Israels Großkopfete griffen in der Abenddämmerung auf breiter Front an. Der Präsident in Deutschland, der Premierminister mit einem riesigen Gefolge in Polen, der Außenminister in Ungarn, sein Vertreter in der Slowakei, der Kultusminister in Frankreich, der Informationsminister bei den UN und sogar das drusische Likudmitglied Ayoob Kara in Italien. Sie waren alle dort, um Reden über den Holocaust zu halten…
Während die Welt sich zum Holocaust-Gedenktag in betroffener Gestik erging und freundliche Worte für die israelischen Besucher fand, warnt Gideon Levy in haArez davor, hinter schwülstigen Reden und Solidaritätsbekundungen die Dringlichkeit gegenwärtiger Probleme zu übersehen. Der 27. Januar mag ein Segen für Israels Propaganda gewesen sein, der Effekt ist aber schnell vergessen.
Am vergangenen Mittwoch war der Internationale Holocaust-Gedenktag. Eine so eindrucksvolle PR-Tournee hat es schon lange nicht gegeben. Ich weiss nicht, ob überhaupt jemals soviele Minister über den ganzen Globus verteilt waren. Der Zeitpunkt dieser ungewöhnlichen Bemühungen ist allerdings nicht zufällig: wenn die Welt über Goldstone spricht, reden wir über den Holocaust, um den Eindruck (von Goldstones Bericht) zu verwischen. Wenn die Welt über Besatzung redet, reden wir über den Iran, als ob wir sie vergessen wollen.
Doch es wird nicht viel helfen. Der internationale Holocaust-Gedenktag ist vergangen, auch die Reden werden bald vergessen sein, und die deprimierende Realität des Alltags wird bleiben. Israel wird ihr nicht entkommen – und gut dastehen tun wir auch nicht.
Am Vorabend seiner Abreise sprach Premierminister Netanyahu noch in Yad Vashem. „Es gibt Böses in der Welt“ sagte er, „Böses muss gleich zu Anfang vernichtet werden. Einige Leute versuchen die Wahrheit zu leugnen.“ Hochtrabende Worte, besonders wenn man bedenkt, dass dieselbe Person einen Tag zuvor, fast im selben Atemzug also, ganz andere Worte sprach – üble Worte – die sofort gelöscht werden sollten; Übles, das Israel zu verbergen versucht.
Netanyhu sprach von einer neuen „Immigrationspolitik“, die durch und durch von Übel ist. Böswillig warf er Gastarbeiter und arme Flüchtlinge in einen Topf und warnte, dass sie alle Israel gefährden, unsere Löhne verringern, unsere Sicherheit schädigen, uns in ein Dritte-Welt-Land verwandeln und uns Drogen bringen.
Er unterstützt eifrig unseren rassistischen Innenminister, Eli Yishai, der die Migranten als diejenigen ansieht, die Krankheiten verbreiten wie Hepatitis, Tuberkulose, AIDS und weiß Gott noch was.
Keine feierlich getragene Rede zur Schoah wird solche Hetze gegen Migranten auslöschen. Keine Gedenkrede wird diese und Verleumdungen und diese Fremdenfeindlichkeit, die in Israel nicht nur auf der extremen Rechten wie in Europa, sondern in der gesamten Regierung ihr Haupt erhebt, übertönen.
Wir haben einen Premierminister, der über das Böse redet, während er einen Zaun baut, der verhindern soll, dass Kriegsflüchtlinge an Israels Tore klopfen. Ein Premierminister, der über das Übel spricht, und seit vier Jahren an einem Verbrechen wie der Blockade von Gaza beteiligt ist und so 1,5 Millionen Menschen in erbärmlichen Verhältnissen hält. Einen Premierminister, in dessen Land Siedler unter dem Slogan „Alles hat einen Preis“ Pogrome gegen unschuldige Palästinenser durchführen lässt, ohne dass der Staat etwas dagegen unternimmt.
Dies ist ein Premierminister eines Staates, der Hunderte linker Demonstranten, die gegen die Ungerechtigkeit der Besatzung und den Gazakrieg protestieren, verhaften lässt, während man den Rechten, die gegen die Auflösung (der Siedlungen im Gazastreifen) protestierten Massenpardon gewährt.
In seiner Rede setzte Netanyahu das Deutschland der Nazis mit dem Iran der Fundamentalisten gleich – es war nicht mehr als billige Propaganda und ein „Degradieren des Holocaust“. Der Iran ist nicht Deutschland, Ahmedinejad ist nicht Hitler und sie gleichzusetzen, ist nicht weniger falsch, als wenn jemand israelische Soldaten mit der Wehrmacht gleichsetzt.
Der Holocaust darf nicht vergessen werden, es ist aber nicht nötig, ihn mit irgendetwas zu vergleichen.
Israel muss sich an den Bemühungen beteiligen, ihn im Gedächtnis zu behalten, aber während es dies tut, muss es mit sauberen Händen da stehen, sauber von üblem Tun. Es könnte sonst der Verdacht hochkommen, dass es zynisch das Gedächtnis des Holocaust missbraucht, um andere Dinge zu verdecken.
Es wäre wunderbar gewesen, hätte Israel an diesem internationalen Tag des Gedenkens sich die Zeit genommen, sich selbst zu prüfen. Bei dieser Gelegenheit könnten wir auch fragen, ob die hohen Antisemitismuswerte in aktuellen Statistiken vielleicht mit den Bombardements von Gaza zusammenhängen. Wie schön wäre es gewesen, wenn an diesem Internationalen Holocaustgedenktag Netanyahu eine neue Politik der Integration für die Flüchtlinge erklärt hätte, anstelle die der Vertreibung oder wenn er die Blockade aufgehoben hätte.
Tausend Reden gegen den Antisemitismus werden nicht die Flammen auslöschen, die die Operation „Gegossenes Blei“ entzündet hat. Sie bedrohen nicht nur Israel, sondern die ganze jüdische Welt. Solange Gaza unter Blockade steht und Israel in seiner institutionalisierten Fremdenfeindlichkeit verharrt, bleiben Holocaustreden hohl und nichtssagend. Solange das Böse hier zu Hause wuchert, wird kaum jemand unsere Moralpredigt akzeptieren, selbst wenn er sie noch so verdient hat.
Gideon Levy ist israelischer Journalist aus Tel Aviv und arbeitet für die Tageszeitung Ha’aretz unter anderem als Chefredakteur der Wochenendbeilage.
Übers. Ellen Rohlfs
Menachem Stern, ein Israeli, überlebte den Holocaust dank einer polnischen Familie, die ihn versteckt hat. Seine Eltern wurden von Oskar Schindler gerettet. 65 Jahre danach kämpft er mit allen Kräften gegen Netanjahus „Ausräumung fremder Elemente“ mittels des sogenannten „Infiltranten-Gesetz“. Stern sagt, wer selbst ein Flüchtling war, der kann so etwas nicht akzeptieren. Im Süden von Tel Aviv laufen zur Zeit täglich Verhaftungsmaßnahmen gegen „Infiltranten“.
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