Simon Dubnow (1860-1941)

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Vor siebzig Jahren wurde der große jüdische Historiker Simon Dubnow in Riga von Nazis ermordet…

Von Andrea Livnat

Simon Dubnow wurde 1860 in Mstislaw in Weißrußland geboren. Er erhielt die traditionelle jüdische Ausbildung und stand dabei vor allem unter dem Einfluß seines gelehrten Großvaters. Dubnow brach aus dieser Welt jedoch bald aus und holte seine allgemeine, weltliche Ausbildung im Selbststudium nach. Zwischen 1880 und 1906 lebte er, teilweise illegal, in Sankt Petersburg, zog dann nach Odessa, das zu einem Mekka für junge jüdische Intellektuelle herangewachsen war, wo er mit Ahad haAm, Bialik und Shalom Aleichem zusammentraf, und schließlich nach Wilna. Dubnow schrieb sein Leben lang für die jüdische Presse. Allein zwischen 1883 und 1895 veröffentlichte er fast 300 Rezensionen. 1898 begann er an der Weltgeschichte des jüdischen Volkes von den Uranfängen bis zur Gegenwart zu schreiben, deren zehn Bände in den 1920er Jahren zuerst auf Deutsch erschienen. 1922 verließ er Rußland und ließ sich in Berlin nieder. Von dort ging er 1933 ins Exil nach Riga, wo er am 8. Dezember 1941 nach der Einnahme der Stadt durch die deutsche Wehrmacht von den Nazis ermordet wurde.

Geschichtsauffassung und Historiographie bei Dubnow

Simon Dubnow war einerseits von der östlichen Haskalah, andererseits auch von seinem hebräischen und jiddischen Umfeld geprägt. Seine Form des jüdischen Selbstverständnisses führte er zu einer Neudefinition des Judentums im nationalistischen Sinne weiter. Trotz des starken Einflusses des polnisch-russischen Judentums, war Dubnow auf akademischem Gebiet von der Wissenschaft des Judentums geformt.

Dubnow, der den Ausdruck prägte, das Judentum sei eines der geschichtlichsten Völker, glaubte immer an die Juden als historisches Volk, auch nach der Zerstörung des zweiten Tempels. Aus dieser Sicht schrieb er die „Weltgeschichte des jüdischen Volkes“. Im Vorwort dazu skizzierte er sehr klar seine Auffassung der jüdischen Geschichte und der Anforderung an eine moderne jüdische Historiographie. Zunächst stellte für ihn das Judentum „in der Tat einen geschichtlichen Mirkokosmos dar, und mit gutem Rechte darf man daher von einer Weltgeschichte des jüdischen Volkes reden.“ Bisher wurde die jüdische Geschichte Dubnows Meinung nach jedoch nicht dementsprechend untersucht. „Bis in die allerjüngste Zeit standen einer sachentsprechenden Auffassung der Geschichte des „geschichtlichsten“ Volkes die größten Hindernisse im Wege.“ So wurde beispielsweise die älteste Geschichte des Judentums lediglich nach theologischen Gesichtspunkten untersucht, aber auch in der mittelalterlichen und neuen Geschichte herrschte eine spiritualistische Interpretation vor. Diese einseitige Anschauung gründete sich auf die Aussage, daß ein Volk ohne eigenen Staat kein aktives Subjekt, sondern immer nur passives Objekt der Geschichte sein kann. „So beachtete die von Zunz und Graetz inaugurierte Geschichtsschreibung bei der Darstellung der Geschichte der Diaspora vornehmlich das geistige Schaffen und das heldenmütige Märtyrertum (die „Geistes- und Leidensgeschichte“).“ Die große Errungenschaft der letzten Zeit sei daher, daß man darüber hinweggekommen ist und „zu einer umfassenderen, rein wissenschaftlichen Auffassung der jüdischen Geschichte, die man als soziologische bezeichnen kann, vorgeschritten ist.“ Die Ursachen für die bisher einseitige Geschichtsschreibung lagen für Dubnow klar auf der Hand: Das Assimilationsdogma, daß das Judentum keine Nation, sondern nur eine Religionsgemeinschaft sei, habe auch die Historiographie angesteckt. „Sogar solche Gegner des allgemeingültigen Dogmas wie Grätz brachten nicht die Kraft auf, gegen den Strom zu schwimmen.“ Dubnow spricht auch seine eigene Entwicklung an; nachdem er anfangs selbst noch den anerkannten Grundsätzen gefolgt war, durchlief er verschiedene Entwicklungsstadien. Neben seiner noch unreifen Erstlingsarbeit waren auch die nachfolgenden Arbeiten noch von der Ideologie Zunz´ und Graetz´ stark beeinflußt. Die allgemeine Säkularisierung half jedoch der Historiographie auf den richtigen Weg. „Der Säkularisierung der jüdischen nationalen Idee mußte auch eine Säkularisierung der Geschichtsschreibung folgen, ihre Befreiung zunächst von den Fesseln der Theologie und sodann auch von denjenigen des Spiritualismus oder der Scholastik.“ Der eigentliche Gegenstand der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung sei das Volk und die nationale Individualität.

