Jüdische Stadtgeschichte Bayerns: „Die Juden von Augsburg“ von Dr. Richard Hipper (1926)

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Erneut kommt ein christlicher Autor zu Wort, der auf der Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit, Mitte der 1920er Jahre, aber auch gewisser damaliger Tendenzen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft eine Facette jüdischen Lebens in Bayern bearbeitet hat, nämlich die Judengeschichte der Stadt Augsburg…

Von Robert Schlickewitz

Die Schwabenmetropole ist wesentlich älter und sie war auch lange Zeit bedeutender als die bayerische Landeshauptstadt München. Ihre Synagoge konkurriert heute wieder in Bezug auf ihre Schönheit mit den jüdischen Sakralbauten von Toledo und Pilsen. Die Juden der ehemaligen Reichsstadt Augsburg haben eine ebenso lange wie bewegte, häufig jedoch traurige, Geschichte zu verzeichnen.

Unten stehender Originaltext stammt von dem damals in München lebenden, aus Württemberg stammenden Richard Hipper. Dieser wurde 1859 in Weilheim a. d. T. geboren und verstarb 1930 in München; er war der Bruder des im Ersten Weltkrieg als Konteradmiral dienenden, mit hohen Auszeichnungen versehenen und in den Adelsstand erhobenen Franz (von) Hipper (1863-1932). Die Bayerische Staatsbibliothek führt in ihrem Onlinekatalog fünf Werke von Richard Hipper auf, die zwischen 1923 und 1978, also zum Teil posthum, veröffentlicht wurden. Sie weisen ihren Autor als einen Spezialisten für mittelalterliche und frühneuzeitliche Urkunden bzw. für die schwäbische Heimatgeschichte aus. Eine andere Internetquelle (Scientific Commons) nennt Angaben zur Dissertation Hippers, die dieser bei der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eingereicht hatte. Als Druckjahr wird 1923 genannt – der Historiker war also bereits über sechzig Jahre alt(!), als er seinen akademischen Titel erwarb. Die Doktorarbeit ist mit „Die Reichsstadt Augsburg und die Judenschaft von Beginne des XVIII. Jahrhunderts bis zur Aufhebung der reichsständischen Verfassung (1806)“ betitelt – demnach konnte Hipper bei dem hier wiedergegebenen Text zumindest teilweise auf seine Dissertation zurückgreifen. Antiquarisch erzielen seine Werke heute wegen ihrer wohl kleinen Auflage und der Exklusivität ihrer Themen stolze Preise.

Der vorliegende Beitrag Hippers ist in mehrfacher Hinsicht von Interesse. Bereits in seinen Einleitungssätzen, die unter dem Eindruck eines besonders in Bayern seit Ende des Ersten Weltkrieges wieder zunehmenden und von Jahr zu Jahr aggressiver werdenden Antisemitismus‘ zu verstehen sind, behauptet er nichts weniger, als dass er den Judenhass für eine Konstante der deutschen bzw. der Geschichte generell, somit für unausrottbar, hält. Charakteristisch für den Autor erscheint zudem ein heute als nicht mehr akzeptabel erscheinendes, ‚übergroßes‘ Verständnis für die eigene, christliche, deutsche Intoleranz Juden gegenüber bzw. für judenfeindliches Verhalten. Immerhin ist Hipper zu der Einsicht in der Lage, dass dieses Verhalten einen „dunklen Punkt in der Geschichte der christlichen Völker“ darstellt. Handfesten Tadel verdient er andererseits dafür, dass er nicht erkannte, dass die populären Vorwürfe den Juden gegenüber, nämlich Brunnenvergifter, Hostienschänder oder Ritualmörder zu sein, lediglich üble Konstrukte waren, um die Angehörigen der Minderheit scheinbar legal zu berauben bzw. um sich der Schulden bei ihnen zu entledigen. Dass Hipper es zumindest für möglich hält, die Ritualmordbeschuldigungen könnten einen wahren Kern enthalten („So sind also die Vorwürfe in dieser Hinsicht anscheinend doch nicht ganz unbegründet.“), muss für den Erkenntnisstand des Jahres 1926 als geradezu skandalös angesehen werden und kündet von extremer christlicher Ignoranz bzw. von völliger Unkenntnis der jüdischen Religion.

Einen ganz besonders exotischen Gesichtspunkt führt der Historiker ferner an, wenn er in Zusammenhang mit dem alten Christenvorwurf, Jude gleich „Christusmörder“, nach einer Begründung für die allzu rasche Bereitschaft seiner Landsleute von einst sucht, Juden zu ermorden: „Vielleicht, daß auch im deutschen Lande die im altgermanischen Gewohnheitsrechte übliche Blutrache, die dem Verwandten eines Ermordeten die Pflicht auferlegte, an der Sippschaft des Mörders, auch an Nichtbeteiligten, Rache zu nehmen, einen mächtigen Antrieb zu den Judenverfolgungen abgab.“ Das klägliche Versagen einer moralischen Instanz wie der Kirche oder des weltlichen Staates aufzuzeigen oder gar zu verurteilen, ist Hipper nicht in der Lage. Dafür schätzt und pflegt er Stereotypen – so sind Juden für ihn generell „reich“, oder sie sind vertrags- oder wortbrüchig, betrügerisch, feindselig, schlau, bzw. von „ausgeprägtem Handelssinn“.

Auf einige weitere Aspekte sei hingewiesen. – Es wird hier deutlich, woher die nationalsozialistische deutsche Propaganda nur wenige Jahre nach Veröffentlichung des Hipperschen Aufsatzes ihre aus der Insektenwelt stammenden, abschätzigen Bezeichnungen für Juden („Ungeziefer“) bezog – aus den mittelalterlichen Überlieferungen und Urkunden. Hipper nennt hierfür als Beispiel das Schimpfwort „Lausjuden“, mit dem christliche Kaufleute im 15. Jahrhundert ihre jüdische Konkurrenz vor dem Augsburger Stadtrat in Verruf zu bringen trachteten. Ebenso muss man unwillkürlich an das Schlagwort von der „Endlösung der Judenfrage“ denken, wenn man bei Hipper liest „so mußte man auf neue Mittel sinnen, die Judenfrage zu lösen“.

