In den längst vergangenen Zeiten ohne elektrischen Strom, ohne nennenswerte Kommunikation und ohne Individualverkehr besann sich der europäische Mensch in seiner Freizeit gezwungenermaßen vor allem auf sein kulturelles Erbe, seine Sprache, seine Bräuche und seine Musik. Das im Herzen Europas gelegene Land Bayern kann, wenn schon nicht auf anderen Gebieten, so doch auf dem der Musik mit einer ganzen Reihe auch über seine Grenzen hinaus bekannt gewordener Namen glänzen…
Von Robert Schlickewitz
Ungezählt sind obendrein die Sammlungen und Sammler bayerischen Liedgutes, aber auch die Veranstaltungen, anlässlich welcher bis in die Gegenwart auch älteste Lieder wieder neu belebt werden. Jedoch wird heutzutage nicht mehr ein jedes alte Gesangsstück wiederaufgeführt, denn auch wir Bayern sind inzwischen ‚sensibilisiert‘ und wissen, dass wir uns, beispielsweise mit unserem Antisemitismus oder unserer Fremdenfeindlichkeit, die früher nicht selten Eingang in unsere ‚Gassenhauer‘ fanden, unmöglich machen würden, in einer aufgeklärten Welt.
Umso interessanter ist deshalb der Blick in Bücher, die noch in die Zeit vor der Sensibilisierung fallen und daher das ‚unbereinigte‘ bayerische Wesen in Reim- und Notenform (sozusagen in Reinform) offenbaren.
1869 – das Deutsche Reich wird erst in zwei Jahren entstehen, Bayern ist Königreich und wird noch von seinem ebenso extravaganten wie ganz und gar unüblichen „Märchenkönig“ Ludwig II. regiert, da erscheint in München „Das Bayernbuch“ eines gewissen Joseph Maria Mayer. Der Mann ist kein Unbekannter in eingeweihten Kreisen, denn von diesem urbayerischen Patrioten stammt u.a. das „Münchener Stadtbuch“. Der Untertitel seines „Bayernbuches“ belehrt uns, dass wir es hier mit Geschichtsbildern und Sagen zu tun haben. Einige Themen darin sind: Herkunft und Urgeschichte, „Glaubensboten“, Herrscherbilder, Schlachten, Ritter- und Frauenbilder, Brauchtum, Gerichtsprozesse, die Geschichte berühmter Bauten und, ja, vollkommen unerwartet, „Die Judenverfolgungen in Bayern“.
Die Emanzipation der Juden ist, nota bene, um die Zeit des Erscheinens dieses Buches in Bayern noch nicht vollzogen, zwar mehrfach in Aussicht gestellt und vielfach versprochen worden, aber noch nicht erreicht. Weder König Ludwig I., noch sein Sohn Maximilian II., noch sein Enkel Ludwig II. hatten den Mut besessen diesen in den Niederlanden, den USA und Frankreich bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert vollzogenen Akt des Anstands ebenfalls durchzusetzen, trotz der vielen, vielen Male, in denen diese Monarchen nur zu gerne das Geld ihrer jüdischen Hoffaktoren angenommen haben, um damit ihrer so häufig maroden Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen. Erst 1871, mit Entstehen des Deutschen Reiches, besitzen auch Bayerns Juden die gleichen Rechte wie ihre christlichen Landsleute.
Aber nicht davon soll hier die Rede sein, vielmehr von einem im „Bayernbuch“ abgedruckten „Volkslied“.
Die Juden zu Deggendorf
von Andre Summer.
1337.
Als man zählt dreizehnhundert Jahr
und sieben und dreißig, das ist wahr,
hat sich ein Sach begeben,
zu Deggendorf im Bayerland,
manchem Biedermann bekannt,
das sollt ihr merken eben.
Da sassen der Juden viel mit Haus,
die lebten sträfiglichen,
die machten z’samm ein‘ Bund durchaus,
zuwegen brächten Christi Leib,
das heilige Sakramente;
zu singen ich das schreib.
Ein‘ Anschlag hätten sie gemacht,
ein Christenweib zuwegen bracht,
mit der ha‘n sie paktiret:
sie soll hin geh’n ohn alle Sag‘,
noch heuer gen den Ostertag,
mit Geld ha’n sie es verführet.
Mit ihr ha’n sie es beschlossen wohl,
sie soll ihnen’s g’stohlen bringen,
das wollten sie ihr bezahlen wohl.
Solches thät ihr auch gelingen,
den wahren Fronleichnam sie ja bracht,
und nahm dafür das Gelde
wohl auf die Osternacht.
