Das Problem heißt: Antisemitismus

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Der Antisemitismus, also die im 19. Jahrhundert weltanschaulich verdichtete Form rassistischer Judenfeindschaft, dürfte die einzige Form massenhaft verbreiteter Ressentiments sein, die zu einem weltgeschichtlich einmaligen Verbrechen so nicht gekannten Ausmaßes, der Schoah geführt hat. An diesem industriell und handwerklich betriebenen Mord an sechs Millionen Juden, die vor ihrem Tod bis aufs Blut erniedrigt und nach ihrem grausamen Tod durch die industrielle Nutzung ihrer Leichen ein weiteres Mal geschändet wurden, waren sehr wesentlich Angehörige der damaligen deutschen Eliten beteiligt: Offiziere ohne Ehre, Ärzte ohne hippokratischen Eid, Theologen ohne Erbarmen sowie Juristen ohne Rechtsgefühl…

Micha Brumlik

Diese Einmaligkeit der Schoah, die sie etwa von den Massenmorden der Roten Khmer in Kambodscha unterscheidet, deren im Dschungel aufgewachsene Kindersoldaten mehr als eine Million Menschen erbarmungslos ermordet haben, färbt auf die tragende Weltanschauung und das tragende Ressentiment zurück: den Antisemitismus. Dabei sollte indes nicht übersehen werden, dass es keineswegs nur Antisemiten waren, die an der Schoah mitwirkten und dass es umgekehrt auch Antisemiten gab, die aus welchen Gründen auch immer Juden geholfen haben – nicht nur in Polen.

Alarmismus?

Dennoch ist es auch mehr als sechzig Jahre nach dem Ende des Mordens nur zu verständlich, wenn Angehörige der so einmalig verfolgten Gruppe mit besonderer Empörung, Erregung und auch Angst auf alles, was auch nur im Entferntesten an antijüdische Ressentiments erinnert, reagieren.

Derzeit – so scheint es – feiert der Antisemitismus wieder fröhliche Urstände: In Ostasien, zumal in China wird ein Buch als Bestseller verkauft, in dem die Juden als Ursache der Finanzkrise denunziert werden; in Südafrika äußert sich eine dem ANC angehörende Ministerin judenfeindlich, die Anti-Defamation-League (ADL) publiziert eine Studie, wonach ein auffällig hoher Wert für judenfeindliche Einstellungen gemessen wird; in Deutschland berichtet eine neue Studie, dass mehr als 15 Prozent befragter Jugendlicher aus muslimischen Milieus Juden für «arrogant und habgierig» halten und schließlich hat ein Oberbürgermeisterkandidat der Linkspartei in Duisburg zu einem Boykott israelischer Waren aufgerufen. Das alles schießt zu einem Bild zusammen, das alarmiert und doch Ohnmacht provoziert. Aber wie bedrohlich sind diese Nachrichten wirklich?

Der Erfolg eines antisemitischen Buchs mit dem Titel «Der Währungskrieg» in China – einer Diktatur, in der mit Ausnahme ausländischer Diplomaten, Wissenschaftler und Geschäftsleute keine Juden leben – bedroht allenfalls die chinesische Gesellschaft selbst. In der auch China schüttelnden schweren Wirtschaftskrise scheinen immer weniger rationale Antworten gefragt. Was die südafrikanische Ministerin Fatima Hajaig betrifft: Sie war schon länger als Antisemitin notorisch – das Bekanntwerden der Nachricht beweist alles, aber nicht, dass hier ein neues, bedrohliches Phänomen entsteht. Die Studie der ADL, einer US-amerikanischen Organisation, die sich das Warnen vor antisemitischen Entwicklungen auf der Welt zur Aufgabe gestellt hat: Sie ist wertlos und ohne jeden Informationswert, wenn sie nicht zugleich in einer vergleichenden Längsschnittreihe präsentiert wird: Haben die gemessenen Einstellungen – und nur darum geht es, nicht um judenfeindliche Ausschreitungen – zugenommen? In welchem Zeitraum, in welchem Ausmaß?

So bleiben die deutschen Beispiele: Mehr als 15 Prozent muslimischer Jugendlicher legen antisemitische Einstellungen an den Tag. Die vermeintliche Schreckensbotschaft entpuppt sich bei näherem Hinsehen als gute Nachricht, als ausgesprochene Erfolgsmeldung, bedeutet sie doch im Umkehrschluss, dass 85 Prozent dieser Jugendlichen nicht antisemitisch eingestellt sind. Und das bei einer Population, die, was Arbeitsmarkt und Ausbildung betrifft, in besonderer Weise unter Druck steht und einer schlecht integrierten Unterschicht angehört.