Wie stark ausgeprägt der klerikale Hass gegenüber den Juden im 18. Jahrhundert gewesen sein muss, geht aus einem von dem Historiker zitierten Dokument hervor, in dem die Oberin eines Klosters sich ganz massiv gegen in Kürze einziehen sollende jüdische Nachbarn ausspricht und dabei auch noch von einem Rechtsberater Unterstützung erhält. Sogar der Gottesdienst scheint bedroht durch die physische Nähe der jüdischen ‚Gottesfeinde‘. Keine Spur von christlicher Nächstenliebe oder anderen humanistischen christlichen Werten, die doch sonst so gerne wortreich und lauthals propagiert werden, ist hier zu entdecken, ganz im Gegenteil. Ähnlich unchristlich geht es auf dem außerhalb Augsburgs gelegenen jüdischen Friedhof zu, der aus purer Schikane und Provokation als Weidegrund für die Kühe christlicher Bauern der Umgebung herhalten muss. Auf pietätlosere Weise hätten die schwäbischen Katholiken ihre Verachtung wohl kaum zum Ausdruck bringen können. Nicht minder erschreckend und beschämend mutet an, wie alt die christliche Tradition des Schändens jüdischer Friedhöfe ist – siehe hierzu die Ausführungen Hippers.

Erfreulicherweise kommen auch positive Leistungen der Augsburger Juden, als Hoffaktoren und Heereslieferanten, zur Sprache und gegen Ende seines Aufsatzes findet Hipper durchaus auch verständnisvolle und versöhnliche Worte für die Angehörigen der Minderheit.

Eine große Enttäuschung hingegen stellt sein Schlussteil dar. Völlig falsch ist die Behauptung des Historikers, ab 1806 wären die Juden den Christen „in jeder Beziehung gleichgestellt“. Während Christen damals in Bayern beliebig ansiedeln durften, galten für Juden strenge Beschränkungen, besonders ab 1813, als der sog. Matrikelparagraph eingeführt wurde. Letzterer bestimmte, dass nur der jeweils älteste Sohn eines Juden am Platz seiner Geburt leben bleiben durfte, während er alle seine Geschwister zur Auswanderung zwang. Bekanntlich hielt sich auf diese Weise die Anzahl der Juden in Bayern bis zur Entstehung des Deutschen Reiches 1871 auf dem konstanten Betrag von etwa 50 000 Personen.

Als Historiker von Rang hätte Hipper dies wissen müssen. Möglich, dass er gewissen äußeren Zwängen gehorchend diesen wesentlichen Gesichtspunkt bayerisch-jüdischer Geschichte unterdrückte. Möglich, dass er von sich aus bemüht war, den Ruf Bayerns nicht ‚unnötig‘ zusätzlich zu belasten.

Die Gleichberechtigung der bayerischen Juden war erst 1871 mit der Eingliederung Bayerns in das Deutsche Reich erreicht, um Jahrzehnte später als in vielen anderen Teilen Europas.

„Die Juden von Augsburg. Eine Kulturbild aus der Judengeschichte der Reichsstädte.

I.

Wichtige Probleme im Menschen- und Staatsleben reichen in der Regel weit zurück. Sie gehen nie unter, werden zeitweise wohl von anderen vordringlicheren verdrängt und verschwinden dann, vielleicht sogar auf Jahrhunderte; aber sie tauchen doch immer wieder auf, wenn auch meist in veränderter Form. Zu ihnen gehört ohne Zweifel auch die Judenfrage, die, wie wir alle wissen, gerade in unseren Tagen die öffentliche Meinung stark in Anspruch nimmt. Das ganze Mittelalter hindurch beschäftigte sie schon die Kaiser und Fürsten, namentlich aber Bürgermeister und Räte der Freien Reichsstädte. Ja, selbst im Leben des Privatmanns spielte sie häufig eine nicht unbedeutende Rolle. In einer so stolzen und mächtigen Handelsstadt wie Augsburg, dem späteren Wirkungskreis der Fugger und Welser, wuchs sich die Judenfrage aber geradezu zu einem wirtschaftlichen Problem aus, das denen, die über das Wohl und Wehe der Einwohner zu wachen hatten, manchmal schwere Sorgen bereitete. So ist es eigentlich nicht zu verwundern, daß häufig ein starker antisemitischer Zug durch das Augsburger Rathaus ging und sich dort eine Judenfeindschaft einbürgerte, die zur Zeit des allgemeinen Niederganges nach dem Dreißigjährigen Kriege ihren Höhepunkt erreichte und dabei oft groteske Formen annahm. Wir in unserer immerhin toleranten Zeit pflegen dann solche Ereignisse mehr oder minder als lächerliche Possenspiele anzusehen. Für diejenigen allerdings, die es anging, waren es meist ernste Tragödien.

Ich möchte nun an Hand der bestehenden Verhältnisse in der alten Reichsstadt Augsburg ein kleines Bild von dem Leben und der Behandlung der Juden in den Reichsstädten geben. Denn das Auffallende ist, daß sich in solchen Orten fast überall die gleichen Gesetze und Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung nachweisen lassen. In jeder Stadt, sei es Nürnberg oder Regensburg, Ulm oder Basel, Straßburg oder Worms, kommen zwar andere Namen, andere Ereignisse vor, alle aber beherrscht ein und dasselbe Prinzip des Kampfes gegen das Judentum. Die Archive solcher ehemaliger Reichsstädte bieten noch heute ein umfangreiches Quellenmaterial dafür.