Als d’Juden das zu Handen bracht,
nahmen sie drüber ein Bedacht,
und ob sie kunten spüren,
ob Christus in wesentlicher G’stalt
im Sakrament wär, oder g’malt.
Der Teufel thät sie verführen,
daß sie alsbald mit einer Ahl‘
mit Grimme drein gestochen;
das Blut rann draus auf diesesmal,
als sie peinlich ha‘n gesprochen,
dazu erschien ein Kindlein klein
auf diesem Sakramente,
und wich vor keiner Pein.
Erst faßten sie auf dieß ein‘ Zorn,
ein Jud mit einem Hagedorn
wollt‘ das haben zerrissen;
wie vast er auf dem Brod umstrich,
das Kind dennoch darvon nicht wich,
über das waren sie geflissen.
Ein Ofen heizten sie mit Feuer,
wollten das thun verbrennen,
und warfen’s drein so ungeheuer,
und thäten nit erkennen,
daß Gott nit schadet heiß noch kalt,
noch andre Pein nunmehre,
dem Allmächtigen Gewalt.
An dem sie auch nit g’nügig waren,
kein Bosheit thäten sie nit sparen,
Gott hat vor ihn’n kein Frieden:
her trugen da der Juden G’noß
Hämmer, Zangen, ein Amboß,
und wollten dieß Brod zerschmieden.
Gott aber in ein’s Kindleins Weis‘
stund von dem Brod nit ferne;
ein Jud nahm es in seinen Mund,
der Christen Himmelspeise,
Maria kam mit großer Klag:
„o weh mein’s lieben Kindes
wohl hin auf diesen Tag!“
Dadurch der Juden Mord brach aus,
ein Wachter der ging für das Haus,
er höret seltsame Märe:
hin ging der Wachter also drat,
und sagt’s den Herren in dem Rath,
daß sie erschracken sehre.
Fünfzig Mannen zur selbigen Stund
die schwuren bald zusammen
auf’s heilig Kreuz ein‘ festen Bund,
im Dorf Schäching mit Namen:
ja wann man bei Sant Martin läut’t,
so sei ein Jeder wohl gerüst,
zu rächen die Schmachheit.
Und als sie erheben wollt die G’fahr,
Herr Hartmann nahm gar eben wahr,
Freiherr vom Degenberge;
dem thät auch solch’s auf d’Juden ant,
Pfleger in der Stadt und auf dem Land
draussen zu Natternberge;
der kam gerüst mit seiner Wehr
für Deggendorfer Pforten,
hinein begehrt er also sehr,
und sprach mit solchen Worten:
„Ihr lieben Burger, laßt mich ein,
ich hilf euch d’Juden dämpfen,
beide, groß und klein“
Alsbald die Juden das vernahmen,
daß ihn’n viel fremder Gäste kamen,
sie griffen zu der Wehre,
und wollten retten sich mit G’walt;
ihr fürgenomm’ner Hinterhalt
der hehlet ihn’n gar sehre.
Sie waren überlegen weit,
Hartmann kam wohl zu Steuer,
und half den Burgern dieser Zeit;
sie steckten an mit Feuer
der Juden Haus gar unerlog’n.
Da kam dieß Himmelbrode
Wohl aus dem Feuer g’flog’n,
Und schwebet ob den Leuten um,
eilf Partikel in einer Summen
wurden allda vernummen.
Ein junger Priester auserkor’n,
wohl aus dem Benedikter Ord’n,
von Niederaltaich herkommen,
dem sich das Sakrament mit Fleiß
in seine Händ‘ ergabe,
das selbig setzt er Gott zur Ehr
wohl in das heilig Grabe
zu Deggendorf wohl in der Stadt,
da es dann mancher Sünder
bisher oft gesehen hat.
Und welcher meint, es sei ein Mär,
der komm‘ dahin ohn all Beschwer,
beseh‘ das heilig Brode,
und nehm daselbst besser Urkund,
und ruf Gott an zur selbigen Stund
an diesem heiligen Orte,
daß ihm verziehen wird‘ sein Sünd
allhie in der Zeit der Gnaden
Maria mit ihrem lieben Kind
behüt vor ewigem Schaden
A n d r e S u m m e r, der Sünden Held,
sammt all mit Brüdern und Schwestern,
daß sie Gott werd’n heimgestellt.
