes Gedicht. Jiddische Literatur in Deutschland 1944-1950.
Lesung mit Dr. Tamar Lewinsky, Institut für Jüdische Studien der Universität Basel.

12.7.12, 19:30 Uhr
Die vergessenen Kinder von Strüth. Ein jüdisches Waisenhaus in Franken.
Filmabend mit Jim G. Tobias, Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e.V.

Links zum Thema:

Deutsche und osteuropäische Juden in Augsburg 1945-50
Als die Fahne mit dem Davidstern über Dachau wehte
Ein hebräisches Gymnasium in München
Jüdisches Leben in Memmingen nach 1945
Nach der Shoah – Ein Internetlexikon zu jüdischen DP-Lagern und Gemeinden in Bayern