Das Mittelalter pflegte bei seiner fast ausschließlich religiösen Einstellung naturgemäß auch die Judenfrage von diesem Standpunkte aus zu betrachten. Auf diese Weise kam man zu dem Ergebnis, daß die Juden die geschworenen Feinde des Christentums seien, die Tag und Nacht darüber nachdächten, wie sie dasselbe vernichten könnten, In Augsburg zum Beispiel kargte man daher nicht mit den Worten wie ‚das von Gott selbst verlassene Volk, die Christusmörder‘ usw. Trotzdem konnten die Juden, wenigstens in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters, innerhalb der Städte noch ein leidliches Leben führen. Freilich waren und blieben sie stets Fremde. Zusammengepfercht in einem Ghetto, gewöhnlich ‚Judengasse‘ (in Augsburg ‚Judenberg‘) genannt, lebten sie in vor Schmutz starrenden Häusern ein freudloses Dasein dahin. In Augsburg und anderen Reichsstädten wurde dieser Teil der Stadt in den frühesten Zeiten sogar durch feste Tore, die nachts geschlossen wurden, von den übrigen Straßen und Plätzen, wo die christliche Bevölkerung wohnte, abgetrennt. Damit war also gewissermaßen zum Ausdruck gebracht, daß man keine Wohngemeinschaft mit den Juden innerhalb der Mauern der Stadt haben wolle. In den öffentlichen Bädern und Vergnügungslokalen, an denen in den mittelalterlichen Städten kein Mangel herrschte, waren sie vielfach gröblichen Insulten ausgesetzt. In Augsburg fühlten sich die Besucher dieser Orte geradezu beleidigt durch die Anwesenheit der Juden, so daß im Jahre 1290 der Magistrat zum Bau eines jüdischen ‚Bad- und Tanzhauses‘ schritt, um den ständigen Streitereien, verschiedentlich auch vorgekommenen Raufhändeln ein Ende zu machen. ‚Am Rabenbad‘ wird diese Gegend in der Stadt noch heute genannt, und die wenigsten ahnen, daß diese Bezeichnung eigentlich soviel als ‚am Bad der Rabbi‘ heißen soll. Derartige Vorkommnisse beweisen zur Genüge, auf welch gespanntem Fuß schon in so frühen Zeiten Juden und Christen miteinander standen. Größere Ausschreitungen gegen die Juden kamen aber vor dem zwölften Jahrhundert im allgemeinen nicht vor. Dann aber folgten im Mittelalter Zeiten, in denen wahre Treibjagden auf die Juden veranstaltet wurden. Die Periode der Kreuzzüge und der Pest in Deutschland war wohl die schrecklichste, die die jüdische Rasse jemals überstehen mußte. Während zum Beispiel in Speier, Worms, Mainz und in der Augsburg benachbarten Reichsstadt Ulm die Juden von der Bevölkerung so heftig verfolgt wurden, daß sie sich in ihre Häuser einschlossen und dieselben über ihrem Kopfe anzündeten, um den fürchterlichen Martern und Drangsalen der fanatisierten Einwohnerschaft zu entgehen, während man in der herzoglichen Residenzstadt München gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts an die 180 Juden in ein Haus zusammentrieb und dasselbe in Brand steckte, während zur selben Zeit ein fränkischer Adeliger namens Rindfleisch sich als Gottgesandter ausgab und namentlich im Frankenlande überall den Judenmord predigte, schützte die Reichsstadt Augsburg merkwürdigerweise ihre jüdischen Einwohner, die damals im dreizehnten Jahrhundert einen nicht unbeträchtlichen Bevölkerungsanteil ausmachten. Die Juden erkannten diese anscheinend besondere Huld und Gnade der Augsburger dankbarst an, indem sie sich erboten, den westlich gelegenen Abschnitt der eben erst erneuerten Stadtmauer ‚in der Höhe und Dicke, wie ihnen selbige von den beiden Stadtpflegern angezeigt werden würde‘, im Verlaufe von vier Jahren auf ihre Kosten zu erbauen. Dieses Anerbieten ist ein Beweis dafür, wie reich die Juden Augsburgs damals schon gewesen sein müssen.

In diesen Jahrhunderten wäre der jüdische Bevölkerungsteil vielleicht untergegangen, wenn sich seiner nicht die Fürsten, vor allem die Kaiser, angenommen hätten. Mit diesen standen die Juden sich nämlich ausgezeichnet vermöge ihres Geldes, das die Kaiser bei ihren Unternehmungen recht gut brauchen konnten. Friedrich I. Barbarossa (1152-1190) nahm sie zuerst in seinen Schutz auf gegen Entrichtung einer gewissen Kopfsteuer, die man, je nach der mehr oder minder kritischen Lage des Reiches, vergrößerte oder verringerte. So wurden die Juden die ‚Kammerknechte‘ des Kaisers. Bald machten sich auch die Städte diese Einrichtung zunutze und zwangen die Juden, für ihre Duldung innerhalb der Stadtmauern bestimmte Abgaben zu leisten. Die hierzu nötigen Privilegien waren ja vom Kaiser leicht zu erreichen. In Augsburg zum Beispiel zahlten die Juden seit Ludwig dem Bayern (1314-1347) zusammen etwa 300 Pfund. Derartige Maßnahmen zeigen, daß die bisher nur von Einzelpersonen propagierte Judenfeindlichkeit nunmehr auch bei der Obrigkeit Platz griff und dieselbe gewissermaßen anerkannte und legalisierte. So kann es nicht weiter wundernehmen, daß mit dem Beginne des fünfzehnten Jahrhunderts die Judenverfolgungen sich gewaltig mehrten, vor allem aber auch durch die Obrigkeit methodisch in Szene gesetzt wurden, während sie bisher doch nur von einzelnen Privatpersonen, wie jenem Ritter Rindfleisch oder dem Bauern Armleder aus dem Nassauischen, betrieben worden waren. Der Verdacht der Hostienschändung und der Brunnenvergiftung gaben in der Zeit des Schwarzen Todes und der Geißlerfahrten (1348/49) den Auftakt zu behördlichem Vorgehen gegen die Juden. Die Stadt Basel zum Beispiel wandte damals ein ganz raffiniertes Verfahren an, um sich der Juden zu entledigen. Man setzte nämlich ganze Tonnen voll eingefangener Juden auf den Rhein, übergoß sie mit Öl und zündete sie hierauf an.