Anmerkungen:
Es werden vier Ortsnamen genannt: Deggendorf, Schäching, Natternberge und Niederaltaich. Deggendorf ist eine niederbayerische Stadt nahe der Mündung der Isar in die Donau gelegen und nennt sich das „Tor zum Bayerwald“; Schäching, heute Schaching oder Altschaching, einst außerhalb der Stadtmauern gelegen, ist zu einem Ortsteil von Deggendorf geworden; Ort und Burg Natternberg liegen wenige Kilometer von Deggendorf entfernt, jenseits der Donau; Niederalteich befindet sich von Deggendorf aus etwa zehn Kilometer donauabwärts und beherbergt eine uralte Benediktinerabtei.
Zum historischen Hintergrund des Liedes
1337 beschuldigte man in Deggendorf die Juden der Hostienschändung. Unter Führung eines Adeligen namens Hartmann (oder Hartwig) von Degenberg überfielen die Christen der Umgebung ein Jahr nach der Beschuldigung (am 30. September 1338) die Juden von Deggendorf und verbrannten sie, bei lebendigem Leib. Um sich ihrer Schulden bei den Juden zu entledigen, hatten sich zuvor von Degenberg, der Landrichter Konrad von Freiberg, der Kämmerer und der Rat von Deggendorf eidlich zu diesem Vorgehen verschworen. Deggendorfs schlechtes Beispiel machte bald Schule, auch im nicht fernen niederbayerischen Straubing (und an anderen Orten) verbrannte man die Juden nur wenig später.
Der zuständige Herzog, Heinrich II. von Niederbayern, verzieh die Untaten in beiden Städten rasch und per Urkunde, denn er profitierte persönlich nicht unerheblich von den Verbrechen, ebenso wie die Städte und die Bürger, denen das Eigentum der Getöteten zufiel. Selbst Plünderer durften ihre Beute behalten. Mit seinem Anteil konnte der Herzog immerhin anderweitig angehäufte Schulden begleichen. Man hatte die Häuser der Juden vornehmlich deshalb in Brand gesetzt, weil dadurch auch Schuldscheine und Registraturen unwiederbringlich vernichtet wurden. Die cleveren Deggendorfer schlugen darüberhinaus noch zusätzlich Kapital aus ihren Untaten, indem sie zum Andenken an die Hostienschändung (durch die ‚bösen Juden‘) ihre Grabeskirche errichteten, und noch bis ins 19. Jahrhundert öffentliche Prozessionen veranstalteten, bei denen die angeblichen Marterwerkzeuge herumgetragen wurden, so jedenfalls die Ausführungen des Historikers K. Geissler.
Gemäß dem „Neuen Lexikon des Judentums“ von Julius H. Schoeps, Stichwort: Deggendorf, hingegen blieben diese, den Judenmord verherrlichenden regelmäßigen Veranstaltungen noch bis 1968 fester Bestandteil des kirchlichen und öffentlichen Lebens der Donaustadt. Tatsächlich jedoch konnte sich erst 1992 die Bistumsleitung dazu durchringen, die Wallfahrt einzustellen. Bis ins letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatten somit die Massen anziehenden, zweifelhaften Zelebritäten Stadt und Bürgern hochwillkommene Einnahmen beschert. Gleichzeitig diente das unheilige Spektakel direkt und indirekt der Aufrechterhaltung antijüdischer Stimmungen und Gefühle in der Region.
Ein mit der Stadtgeschichte wohl vertrauter lokaler Künstler hat kürzlich einen beachtlich weitspannenden Davidstern aus Steinplatten als Umrahmung eines Springbrunnens auf dem zentral gelegenen Deggendorfer Oberen Stadtplatz verwirklichen können und damit ein Zeichen gesetzt. Vom Autor dieses Artikels auf das jüdische Symbol angesprochene Deggendorfer Bürger konnten jedoch mehrheitlich weder Angaben zu dessen Bedeutung noch zur heimischen Judengeschichte machen.
Interessanterweise hält Meyers Großes Konversationslexikon (20 Bände, 6. Aufl.) von 1904 unter seinem Stichwort Deggendorf das Ereignis für erwähnenswert („1337 wurden hier sämtliche Juden ermordet.“) und es nennt auch die „Wallfahrtskirche zum heiligen Grab“, ohne allerdings auf Zusammenhänge hinzuweisen. Ein Jahrhundert später ist man mit seinen diesbezüglichen Informationen in angesehenen deutschen Nachschlagewerken noch zurückhaltender: Die allerneueste Brockhaus Enzyklopädie (in 30 Bänden, 21. Aufl., 2006) verschweigt in ihrem Deggendorf-Eintrag den Judenmord vollständig. Man will sich im neuen, vereinten Deutschland ganz offensichtlich seiner historischen Verantwortung entziehen.
