Die rote Kuh

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Parascha 386. Ansprache für Freitag, den 1. Juli…

Von Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Der kommende Schabbat heißt nach dem Wochenabschnitt aus dem 4.  Buch Moses schlicht „Satzung“ (Chukat). Denn der Abschnitt beginnt mit der sonderbaren Satzung über die rote Kuh (Para Aduma). Mit der Asche einer  solchen Kuh wurden in biblischen Zeiten Reinigungsriten vorgenommen (Num 19, 1 ff.). Kam jemand mit einem Toten in Berührung, so galt er als hochgradig unrein und wurde vorübergehend aus der Gemeinschaft der Lebenden ausgeschlossen.

Priester traf ein solcher Ausschluss besonders hart, weil sie in diesem Zustand keine heiligen Opfergaben mehr genießen durften. Zur Reinigung von der Totenunreinheit war die folgende Prozedur vorgesehen: Ein Priester schlachtete und verbrannte eine ganz und gar rote Kuh, dann setzte er rötliches Zedernholz und roten Farbstoff zu ihrer Asche hinzu und löste diesen hochroten Stoff in Quellwasser auf. Mit dieser blutähnlichen Lösung besprengte er sodann den Totenunreinen. So sollte vermutlich die Ausbreitung der Leichenblässe vermieden werden.

Diese Reinheitsvorschrift wird aber vollends absurd, wenn man die Folgen der rituellen Handlung für das Reinigungspersonal in Rechnung stellt. Der reinigende Priester und jeder andere, der mit diesem so genannten „Entsühnungswasser“ (Mei Chattat) in Berührung kam, wurden  ihrerseits unrein. Wie ist es aber möglich, dass die gleiche Lösung den Unreinen reinigt und den Reinen verunreinigt (Metaher HaTmeim UMetame HaTehorim)? Wegen dieses Widerspruchs galt die Vorschrift in der jüdischen Tradition als Musterbeispiel einer unverständlichen göttlichen „Satzung“ (Chok).

Sogar König Salomon, der weiseste aller Menschen, musste passen. Seinen Spruch: „Dies alles hab ich mit Weisheit geprüft, ich dachte, ich würde es ganz ergründen, aber es blieb fern von mir“ (Koh 7, 23) legten die jüdischen Schriftgelehrten folgendermaßen aus: „Ich suchte alles zu erforschen, selbst den Abschnitt, welcher von der roten Kuh handelt, wollte ich ergründen, ich wollte weise werden, allein die Weisheit blieb fern von mir“ (rKoh z. St.). Auch die Schriftgelehrten wurden mit dieser Gesetzesvorschrift in Verlegenheit gebracht. Einst, so wird erzählt, verspottete ein Heide einen berühmten Rabbi: „Die Dinge, die ihr treibt“, sprach er, sehen wie Zauberei aus. Da bringt man eine Kuh, schlachtet sie, verbrennt sie, zerstückelt sie und nimmt ihre Asche, um damit einen, der sich an einer Leiche verunreinigt hat, zwei- oder dreimal zu besprengen und man sagt zu ihm: Du bist nun rein!“ (rBam 19, 8). Der Rabbi konterte mit den Weihwasserwedeln und Spritzgefäßen der anderen Religionen. „Nachdem der Heide fort war, so fährt die Geschichte fort, „sprachen seine Schüler zu ihm: Diesem hast du mit einem Strohhalm verdrängt, was gibst du uns für eine Erklärung! Er antwortete: Nicht der Tote verunreinigt und nicht das Wasser reinigt, sondern es ist eine göttliche Vorschrift, die kein Mensch übertreten soll

Im Grunde genommen weiß also auch der Rabbi keine Antwort und zieht sich auf den Befehl Gottes zurück. Befehl ist Befehl! – und wir müssen gehorchen, auch wenn wir nicht verstehen (bJom 67b). Soviel Hörigkeit wollten  sich die  jüdischen Philosophen nicht gefallen lassen. Sa’adja Gaon, der Vater der jüdischen Philosophie, hatte eine genial einfache Erklärung für die paradoxe Wirkung des Entsühnungswassers parat: es wirkt eben wie eine gefährliche Arznei – den Kranken macht es gesund, den Gesunden macht es krank (Emunot III, 10, Nr. 8). Was man immer von dieser Gebotsbegründung halten mag, es ist jedenfalls richtig, nach Gründen zu forschen, denn bei näherer Betrachtung offenbart die Satzung der roten Kuh, ein spirituelles Grundprinzip des Judentums.

Die Satzung verlangt vom Priester, der sich am meisten vor ritueller Verunreinigung in Acht nehmen muss, dass er sich durch die Reinigung des Unreinen, selber der Verunreinigung aussetzt. Selbst wenn der Hohepriester auf dem Weg zum „Hochamt“ des Versöhnungstages war, das er nur im Zustand absoluter ritueller Reinheit ausüben durfte, und unterwegs zufällig auf eine unbestattete Leiche stieß (Met Mizwa), hatte er die unbedingte Pflicht sie beizusetzen, auch wenn er sich dabei zwangsläufig verunreinigen musste und folglich dienstuntauglich wurde! Die Satzung lehrt also, dass Priester, allgemeiner, religiöse Amtsträger, keine Berührungsängste haben dürfen, sie müssen sich der Unreinheit aussetzen, um die Unreinen wieder in die Gemeinschaft zurückzuholen.

Die ostjüdischen Frommen, die Chassidim, hatten für diese Haltung eine kabbalistische Formel: „Hinabsteigen, um zu heben!“ (Jerida LeZorech Alija). Anders als viele elitäre Rabbiner mieden die chassidischen Meister nicht den Umgang mit einfachen Leuten und duldeten sogar verschriene Sünder in ihrem Kreis. Dazu pflegten sie ein Gleichnis zu erzählen. Einst wollte ein König seinen verwöhnten Jungen mit den Härten des Lebens bekannt machen und er schickte ihn für einige Zeit aufs Land. Der Junge gewöhnte sich rasch ein und vergaß seine edle Herkunft. Nach einer Weile schickte der König nach seinem Sohn. Seine Gesandten trafen ihn in der Dorfschenke mit den anderen Bauern an, doch der Prinz verstand ihr Anliegen nicht. Der König schickte wieder und wieder nach ihm – vergeblich. Erst als seiner Diener begriffen, dass sie ihre Livree ablegen und im Dialekt sprechen  müssten, konnten sie mit dem verlorenen Sohn ins Gespräch kommen und allmählich wieder zu seinem Vater zurückführen. Ebenso muss sich der Reine in unreine Verhältnisse herablassen, um die verlorenen Seelen zur Umkehr zu bewegen. Gott hat es vorgemacht, im 3. Buch Moses heißt es: dass er mit dem Volk wohnt, inmitten seiner Unreinheit (HaSchochen Itam Betoch Tumotam, Lev 16, 16).

Radio Schalom. Sendung des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern auf Bayern 2, Freitag um 15:05 Uhr