In Augsburg machte man es einfacher: man verbrannte damals viele Juden auf dem Scheiterhaufen oder schlug sie kurzweg tot. Interessant ist dabei auch der Fall eines Augsburger Juden, der damals sich mit einer Christin abgegeben hatte und deshalb aufgehängt wurde. Die Frau mit der er verkehrt hatte, sollte lebendig eingemauert werden, kam jedoch auf Fürbitte des Markgrafen Ludwig von Brandenburg mit der Strafe der Ausweisung davon. Ihrer Magd, die die Kupplerin gespielt hatte, wurde die Zunge ausgeschnitten und sie hierauf der Stadt verwiesen. Dies ist wahrlich ein Zeugnis der entsetzlich grausamen Justiz damaliger Zeiten! Die Stadt machte übrigens bei diesen Metzeleien im vierzehnten Jahrhundert ein gutes Geschäft; denn die nunmehr leerstehenden Judenhäuser gingen an den Stadtfiskus über, ebenso Geld und Gut. Es ist dies übrigens das letzte Mal, daß Judenmorde in Augsburg in großem Stile stattfanden; wenigstens wissen die Chronisten nichts mehr von weiteren derartigen Abschlachtungen zu berichten. In anderen schwäbischen Reichsstädten war dies nicht der Fall. Nördlingen metzelte zum Beispiel noch in den achtziger Jahren des vierzehnten Jahrhunderts seine Juden mit Weib und Kind grausam nieder. Zu Augsburg begnügte man sich in der gleichen Zeit mit einer einmaligen außerordentlichen Steuer von 22 000 Gulden für die Sicherheit der Juden.

Unwillkürlich wird man sich fragen, was denn die Juden verbrochen hatten, daß man sie so hart und grausam verfolgte. Um eine Antwort darauf geben zu können, muß man sich die Mentalität jener Zeit vor Augen halten. Ohne Zweifel sind diese Greueltaten, die sich nicht auf den Verdacht der Hostienschändung, des Ritualmordes, der Brunnenvergiftung u. a. stützen, ein dunkler Punkt in der Geschichte der christlichen Völker. Inwiefern diese Gerüchte von solchen Verbrechen der Wirklichkeit entsprechen, ist schwer nachzuprüfen. Die Anklagen auf Hostienschändung und Brunnenvergiftung fallen natürlich bei näherer Untersuchung in sich selbst zusammen; denn es ist nicht recht zu begreifen, wie die Juden sich geweihte Hostien hätten verschaffen können. Ebenso hätte bei absichtlicher Verbreitung der Pest durch die Vergiftung der Brunnen diese schreckliche Seuche auch vor den Juden nicht halt gemacht, so daß diese selbst die Leidtragenden gewesen wären. Was den Ritualmord betrifft, so gehen die Meinungen darüber sehr weit auseinander. Die katholische Kirche verehrt zum Beispiel am 24. März einen Knaben Simon von Trient, der von den Juden dieser Stadt im Jahre 1475 in die dortige Synagoge gelockt und ritualmäßig ermordet sein soll. Etwas Ähnliches erzählt der Augsburger Historiker Achilles Pirminius Gasser. Am 15. Juli 1560 habe eine Magd den vierjährigen Sohn des Augsburger Bürgers Marx Blattner den Juden zum Kauf angeboten, doch sei das Kind von zwei Bürgern noch zur rechten Zeit erkannt und auf diese Weise gerettet worden. So sind also die Vorwürfe in dieser Hinsicht anscheinend doch nicht ganz unbegründet. In einer Zeit freilich, da nicht nur die Kaiser und Fürsten, sondern auch die kleinen Kinder in religiöser Begeisterung und unter den ungünstigsten Voraussetzungen ihr Leben zum Opfer brachten, um den Türken die den Christen heiligsten Stätten auf den Kreuzzügen zu entreißen, gab man sich natürlich nicht erst die Mühe, die einzelnen Fälle genau nachzuprüfen, sondern der religiöse Fanatismus lieh jedem den Juden nachteiligen Gerüchte ein williges Ohr, zumal man damals in jedwedem Angehörigen der jüdischen Religion einen Nachkommen der ‚Christusmörder‘ sah. Vielleicht, daß auch im deutschen Lande die im altgermanischen Gewohnheitsrechte übliche Blutrache, die dem Verwandten eines Ermordeten die Pflicht auferlegte, an der Sippschaft des Mörders, auch an Nichtbeteiligten, Rache zu nehmen, einen mächtigen Antrieb zu den Judenverfolgungen abgab. Der mittelalterliche gläubige Mensch sah eben in jedem Christen einen geistigen Verwandten des Heilandes, der die Qualen und den Tod des Erlösers an der Sippe der Mörder rächen müsse. Derartiges kann man häufig in Schriften des ausgehenden Mittelalters und des Humanismus, wie zum Beispiel dem ‚Flagellum Judaeorum‘ des getauften Juden Ernst Ferdinand Heß, dem ‚Judenfeind‘ des Georgius Nigrinus, ja selbst in Gutachten juristischer Persönlichkeiten noch im achtzehnten Jahrhundert lesen. Die jüdische Religion hielt man überhaupt für den Inbegriff aller Unfläterei. Ein Augsburger Ratskonsulent schreibt zum Beispiel in einem Gutachten, daß ‚dieses gottverlassene Judenvolk (bei seinem Gottesdienste) unsern allerliebsten Herrn und Erlöser Jesum Christum, auch dessen allerheiligstes Leiden, Sterben und Auferstehen täglich auf das allerschröcklichste verschimpfe, lästere und vermaledeie‘.