Literatur:
M. Eder, Die „Deggendorfer Gnad“, Deggendorf u.a. 1992
K. Geissler, Die Juden in Deutschland und Bayern bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, München 1976
J. F. Harris, The People speak! Anti-Semitism and Emancipation in Nineteenth-Century Bavaria, Ann Arbor 1994
J. M. Mayer, Das Bayernbuch. Geschichtsbilder und Sagen aus der Vorzeit der Bayern, Franken und Schwaben, München 1869
Neues Lexikon des Judentums, (Hg.) J. H. Schoeps, Gütersloh/München 1998, Stichworte: Bayern, Deggendorf
S. Schwarz, Die Juden in Bayern im Wandel der Zeiten, München 1963/1980
Sämtliche Fragen des „karl-heinz“ kann ich mit klarem ja beantworten. Sogar an der innerstädtischen Kirche Stt. Peter und Paul, im Volksmund als „Grabkirche“ bekannt (und derzeit wegen dringender Sanierung und Restaurierung geschlossen!) findet sich eine Bronzetafel mit den wichtigsten historischen Daten und einer kirchlichen Entschuldigung für die Mordereignisse in der Stadt. In der Kirche finden sich an einer Säule die Ereignisse des Judenmords im Deggendorf des Jahres 1337 – drastisch verkürzt, aber umso ehrlicher – genannt.
Untilgbare, unentschuldbare  Sünde der Kirche ist es, die gnadenlose Deggendorfer Wallfahrt, zynisch „Gnad“ genannt, die mit dem Bau der Kirche nach dem Mord an den unschuldigen Deggendorfer Juden eingeleitet wurde, erst 1992 eingestellt zu haben. Grundlage dafür waren nicht die seit mehr als 150 Jahren stetig heftigeren Proteste von Priestern, Wissenschaftlern und Laien gegen die zunehmend als antisemitisch empfundene Wallfahrt, sondern die Veröffentlichung eines Buches, in dem der Deggendorfer, heute in Braunschweig lehrende Historiker Professor Dr. Norbert Eder die theologische und politische Angreifbarkeit dieser Wallfahrt unmissverständlich aufgriff und als absolut unheiliges Relikt einer unrühmlichen Vergangenheit brandmarkte.
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Sehr geehrte Frau/sehr geehrter Herr Ettenberger,
Ihnen mag das wohl bekannt sein; aber, siehe oben, meine Befragungen auf dem Oberen Stadtplatz nach dem Davidstern und der jüdischen Geschichte unserer Stadt zogen maximal ein „Ja, da war mal was, aber was genau, dürfens mich nicht fragen.“ nach sich.
Mehr Wissen habe ich hier unter meinen Mitbürgern nicht angetroffen.
Dabei lebt in unserer Mitte ein ausgezeichneter Kenner und Fachmann nicht nur der jüdischen Geschichte, sondern auch vieler weiterer Aspekte der Lokal- und Regionalgeschichte, der Publizist und Journalist S. Michael Westerholz. Von im stammen über vierzig Bücher und zahlreiche Artikel u.a. in der Deggendorfer Zeitung.
Kennen Sie ihn?
Hätten Sie nicht auch das Bedürfnis oder Lust über Deggendorf oder Straubing oder Passau zu schreiben? Tun Sie’s! HaGalil und die Leser wird es freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Robert Schlickewitz
Natürlich ist das bekannt. Also ich habs in der Heimatkunde gehört, wenn auch nicht recht verstanden. Schon erstaunlich, wie bekannt Deggendorf in Hagalil ist. Auch hier ist ein Artikel http://www.judentum.org/judenmission/antijudaismus/hostie-1.htm
Mich würde interessieren wie gut die Deggendorfer Schüler und Abiturienten ihre Stadtgeschichte kennen.
Wären sie in der Lage, die oben dargestellten Zusammenhänge richtig wiederzugeben? Wird in Deggendorfer Schulen über die Judengeschichte der Stadt gesprochen?
Wie gut kennen Deggendorfer Lehrer diese Aspekte ihrer Stadtgeschichte?
Hat die Stadt jemals ihre Bürger über ihre Juden aufgeklärt?
Hat die Deggendorfer Zeitung ehrlich darüber berichtet, oder verschweigt man so etwas lieber als unpopuläre ‚Nebensächlichkeit‘?
Liebe Deggendorfer,
beendet Eure Zurückhaltung, teilt Eurem Landsmann mit, was Sache ist.
Herzlichen Dank.
Euer karlheinz
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