Dubnow sah infolge dieser neuen Grundauffassung die Notwendigkeit, die jüdische Geschichte neu zu periodisieren. Diese Einteilung sollte nicht mehr nach theologischen Grundüberlegungen, sondern nach politischen Gesichtspunkten vorgenommen werden. Die Darstellung der Geschichte eines staatenlosen Volkes sollte nach Dubnow vor allem hinsichtlich geographischen Kriterien vor sich gehen, denn jedes Zeitalter hatte ein oder zwei Hauptzentren. Er verwarf daher die klassische Einteilung in die Zeit des ersten Tempels, des zweiten Tempels etc. und setzte an die Stelle die verschiedenen Weltmonarchien, wie Ägypten, Assyrien und Babylonien. Den Gesamtverlauf der jüdischen Geschichte teilte Dubnow grob in eine orientalische und eine westliche Periode, die er dann jeweils untergliederte. Die neueste Geschichte schließlich, deren Beginn Dubnow mit der Französischen Revolution setzte, sei von tiefgreifenden sozialen und kulturellen Krisen geprägt. Nach der orientalischen und der westlichen Periode gäbe es in der Neuzeit wieder die Möglichkeit der Hinwendung zum Orient, also nach Palästina, wodurch eine gewisse Rivalität zwischen Ost und West, zwischen Palästina und der amerikanisch-europäischen Diaspora entstehen würde.

Dubnow übte in diesem Zusammenhang zusätzlich Kritik an der Methodik von Heinrich Graetz. Seine Vorgehensweise, innerhalb eines Kapitels durch verschiedene Länder, Zeiten, durch sozial-wirtschaftliche Tatsachen und literaturgeschichtliche Anmerkungen zu springen, löse große Verwirrung aus. Dubnow hielt es für klüger, die Geschichte nach einzelnen Ländern aufzuteilen. Grundsätzlich sei jedoch die „Geschichte der Juden“ ein bedeutendes Werk, was bereits mit der Veröffentlichung des ersten Bandes klar gewesen sei. Graetz habe in  farbenreicher und leidenschaftlicher Darstellung die jüdische Geschichte trotz des Staatsverlustes als nationale Geschichte beschrieben, lediglich die soziologische Auffassung sei bei Graetz noch nicht durchgedrungen. Dubnow würdigte Graetz´ Leistung auch im Hinblick auf dessen Vorgänger. Die „Geschichte der Israeliten“ von Isaac Marcus Jost sei „ein Werk, das sich kaum über das Niveau einer pragmatischen Chronik erhebt“. Josts Quellen waren veraltet, zudem habe er sie schlecht geprüft und sei im allgemeinen sehr unkritisch. Schließlich sei Jost ein Kind seiner Zeit, ein gemäßigter Anhänger der Assimilation und Reform, und er „drückte (..) allen seinen historischen Werken den Stempel dieser lauen Gesinnung auf“. Jost verkörperte für Dubnow die Unterwürfigkeit eines Frankfurter Israelitischen Bürgers und „die den Juden damals eigene Sucht, den Christen zu Gefallen, die einen ständigen Anlaß zu Spötteleien bot.“