Im übrigen darf man allerdings auch nicht verkennen, daß oft Geldgier und Erwerbsneid die Triebfeder zu diesen barbarischen Judenmorden bildeten; denn die jüdische Bevölkerung besaß einen großen Reichtum trotz ihrer nach außenhin zur Schau getragenen Armut. Diese Fülle von Besitz lag aber in der Art und Weise des jüdischen Erwerbslebens. In der Zeit vor dem zwölften Jahrhundert mag ja der Warenhandel vornehmlich in den Händen der Juden gelegen haben. Als sich aber in den Städten die Kaufmannsgilden und die Zünfte zu konstituieren begannen, da gingen die einträglichen Handelschaften der Juden nach und nach an den Kaufherren der großen Reichsstädte über. Von den Zünften, denen jeder angehören mußte, der eine Handelschaft oder ein Gewerbe betreiben wollte, waren die Juden ausgeschlossen, da sie niemals das Bürgerrecht erhalten konnten, das zur Aufnahme in eine Zunft notwendig war. So blieb ihnen zur Fristung ihres Lebens schließlich nur mehr eine Erwerbsquelle übrig: das Verleihen von Geld. Dieses Geschäft galt im Mittelalter als ehrlos, ja es war der christlichen Bevölkerung durch das kanonische Recht sogar verboten, wenn es sich dabei um Zinsnehmen handelte. Gerade dieses letztere erbitterte aber die Leute ganz besonders gegen die Juden; denn diese waren nicht wählerisch im Gebrauche der Mittel, um zu ihrem Geld und den darauf gesetzten Zinsen zu gelangen. Über die erlaubten 10 Prozent gingen dabei die Juden oftmals hinaus; sie forderten oft 100 bis 300 Prozent (namentlich in Frankreich), ja noch mehr, und pfändeten, wenn ihre Schuldner nicht bezahlen konnten, kaltblütig deren beweglichen oder unbeweglichen Besitz. Wir wissen zum Beispiel aus den sehr zahlreich vorhandenen Akten des Augsburger Stadtarchivs, denen diese Zeilen vornehmlich zugrunde liegen, daß in den westlich vor Augsburg liegenden ehemaligen Judendörfern Pfersee, Steppach und Kriegshaber bis oben angefüllte Schuppen voll Bettzeug, Kleidern und anderen Pfandstücken vorhanden waren. Unter solchen Umständen kam es ständig zu Reibereien zwischen den Juden und der christlichen Bevölkerung, die sich in harter Arbeit ihr Brot verdienen mußte, während jene durch den Geldverleih fast mühelos immer reicher und reicher wurden. Um den endlosen Klagen der Bürger zu entgehen, suchte sich der Rat der Reichsstadt die leidige Judenfrage dadurch vom Halse zu schaffen, daß er die Juden nicht mehr innerhalb der Stadt duldete. Am 17. Juli 1438 unterzeichneten die Bürgernmeister, die Stadtpfleger und geheimen Räte das Dekret, demzufolge die Juden innerhalb von zwei Jahren die Stadt endgültig zu räumen hätten. Schon vorher hatte man ihnen den Aufenthalt in der Stadt möglichst zu verekeln gesucht, indem man eine eigene Kleidung vorschrieb, bestehend aus einem gelben Lappen am Hut und einem gleichfarbigem Gürtel um den Leib, so daß jeder Bürger auf der Straße sogleich wußte, wen er vor sich habe, so daß er noch rechtzeitig ausweichen konnte. Diese eigene Kleiderordnung für die Juden war übrigens seit Kaiser Sigismund (1410-1437) allgemein im Römisch-deutschen Reiche eingeführt, aber je nach der Gegend verschieden. In anderen Landstrichen bestand die Kleidung zum Beispiel aus einem schwarzen Rock oder spitzen Hüten; vereinzelt war sogar die Bart- und Haartracht behördlich geregelt.

So zogen also die Augsburger Juden im Jahre 1440 tatsächlich aus der Reichsstadt aus, um sie so bald nicht wieder zu ihrem Wohnsitz zu wählen.

II.

Nachdem die Juden im Jahre 1440 die Stadt geräumt hatten, verlegten sie ihre Wohnsitze meistenteils in Orte, die in der vorderösterreichischen Markgrafschaft Burgau lagen. Sie brauchten da nicht weit zu gehen; denn schon vor den Toren der Reichsstadt begann das burgauische Machtgebiet. Die Orte Kriegshaber und Steppach, teilweise auch Pfersee, gehörten zu demselben. Dort ließ sich die Mehrzahl der Juden nieder. So waren die Augsburger zwar dieselben aus den Mauern ihrer Stadt los geworden, den durch die Austreibung beabsichtigten Zweck, die Bürger vor der ‚usuraria pravitas‘ (Wucher) der Juden zu schützen, hatte der Magistrat doch nicht erreicht. Zum Ärger der geheimen Räte und der Stadtpfleger kamen die Juden auf Schleichwegen, trotz des strengen Ausschließungsgebotes, immer wieder in die Stadt. Schuld daran waren die Ausweisungsdekrete, die einerseits die völlige Ausschließung der Juden enthielten, andererseits aber in ganz besonders dringlichen Fällen doch Ausnahmen zuließen. Natürlich beanspruchten allmählich sämtliche Juden aus den drei Dörfern diese Bevorzugung für sich, zumal sie nach ihrer Vertreibung aus der Stadt in die Dienste hoher und einflußreicher Persönlichkeiten, wie zum Beispiel des Bischofs, getreten waren und für diese Geschäfte in der Stadt zu erledigen hatten. Bald beklagten sich denn auch die Zünfte in sehr bewegten Worten über die zunehmende Konkurrenz jüdischer Geschäftsleute. Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist zum Beispiel ein Gesuch der Augsburger Kaufleute an den geheimen Rat, worin es heißt, ‚daß auf den Eid dieser Lausjuden fast gar nicht zu gehen sei, indem sie das Schwören nicht für verbindlich halten‘ und man daher an allen Ecken und Enden von ihnen betrogen werde. Dies mag allerdings oft der Fall gewesen sein, da die Juden gewohnheitsmäßig alle ihre Verträge, ja selbst die Wechsel, in hebräischer Sprache abfaßten und eine gewisse, wenn auch nach außen hin verschleierte Feindschaft zwischen Juden und Christen doch immer bestand.