Bisher ist nicht klar, ob diese neue Studie, die muslimische Jugendliche mit anderen Immigranten und ethnisch Deutschen verglichen hat, die Schichtzugehörigkeit systematisch kontrolliert hat, was aber für ein vollständiges Bild unerlässlich wäre. Man darf nämlich davon ausgehen, dass eine entsprechende Befragung unter rein deutschen Unterschichtjugendlichen sogar weitaus ungünstigere Werte ergeben hätte. Immerhin haben in einer der letzten, nun wirklich repräsentativen Studie von Wilhelm Heitmeyer mehr als 50 Prozent (!) aller (!) Deutschen (!) zu Protokoll gegeben, dass sich die Israelis den Palästinensern gegenüber genauso verhalten wie die Nazis gegenüber den Juden. Noch einmal: Gemessen daran, kann man die moderate Reaktion der aus verschiedenen Gründen doch sehr belasteten muslimischen Jugendlichen nur begrüßen.

So bleibt der Fall des Oberbürgermeisterkandidaten der Linkspartei in Duisburg mit seiner in jeder Hinsicht empörenden und inakzeptablen Forderung nach einem Boykott von in Israel hergestellten Waren. Hier nähert sich die Antisemitismusfrage freilich der Realität des heillosen Israel-Palästina-Konflikts mit seiner hierzulande geführten Dauerbrenndebatte, wann die sogenannte «Israelkritik» in Antisemitismus umschlägt. Das ist im Fall des Ende Februar auf öffentlichen und innerparteilichen Druck hin zurückgetretenen Duisburger OB-Kandidaten Hermann Dierkes fraglos der Fall – mag er es auch noch so «gut» meinen.

Indes: Gefordert wird vor dem Hintergrund der Schoah und der damit verbundenen deutschen Verantwortung zu Recht eine genaue und differenzierte Debatte. Sie ist angesichts der medialen Überrepräsentanz des Nahostkonflikts und der damit verbundenen Dauererregung auch in Zukunft nicht zu erwarten. Ob es jedoch fair ist, der heutigen Linkspartei angesichts derartiger Äußerungen in toto die Vergangenheit der DDR vorzuhalten und damit eine Partei, die sich seit Längerem – nach den grundsätzlichen Äußerungen Gregor Gysis – in einem intensiven Diskussionsprozess befindet, massiv abzuqualifizieren, erscheint fraglich. Im übrigen ist der Hinweis auf die Judenfeindlichkeit des «Realen Sozialismus » und des Stalinismus ein zweischneidiges Schwert: Es sei nur daran erinnert, dass es ohne Stalins Sowjetunion und die mit ihr verbundenen Satellitenstaaten bzw. ohne die von Stalin geförderten tschechischen Waffenlieferungen nicht zur Gründung und Behauptung des Staates Israel gekommen wäre.

Antisemitismus, sein gesellschaftlicher Einfluss und seine politischen Trägergruppen sind nach wie vor ein bedeutsames, wichtiges Thema. Es sollte indes jeder Anschein vermieden werden, dass dieses Thema von Israel verbundenen Juden in der Diaspora als psychischer Entlastungsdiskurs in einer Zeit geführt wird, in der ein großer Teil der israelischen Wählerschaft einer jedenfalls nominell friedensunwilligen, wenn nicht in Teilen rassistischen Parteienmehrheit ihr Vertrauen geschenkt hat.

Ohnehin liegen die wahren Bedrohungen woanders: in den nach wie vor judenfeindlichen Äußerungen von Mitgliedern der Hamas und der Hisbollah sowie in der von einem fanatischen, weltanschaulichen Antisemiten – (Noch-)Präsident Machmud Achmedinedschad – jedenfalls mitregierten islamischen Republik Iran, die nach Auskunft aller Experten bald über atomwaffenfähiges Uran verfügen dürfte. Gefahren und Fakten liegen klar auf dem Tisch – sich mit Quisquilien wie mit einer südafrikanischen Ministerin, ostasiatischen Buchproduktionen oder hiesigen Immigrantenjugendlichen abzugeben, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als den Kopf auf anspruchsvolle Weise in den Sand zu stecken.

Das Grundgefühl einer unheimlichen Bedrohung, die durch den Israel-Palästina-Konflikt auf die mit Israel in vielen Hinsichten eng verbundene Judenheit in der Diaspora übergreift, sollte dort angegangen werden, wo es herkommt – am Nahost-Konflikt. Denkbar ist – um eine psychologische Deutung zu riskieren – dass die Angst und die Ohnmacht angesichts dieses Konflikts nach einem Ausweg, einem leicht handhabbaren und fassbaren Problem suchen, das man angehen kann, ohne dabei etwas zu riskieren: zum Beispiel in Duisburg – oder China.

Erstersch. in der „Jüdischen Zeitung“ (Märzausgabe)

Micha Brumlik ist Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Mitherausgeber der politisch-wissenschaftlichen Monatszeitschrift «Blätter für deutsche und internationale Politik». Zwischen 2000 bis 2005 leitete er das Frankfurter Fritz-Bauer-Institut, ein Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust.