Der letzte Bundist

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Der Tod von Yitzhak Luden, dem letzten israelischen Aktivisten des Bunds (Allgemeiner Jiddischer Arbeiterbund), bedeutet auch das Ende der jüdisch-sozialistischen Arbeiterbewegung. Diese Bewegung hatte ihren Höhepunkt in Polen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erreicht, doch es gelang ihr nicht, eine wirkliche Alternative zur zionistischen Bewegung zu bieten…

Von Ofer Aderet
Erschienen bei: Rosa Luxemburg Stiftung Israel

In den letzten Jahren starben die noch verbliebenen Mitglieder der israelischen Sektion des Bunds, der alten jüdisch-sozialistischen Arbeiterbewegung, einer nach dem anderen. Yitzhak Luden, der im November 2017 im Alter von 95 Jahren aus dem Leben schied, war der letzte Aktivist der kleinen israelischen Sektion, die sich im Bejt Brit HaAvoda (Haus des Arbeiterpakts) in Tel Aviv zu treffen pflegte. Der Ort wurde in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Tempel zur Wahrung einer sozialistisch-linken Kultur, die in dem kapitalistischen Land unter einer rechten Regierung und einem Besatzungsregime im Aussterben begriffen und in Vergessenheit geraten war.

Wenn er gefragt wurde, was der Unterschied zwischen der zionistischen Bewegung und dem Bund sei, pflegte Luden mit einem Lächeln zu antworten, dass beide Bewegungen im selben Jahr, 1897, gegründet wurden – die zionistische Bewegung jedoch in einem prachtvollen Saal eines Basler Casinos (wo der erste zionistische Kongress stattfand), während der Bund bei einem illegalen Treffen auf einem Dachboden in einem Armenviertel von Wilna (Vilnius) ins Leben gerufen wurde.

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„Bund“ ist die Kurzbezeichnung des Allgemeinen Jiddischen Arbeiterbunds in Russland, Litauen und Polen. Dieser hatte sich explizit zum Ziel gesetzt, eine „vereinigte jüdische Arbeitergewerkschaft [zu schaffen], die das jüdische Proletariat in seinen Kampf um wirtschaftliche, staatsbürgerliche und politische Befreiung leitet und unterrichtet“. Die vier Prinzipien, die sich der Bund auf seine Fahne schrieb, waren Sozialismus, Säkularismus, Jiddisch und „Dojkejt“ (das Hiersein), wie es in dem Slogan: „Da wo wir leben, dort ist unser (Vater-)Land“ zum Ausdruck kommt.

Im Zentrum der Zukunftsvision des Bunds steht die Vorstellung, dass es keinen Widerspruch zwischen dem nationalen Aspekt auf der einen Seite und dem sozialistischen auf der anderen gibt. In der Vision des Bunds herrscht in der Familie der Völker Gleichheit zwischen den Völkern. Diese Vision war damit verbunden, ein konstitutives jüdisches Prinzip aufzugeben, das lautet: „Du hast uns aus allen Völkern auserwählt“. Als streng säkulare Organisation verzichtete der Bund auch auf das Heilige Land und die heilige Sprache (Hebräisch) und entschied sich dafür, Jiddisch zu sprechen.

In einem 1977 veröffentlichten Artikel schrieb Luden, dass der Bund zu jener Zeit, als die zionistische Bewegung sich bemühte, Juden und Jüdinnen zur Emigration zu bewegen und eine nationale Heimstätte in Palästina zu gründen, eine Alternative aufzeigte, die in der jüdischen kulturellen Autonomie in Osteuropa bestand. Er erklärt, dass der Zionismus „die Losung des Auszugs aus Europa, der Auflösung des Diasporalebens und der Sammlung des jüdischen Volks im Land seiner Vorväter“ anbot, während der Bund verstand, dass „das Schicksal des jüdischen Arbeiters an dem aller Arbeiter in dem Land, in dem er lebt, hängt“. Deshalb, so schrieb er, „müssen die Juden überall dort, wo Juden leben, für gleiche Rechte und für ihre nationalen Rechte kämpfen“.

Nach der bolschewistischen Revolution vor genau einhundert Jahren wurde der Bund in der Sowjetunion verboten, weil seine Vorstellungen von Nationalismus nicht den Werten der Revolution entsprachen. Danach wurde er in Polen sehr aktiv. Unter anderem organisierte er die jüdischen Gewerkschaften, kämpfte für Arbeiterrechte und förderte Klassen- und Allgemeinbildung unter Arbeiter*innen.