Da es also mit der vollständigen Ausschaffung nichts war, die Verhältnisse sich im Gegenteil nur immer verschlechterten, so mußte man auf neue Mittel sinnen, die Judenfrage zu lösen. Es scheint in anderen Reichsstädten die gleiche Kalamität geherrscht zu haben wie in Augsburg; denn unabhängig von einander wurden von den Magistraten fast überall dieselben Maßnahmen getroffen. Diese bestanden darin, daß man den Einlaß derjenigen Juden, die den Behörden als Lieferanten prominenter Persönlichkeiten bekannt waren, doch wieder genehmigte, allerdings unter besonderen Bedingungen. Sie durften nur zu gewissen Toren (in Augsburg dem Gögginger Tor) hereinkommen und mußten vor allem eine bestimmte Einlaßgebühr (in Augsburg 30 Kreuzer) bezahlen. Dieses Einlaßgeld ließen sie allerdings meist aufschreiben, bis eine entsprechende Summe erreicht war, beeilten sich aber auch dann nicht besonders mit der Bezahlung. Deshalb sahen sich die Behörden mehrmals gezwungen, Verkehrssperren für die Juden über die Stadt zu verhängen, bis diese ihren Verbindlichkeiten nachgekommen waren. Als Hauptbedingung wurde aber festgelegt, daß sich jeder in der Stadt beschäftigte Jude überallhin von einem Stadtsoldaten ‚mit aufgepflanztem Obergewöhr‘ förmlich wie ein Gefangener begleiten lasse. Durch diese Bestimmung waren die Juden nun förmlich zu Parias gestempelt, da man sie sogar ihrer persönlichen Freiheit beraubte. Sie nahmen diese Demütigung aber hin, weil sie ja doch wußten, daß ein Protest dagegen nutzlos gewesen wäre und die Hauptsache, in der Stadt wieder öffentlich, wenn auch beschränkt, ihrem Erwerb nachgehen zu können, erreicht war. Ihren Herren aber, in deren Dienst sie standen, wußten sie beizubringen, daß dieses sogenannte ‚Geleit‘ die Würde und das Ansehen ihrer hohen Persönlichkeit schädige. Deshalb mußte der Magistrat auch bei den kaiserlichen und anderen fürstlichen Hofjuden eine kleine Konzession machen. Diese durften sich nämlich ‚ad distinctionem caracteris‘ durch Soldaten ‚ohne Obergewöhr‘ begleiten lassen, auch wurden sie von der Eintrittsgebühr befreit. Natürlich wußten die schlauen Juden die behördlichen Bestimmungen über das Geleit oft genug zu umgehen. Schuld daran war namentlich die Bestechlichkeit der den Juden auf den Fuße folgenden Soldaten, die sich vielfach, wie es in einem juristischen Gutachten aus dem Jahre 1749 heißt, von den Juden ‚umb eine Maß Bier überwinden‘ ließen. Ein drolliges Stücklein leistete sich auch einmal ein reicher Jude aus Pfersee, der Hoflieferant des Herrn Fürstbischofs Klemens Wenzeslaus, Erzbischof von Freising und Regensburg und Kurfürsten von Trier. Er ließ seinen begleitenden Soldaten eines Tages bei Sturm und Regen sechs volle Stunden vor dem Hause des bischöflichen Rentenverwalters, bei dem er zu tun hatte, stehen und schlich sich durch ein Hinterpförtchen fort, während der arme Kerl, bis auf die Haut durchnäßt, wartete und wartete.

Wenn man aber glaubt, daß die Juden nach ihrer Ausweisung in den Städten nie mehr gewohnt hätten, so wäre dies ein großer irrtum. Während der verschiedenen Kriege ließ man, sobald sich Kampfhandlungen in nächster Nähe der Stadt abspielten und die Landbevölkerung vor dem Feind, manchmal auch vor den eigenen Truppen, hinter festen Mauern Schutz suchte, auch die Juden ein. Dann aber gab man ihnen stets zu verstehen, daß man nur der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, ihre Aufnahme zugelassen hatte. Öfters gab es dabei peinliche Auftritte. So richtete zum Beispiel im Jahre 1741 die Oberin des Dominikanerinnenklosters zu St. Katharina an den Rat ein Schreiben, worin es heißt, daß ‚zu unserer größten Bestürzung verlauten will, daß in ein nächst und schnurgrad gegen unserer Kirchen-Sakristei hinüberstehendes Eckhaus … einige Judenfamilien demnächstens hereinziehen … Also haben wir angelegentlichst bitten wollen, Gott und seiner heiligsten Ehr zu lieb sich ohnmaßgeblichst dahin zu interponieren, daß … die Kirchen mit dieser offentlichen Inkonvenienz nit beschweret werden möchte.‘ Das Gutachten des Rechtskonsulenten stimmte in den gleichen Ton ein. ‚Es würde nicht ohne Ärgernis geschehen können, wann diesem von Gott selbsten verworfenen Volk sogar nächst an seinem Hause … eine Wohnung aufzuschlagen gestattet würde, als welches nicht nur zum despect der christlichen Religion gereichen würde, sondern auch dem christlichen Gottesdienst Hindernis geschehen könnte.‘

