Alltag nach der Schoah

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In „Ein Sommer in Haifa“ entdeckt ein 17-jähriger die mehr oder weniger freie Liebe und die Traumata von Überlebenden der Schoah…

Von Gaston Kirsche

Haifa, die mediterrane, alte Hafenstadt im Norden Israels, ist so präsent in dem Film, dass es eine Freude ist. Avi Nesher, einer der erfolgreichsten und erfahrensten Regisseure Israels, hat erneut alles bis aufs feinste durchdacht und die tragischen Momente der Filmhandlung durch Panoramaaufnahmen abgefedert. Einzig die modernen Containerbrücken in der Ferne wirken irritierend, spielt der Film doch 1968. Dafür ist die Ausstattung sonst umso passender: Rockmusik wird auf einem großen Tonbandgerät gehört, und Kleidung und Frisuren versetzen uns in die biederen Endsechziger, wo ein Mädchen in Hippieklamotten wie ein Paradiesvogel wirkt.

Haifa liegt an den Ausläufern des Berges Carmel, je höher die Stadtteile, desto schöner der Blick über die Bucht von Haifa. Und desto properer und sauberer die Häuser. Unten, am Hafen, liegt das verrufene Rotlichtviertel, mit seinem Straßenhandel, von Sex über Zigaretten bis zu Waschmaschinen. Verbunden sind die Stadtteile durch steile Treppen, zwar wesentlich schmaler als die von Odessa, aber von der Länge her für Szenen des „Panzerkreuzers Potemkin“ geeignet. Auf den Straßen geht es lebhaft zu, viele gehen auch längere Wege zu Fuß, fahren Bus. Arabisch gekleidete Menschen bewegen sich selbstverständlich im Straßenbild. Als ob in den kommenden Jahrzehnten die israelische Bevölkerung nicht durch Selbstmordanschläge terrorisiert werden wird – bei einem Attentat der Hamas starben im Jahr 2002 im Zentrum von Haifa 16 Menschen.

Gedreht wurde „Ein Sommer in Haifa“ 2010. Von Beginn an ist es Sommer in Haifa, aber der Anfang spielt 2006. Die Hisbollah hat gerade wieder Katjuscha-Raketen auf die nordisraelische Hafenstadt geschossen. Die Grenze zum Libanon ist gefährlich nah. Zwischen von Raketen getroffenen brennenden Häusern und Autos hindurch fahren Arik Burstein (Eyal Schechter) und sein Vater zum Notar. Yaakov Braid ist gestorben und hat ihm alles vererbt. Auch das Notizbuch, das Arik vor 38 Jahren vollgeschrieben hat, als er für Yankele, wie ihn alle nannten, gearbeitet hat. Versonnen blickt Arik, nachdem er seinen Vater abgesetzt hat, auf die Stadt hinunter.

Rückblende. Der gleiche Ort im Sommer 1968. Arik – überzeugend dargestellt von dem 17-jährigen Tuval Shafir – spielt Fußball. Als Ich-Erzähler teilt er uns mit, dass er sich mehr für Dinosaurier interessiert als für Mädchen, dass er mit 18 gleich zur Armee will. Der Sechstagekrieg, in dem Israel sich erfolgreich verteidigte, ist gerade ein Jahr her. In der Filmhandlung spielt dies weiter keine Rolle, aber die Bedrohung des Friedens ist ein wichtiger Subtext, auch um die Ängste vieler Akeure zu verstehen.

Yankele Braid (Adir Miller) ist als Ehevermittler auf der Suche nach Kundschaft. So lernt er Arik kennen, der ihm einen Streich spielt und ihn zu seinem Vater Yozi Burstein (Dov Navon) schickt. Sein Vater und Yankele erkennen sich wieder – sie waren als Kinder in Rumänien eng befreundet. Beide sind Überlebende der Schoah. Und sprechen selten darüber.

Arik beginnt für Yankele zu arbeiten: Er soll EhekandidatInnen überprüfen, ob sie es wirklich ernst meinen. Etwas linkisch beginnt Arik mit seinen Nachforschungen, nach und nach erfährt er immer mehr über die PartnerInnensuche. Und er selbst verliebt sich in Tamara (Neta Porat), die Cousine seines besten Freundes. Tamara wohnt in den USA und verbringt nur den Sommer in Haifa. Sie bringt die Rockmusik mit, trägt keinen BH, ist unkonventionell. Das alles ist im Film etwas zu plakativ, zu oberflächlich für eine reale Darstellung der Ideen von 68 und freier Liebe. Die verführerisch erscheinen sollende Tamara ist mehr eine Männerphantasie des Regisseurs. Das nervt zwar etwas, ist aber zu vernachlässigen: Denn das eigentliche Thema ist der Umgang der Überlebenden der Schoah mit ihren traumatischen Erlebnissen. Avi Nesher, selbst Kind von Überlebenden, hätte ganz darauf vertrauen können, ihre Geschichte zu erzählen. Aber da schlagen wohl seine Jahre in Hollywood durch, wonach zu jedem Film eine Love-Story gehört.