Trotz der Kritik, die Dubnow an seinen Vorgängern übte, war er sich dessen bewußt, daß ohne deren Vorarbeit, die sich bereits über 100 Jahre erstreckte, das Stadium seiner Geschichtsschreibung nicht hätte erreicht werden können. Er betrachtete es daher als Symbol der Kontinuität, daß die „Weltgeschichte des jüdischen Volkes“ zuerst in Deutschland, wo die Anfänge der jüdischen Historiographie liegen, erschien. In seinen Memoiren erinnerte er sich: „Das Jahr 1892 begann für mich vollends im Zeichen der jüdischen Historiographie. In meiner Tagebuchaufzeichnung am Neujahr finde ich die Sätze: „Das Ziel meines Lebens steht heute klar vor mir: Verbreitung der historischen Kenntnis des Judentums und insbesondere Erforschung der Geschichte der russischen Juden. Ich bin gleichsam ein Missionar der Geschichte geworden.“ In jenen Tagen stand ich ganz unter dem Zauber der Gestalt des kurz vorher verstorbenen Heinrich Graetz, die ich in einem umfassenden Essay „Der Geschichtsschreiber des Judentums“ zu zeichnen versuchte. In Graetz´ Gesamtwerk schien mir zum erstenmal die Idee der Judenheit als „geistige Nation“ oder als „Weltnation“ einen, wenn auch noch unklaren Ausdruck gefunden zu haben.“

Dubnows soziologische Methode

Dubnow wollte eine soziologische Korrektur an der Methode seiner Vorgänger vornehmen. Die Geschichte der Juden sollte sich nicht nur mit Religion und Literatur befassen, sondern vielmehr einen multidimensionalen Blick auf die kommunalen Aktivitäten der Juden werfen. Dubnow ging dabei von der Tatsache aus, daß das jüdische Volk immer ein Subjekt in der Geschichte, ein schöpferisches Subjekt war, und das nicht nur im geistigen Bereich, sondern auch in Bezug auf das soziale Leben. Die Geschichte der Juden hatte für Dubnow den Charakter einer Nation. Wenn auch die Religion das markanteste Zeichen dieser Nation ist, das Wesen des Judentums ist eine eigene Volksidentität, die Juden sind eine geistig-historische Nation. Der staatliche „Körper“ des Judentums war für Dubnow die autonome Gemeinde.

Dieser Auffassung entspricht Dubnows politisches Programm des Autonomismus. Im Gegensatz zum Zionismus, der eine allgemeine Verneinung des Galuth durch die Ansicht vertrat, das Judentum könne sich in der Diaspora nicht als einheitliche Nation entwickeln, sah der Autonomismus das nationale Zentrum des Judentums innerhalb der Diaspora. Dubnow stützte die Theorie des Autonomismus auf den Gesamtverlauf der jüdischen Geschichte. Innerhalb der Diaspora habe es stets nationale Zentren gegeben, die wichtigsten hatten jeweils die geistige Hegemonie. Das Judentum hat immer an einer inneren Autonomie festgehalten, die kulturelle Eigenständigkeit wurde gewahrt. Assimilation war für Dubnow ein schwerer Irrtum, der die Individualfreiheit des jüdischen Volkes verneinte. Der Autonomismus sah die Bildung einer weltlichen Volksgemeinde vor, die sich zu Zentralorganen in den einzelnen Ländern und schließlich zu einem Weltverband zusammenschließen sollten. Daher drehte sich auch Dubnows historisches Verständnis um einzelne veränderliche Zentren, die jeweils die kulturelle und ökonomische Hegemonie innehalten. Dubnow bestätigte dadurch vor allem die enge Bindung von Geschichte und Nationalismus.

Erst diese Grundeinstellung Dubnows ermöglichte überhaupt seinen soziologischen Ansatz. Denn das Objekt seiner historischen Forschung war die jüdische Nation, das Volk selbst. Spirituelle, literarische Werte sollten nicht isoliert von der Nation, die sie erzeugt hat, stehen. Sein Interesse am Volk als lebende Gemeinschaft führte zur Behandlung der verschiedenen Werte als Ausdruck des nationalen Charakters. Nach Dubnow kann man den Charakter und Status eines Volkes nur durch seine historische Entwicklung erkennen, um aber die nationale Geschichte zu verstehen, muß man das Volk als lebendige Gemeinschaft sehen.

Man kann Dubnows Ansatz als ergänzende Perspektive zu den Vätern der modernen jüdischen Geschichtsschreibung sehen. Man kann ihn aber auch als Reflektion der sozialen Erschütterungen dieser Zeit und als Ergebnis des Versuchs, eine jüdische Bewegung mit sozialen Wurzeln und historischen Inhalten zu gründen, verstehen.

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