So engherzig auch die Anschauungen der damaligen Zeit waren, die Juden machten sich nicht allzuviel daraus. Ihnen genügte es, wieder das Aufenthaltsrecht in der Stadt zu besitzen. Im übrigen gingen sie ihren Geschäften nach, wurden aber auch mit der gesamten Bevölkerung zu Schanzarbeiten und dergleichen herangezogen. Viel größere Dienste aber konnten sie den Städten, den Fürsten und Standesherren in diesen Kriegszeiten durch ihren ausgeprägten Handelssinn erweisen. Sie verproviantierten die Reichsstädte und Festungen für den Fall einer Belagerung, für die Fürsten übernahmen sie die Versorgung und Equipierung ihrer Heere. So bildeten sich im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts ganze Handelshäuser, aus lauter Juden bestehend. Die sämtlichen Juden Augsburgs gehörten zum Beispiel während des Spanischen und Österreichischen Erbfolgekrieges bekannten jüdischen Firmen aus Frankfurt als deren Kommissäre an. Verschiedentlich kamen damals kaiserliche Hofjuden wie der Samuel Oppenheimer oder der Joseph Guggenheimer mit einem Stab von Maklern, Aufkäufern u. a. in Augsburg an und begehrten im Namen des Kaisers bedingungslosen Einlaß in die Stadt. Einer der Hauptunterhändler des Oppenheimer, der ‚immediate‘ von diesem abhing, war dazumal der ‚Kriegsoberfaktor‘ David Ullmann aus Pfersee. Über welch riesige Zahlungsmittel diese ‚Oppenheimerische Compagnie‘ verfügte, zeigt der Umstand, daß Ullmann im Jahre 1701 den Auftrag hatte, 20 000 Zentner Mehl, 100 000 Zentner Heu, 160 000 Ster Hafer, 180 000 Zentner Fleisch, 15 000 Maß Wein für die in Oberitalien kämpfende Armee des Prinzen Eugen von Savoyen aufzukaufen. Eine ähnliche Rolle spielte während des österreichischen Erbfolgekrieges (1740 bis 1748) die ‚Mändlesche Compagnie‘ und zur Zeit der Napoleonischen Kriege das jüdische Handelshaus Veit Kaula von Hechingen, dessen Vertreter Jakob Obermayer nach Augsburg kam und dort Heereslieferungen ‚zusammen in Summen von mehr als 100 000 fl.‘, damals ein gewaltiger Haufen Geld, ausführte. So wuchs der Reichtum der Juden immer mehr, während die Wohlhabenheit der Bürger der Städte im gleichen Maße abnahm. Nicht zuletzt trugen daran die ungeheuren Kriegslasten die Schuld, die das achtzehnte Jahrhundert der Bevölkerung auferlegte und die ganz natürlich auch einen sittlichen Verfall der Einwohner mit sich brachten. Die Juden konnten damals nicht mehr genug Gold, Silber und Edelsteine für die eitlen und vergnügungssüchtigen Augsburger Patrizierfrauen herbeischaffen. Daß sich darunter oft auch minderwertiges Material befand, das den unkundigen Abnehmern gegen hohe Preise als echt verkauft wurde, ist eine Tatsache, die durch die in den Archiven befindliche Unzahl von Protesten, Klagen und verzweifelten Anrufen der Obrigkeit von seiten der Betrogenen leider bestätigt wird. Die Jugend stand natürlich den Alten um kein Haar breit nach. Über diese Augsburger jeunesse dorée des achtzehnten Jahrhunderts wurde bitter geklagt, daß sie Sonntags statt in die Kirche vor die Tore ginge, dort von den aus ihren Dörfern herbeigeeilten Juden erwartet werde und bei ihnen ‚Stoff zur Bestreitung ihrer Ausschweifungen gesucht, mit äußerster Bevorteilung gefunden, aber auch das betrübteste Schicksal für sich gebauet und den nagendsten Kummer ihren rechtschaffenen Eltern verursacht habe‘. Und wie die oberen Kreise, so waren die unteren. Es sind viele Fälle bekannt, daß Dienstboten ihren Herrschaften kupferne Kasserollen, silberne Löffel und dergleichen entwendeten, um sie in den Vororten an irgendeinen Juden zu verkaufen. Dadurch kamen diese nicht selten in den Verdacht der Hehlerei. Die Schuld an diesen traurigen Zuständen wurde in recht einseitiger Weise immer den Juden aufgebürdet. Man suchte sie daher stets im Zaume zu halten und durch harte Maßnahmen niemals aufkommen zu lassen. Selbst in ihren inneren Gemeindeangelegenheiten waren sie nicht frei. Die Wahl ihrer Rabbiner, der Aufrufer vor der Thora, der sogenannte Schulklopfer, bedurfte stets der Genehmigung der zuständigen Obrigkeiten. Da die um Augsburg wohnenden Juden unter der gemeinsamen Herrschaft der Reichsstadt, des Bischofs, der vorderösterreichischen Markgrafschaft Burgau und einiger anderer Territorialherren standen, so gab es fast immer Streitigkeiten, nicht nur zwischen der Judenschaft und diesen, sondern auch oft unter den Territorialherren. Diese glaubten nämlich stets, daß einer den andern gegenüber den Juden ausspiele und ihn dadurch benachteilige. Wenn es aber gegen die Juden ging, dann hielten sie immer fest zusammen. Ein solcher Fall spielte sich im Jahre 1722 ab. Westlich von Augsburg liegt noch heute der Friedhof für die um Augsburg ansässige Judenschaft, eingebettet in eine große Ebene. Auf ihn hatten tatsächlich die Bewohner verschiedener Augsburger Vorstädte das ‚jus pascendi‘ oder, wie der deutsche Fachausdruck damals lautete, ‚das Recht des Blumenbesuchs‘. Zwischen den Gräbern weidete also das liebe Vieh und da und dort legte sich wohl eine gemütlich wiederkäuende Kuh auf ein Grab, wobei sie den Stein umwarf oder zerbrach. Um die ‚Abnehm- und Schmälerung‘ dieses eigenartigen Rechtes nicht herbeizuführen, durften die Juden den Friedhof nicht vergrößern, so daß man wegen Überfüllung mit Leichen einen Toten unter der Türe begraben mußte. Der Pöbel von Augsburg stattete ferner nachts gar oft dem von jeder Behausung weit entlegenen Friedhof seinen Besuch ab, grub die Leichen aus und beraubte sie. Daher beschlossen die Juden im Jahre 1722, ein Wächterhäuschen neben dem Eingang zu erbauen und darin einen christlichen Wächter – ein Angehöriger ihrer eigenen Religion war ihnen offenbar nicht gut genug – auf ihre Kosten zu installieren. Das burgauische Oberamt zu Günzburg hatte bereits seine Zustimmung zu dem Bau gegeben. Aber die Reichsstadt, das Domkapitel und die übrigen Territorialherren weigerten sich hartnäckig, ‚um das scandalum, wann im Fall der Krankheit (des christlichen Wächters) das hochwürdige Gut dahin getragen werden müßte, zu evitieren‘, und weil ja das Häuschen doch nur einen Unterschlupf für allerlei wanderndes jüdisches Bettelvolk abgeben würde. So schritten die Juden auf eigene Faust zu dem Bau. Schon war das Haus halb fertig, da erschien eines Tages im Oktober 1722 in der Frühe plötzlich ein Trupp städtischer Soldaten mit einer Anzahl von Maurern und Zimmerleuten aus der jenseits des Lechs gelegenen kurfürstlich-bayerischen Stadt Friedberg. Man umstellte den Bauplatz, und dann gingen die mitgebrachten Handwerksleute daran, das Häuschen einfach niederzureißen. Ohnmächtig und zähneknirschend vor Wut eilten die Juden aus Pfersee und Kriegshaber herbei, konnten aber nichts dagegen tun, da die Stadtsoldaten gerade so aussahen, als wollten sie jederzeit von der Waffe Gebrauch machen. Übrigens kam dem beteiligten Verbande die Sache teuer zu stehen; er wurde vor den Kaiser zitiert, um sich zu verantworten, mußte 150 000 fl. Strafe zahlen und das Häuschen auf seine Kosten wieder aufbauen lassen.