Yankele Braids Büro liegt am Hafen, hinter einem Kino, in dem nur Liebesfilme laufen. Und das von einer Familie von Kleinwüchsigen betrieben wird. Auch sie Überlebende, die in Auschwitz waren, an denen Doktor Mengele Menschenversuche begangen hat. Für eine von ihnen, die lebenslustige Sylvia (Bat-El Papora), sucht Yankele einen Mann. Beim Zeitunglesen ist seine eintätowierte Häftlingsnummer auf dem Unterarm zu sehen. Als im Straßencafé drei Soldaten über Sylvia sexistische Witze machen, geht Yankele zu ihnen, fegt mit seiner Gehhilfe ihre Teller vom Tisch und sagt: Sylvia ist eine Überlebende, sie hat viele Erniedrigungen ertragen und verdient Respekt. Und jetzt heben Sie das Salz auf und geben es mir. Es gibt einige solcher bewegender Szenen, die zeigen, wie die Überlebenden selbst in Israel um Anerkennung ringen müssen.

Das Kino der kleinwüchsigen Familie von Auschwitz-Überlebenden hat es in Haifa wirklich gegeben. Ebenso wie die Kontroverse um das Buch „Das Haus der Puppen“, ein Buch über sexualisierte Gewalt von SS-Männern gegenüber weiblichen KZ-Häftlingen, die sie zur Prostitution zwangen. In seiner Bücherhalle leiht sich Arik dieses Buch aus, um etwas über die Shoah zu erfahren. Der Bibliothekar erklärt ihm, die Überlebenden hätten sicher alle selbst Verbrechen bergangen – wie hätten sie denn sonst die Deutschen überlebt?

Avi Nesher findet starke Bilder für das schamhafte, ängstliche Schweigen. Etwa als Arik seinen Vater nach dem „Haus der Puppen“ befragt. Schund ist das, bricht es aus dem Vater hervor, und: Von den Überlebenden würden viele deshalb am Hafen, in der verrufenen Gegend wohnen, weil sie dann schnell bei den Schiffen wären, um wegzukommen, wenn es mit der Judenverfolgung wieder losgeht – falls der junge Staat Israel scheitert. Als seine Frau, Ariks Mutter fragt, worüber sie denn so aufgeregt sprechen, sagt er: Über den Torwart von Hapoel Haifa. Sie ist keine Überlebende, hat nie unter deutscher Besatzung leben müssen.

„Ein Sommer in Haifa“ läuft jetzt im Kino an, in Originalversion mit Untertiteln. Durch das gebrochene Hebräisch von Yankele Braid mit dem starken rumänischen Akzent, durch den Akzent vieler der Überlebenden gewinnt der Film eine zusätzliche Ebene: Hörbar ist, dass Israel viele Überlebende aus Europa aufgenommen hat. Ihre Sprachen sind eine Erinnerung an ein Leben vor der Shoah.

Ein Sommer in Haifa, פעם הייתי, Once I Was, Israel 2010, 118 Min., OmU. Regie: Avi Nesher. Mit Tuval Shafir, Adir Miller, Maya Dagan, Neta Porat, Bat-El Papura, Dror Keren. Bildkraft Filmverleih.

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=LvSopLIoM6I&[/youtube]

1 Kommentar

  1. ICH kann diesen Film nur empfehlen.
    Ich teile manche der Aussagen dieser Nachbetrachtung nicht.
    Es sind keine Plattitüden ala Hollywood, jedenfalls nicht für mich.
    Es ist ein Film zwischen Lachen und Weinen, zwischen innerer und äußerer Befreiung, zwischen Erinnerung der Überlebenden und Lebenwollen der Nachgeborenen.
    Das Buch „Das Puppenhaus“ ist von Katzetnik (DeNur) und
    die Kleinwüchsigenfamilie war die überlebende Familie Perlman.

    Ich schreibe das als Tochter meines „Auschwitz-Ãœberlebenden“
    Vaters, weil mich der Film sehr berührt hat.

    Ruth Spicker, Berlin
     

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