Trotz solcher Schikanen gedieh die Macht des jüdischen Geldes immer mehr, während die Wohlhabenheit der Städte und der Fürsten nach und nach zugrunde ging. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts stak sogar die einst so begüterte Reichsstadt Augsburg bis über die Ohren in Schulden. Die Gläubiger aber waren – die Juden. Es gab damals oft peinliche Situationen zwischen diesen und den städtischen Finanzbehörden. Das Bankhaus Kaula zeigte im Jahre 1803 dem Rate sogar an, daß, wenn ein Wechsel über 113 040 fl. innerhalb einer bestimmten Zeit nicht bezahlt werde, man zur Pfändung schreiten würde. In ihrer Not gaben die Stadtväter schweren Herzens dem sehnlichst erwarteten Wunsche der Juden, ihren ständigen Wohnsitz wieder in Augsburg nehmen zu dürfen, nach, wofür die Juden die Wechsel prolongierten. So zogen sie also wieder in die Mauern ein, aus denen sie vor nicht ganz vierhundert Jahren vertrieben worden waren. Die Bürger freilich waren nicht besonders erbaut über diese schwächliche Haltung des Rates gegenüber den Juden. Berge von Gesuchen und Klagen über angebliche ‚Kippereien und Wippereien‘ jüdischer Geldverleiher und Bankleute liefen tagtäglich bei dem Magistrate ein. Die christlichen Geschäftsinhaber behaupteten, der Judenhandel, der allerdings großartig organisiert war, tue ihren Geschäften Abbruch und vernichte ihre Existenz. Übrigens fühlten sich die Juden bald wieder ganz heimisch in der Stadt. Sie streiften alles Jüdische äußerlich von sich ab, wechselten sogar ihre Namen. Der Jude Hirsch Wolf Levi von Kriegshaber nannte sich zum Beispiel seit seiner Aufnahme in die Stadt Heinrich Levinau. Und dem Juden Arnold Seligmann glückte es sogar, unter der Regierung des ersten bayerischen Königs 1814 in den Adelsstand erhoben zu werden. Er hieß von da ab Arnold Freiherr von Eichthal. Als im Jahre 1806 Augsburg seinen Charakter als Reichsstadt verlor und neben anderen ehemaligen Reichsstädten an die Krone Bayerns überging, wurden die Juden allen anderen Bürgern in jeder Beziehung gleichgestellt. Der jahrhundertealte Druck, der bisher wie ein Alp auf ihnen gelastet hatte, war damit gebrochen, die Ketten, die ihre ganze Lebensgewohnheit eingeschränkt hatten, waren gesprengt. Mit Recht konnte daher im Jahre 1808 die Stadtverwaltung in einer Zuschrift an das Kgl. Bayer. Stadtkommissariat berichten:

‚Nach bürgerlichen Rücksichten ist der Zustand der Juden in Augsburg nicht weniger glücklich als jener der christlichen Untertanen… Sie genießen mit allen übrigen Bürgern gleiche Rechte, Schutz, Sicherheit und Freiheit und tragen als Juden keine größeren Lasten, als jeder andere christliche Inwohner.‘ “

Quelle: „Das Bayerland“, 2. Oktoberheft 1926; Jahrgang XXXVII, 20, S. 607-613

Anmerkung:
Der Text wurde in seiner Originalschreibweise übernommen, Hervorhebungen des Autors (Hipper) kursiv wiedergegeben, auf die Übernahme einer Fußnote mit einer Literaturangabe verzichtet.

Literatur:
Neues Lexikon des Judentums, (Hg.) J. H. Schoeps, Gütersloh/München 1998, Stichwort: Augsburg
G. Römer, Augsburg, in: Deutsch-jüdische Passagen, (Hg.) W. Jasper u. J. H. Schoeps, Hamburg 1996, S. 21-31
https://opacplus.bsb-muenchen.de >Richard Hipper< (aufgerufen im Juni 2009) http://www.amazon.de >Richard Hipper< (aufgerufen im Juni 2009)
http://de.scientificcommons.org/richard_hipper (aufgerufen im Juni 2009)
http://mitglied.lycos.de/stuetzle/buch.htm (aufgerufen im Juni 2009)
http://stuetzle-ahnen.der-coaching-verbund.de/stuetzle/1573.htm (aufgerufen im Juni 2009)

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