Der Bund bemühte sich hauptsächlich um die Jugend, die Generation der Zukunft. Dazu gehörten Menschen wie Yitzhak Luden, der 1922 in Warschau geboren wurde und als Jugendlicher dem Bund beitrat. Später lernte er an einer Schule der vom Bund gegründeten Zischo (zentrale jiddische Schul-Organisation). Dort erhielten die Schüler*innen eine jüdisch-säkulare, sozialistische Bildung auf Jiddisch, die als „Antithese zur jüdisch-religiösen Bildungstradition“ konzipiert war. In jenen Jahren engagierte sich der Bund auch im Kampf gegen Antisemitismus in Polen und organisierte eine „Selbstverteidigung“.

Aufgrund dieser Aktivitäten gelang es dem Bund, zur führenden Stimme der Juden und Jüdinnen in Polen zwischen den beiden Weltkriegen zu werden. So stimmten bei den Stadtratswahlen von 1938 beispielsweise 40 Prozent der jüdischen Bevölkerung in den großen Städten für den Bund. „Die Juden merkten, dass jemand für sie kämpft. Sie fanden beim Bund ein offenes Ohr, und sie hatten mit ihm eine gemeinsame Sprache“, sagte Luden. Wiktor Alter, ein führender Bundist der Zwischenkriegszeit, besuchte 1924 Palästina. Nach seiner Rückkehr nach Polen veröffentlichte er einen Bericht mit dem Titel „Die Wahrheit über Palästina“, in dem er den Plan der zionistischen Bewegung, einen jüdischen Staat in Palästina zu errichten, ablehnte. Alter war verwundert über das zionistische Verlangen, die Bevölkerungsmehrheit zu erringen und über die Araber*innen zur herrschen, die damals in Palästina unter britischer Mandatsherrschaft noch die Mehrheit stellten. Gleichzeitig argumentierte er, dass in dem armen Land die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution nicht gegeben seien. Zudem kritisierte er die Tatsache, dass sich der jüdische Jischuw in Palästina vom Jiddischen abwendet.

All diese Debatten waren jedoch ad acta gelegt, als ab September 1939, mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, sowohl die Nazis als auch die Sowjets den Bund verfolgten. Wiktor Alter und Henryk Ehrlich, die führenden Persönlichkeiten der Organisation, waren in die Sowjetunion geflüchtet und wurden dort eingekerkert und ermordet. In Polen verbliebene leitende Mitglieder des Bunds beteiligten sich an der Organisierung einiger Revolten (wie zum Beispiel Marek Edelman im Warschauer Ghetto), doch die meisten Anhänger*innen des Bunds wurden im Holocaust ermordet.

Luden war einer der Überlebenden. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs flüchtete er nach Osten, in die Sowjetunion, und zog als Flüchtling umher. Nach dem Krieg kehrte er nach Polen zurück, wo er herausfand, dass von seiner Familie nur er und sein Bruder überlebt haben. Er versuchte, dort sein Leben wieder aufzubauen.

Doch nach dem Krieg war klar, dass der Bund verloren und der Zionismus sich durchgesetzt hatte. Im kommunistischen Nachkriegs-Polen wurde der Bund verboten. Im Jahr 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Auch unter den wenigen Überlebenden des Bunds gab es Menschen wie Luden, die der Ansicht waren, dass „Israel ein positives Element ist, als Zufluchtsort für Juden“, wie er sagte.

Luden wanderte 1948 nach Israel aus. Drei Jahre später, 1951, schloss er sich der israelischen Sektion des Bunds an, die im selben Jahr gegründet worden war. Zu den Aktivitäten der Sektion gehörten unter anderen ein Verein zur gegenseitigen Hilfe, eine Monatsschrift mit dem Titel Lebnsfragn (Lebensfragen), eine Bibliothek für jiddische Literatur, ein Chor und eine Theatergruppe. Anfangs versuchte die israelische Sektion des Bunds auch die Bildungstätigkeiten fortzusetzen, indem sie Sommerlager für Kinder und sogar eine jiddisch-sprachige Schule organisierte.

Einige der Ideen, die die Bundmitglieder unter anderem in der Zeitschrift Lebnsfragn zum Ausdruck brachten, waren relevant und sind zum Teil noch heute aktuell. So schrieben sie zum Beispiel schon in den 1950er Jahren, dass es keinen Frieden ohne eine Lösung des Problems der arabischen Flüchtlinge geben könne, die im Krieg von 1948, nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung, aus Palästina vertrieben worden waren und flüchteten, „und wer kann wie wir, Juden, die Tragödie dieses Problems nachempfinden“.

Im Jahr 1967, nach dem Sechs-Tage-Krieg, in dem Israel die Westbank, den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, Ost-Jerusalem und die Golanhöhen eroberte, stand in der Monatsschrift des Bunds: „Der Besitz von Territorien löst keine Probleme. Wir werden keinen Frieden mit den arabischen Staaten erlangen, und wir werden nicht in Ruhe neben den arabischen Staaten leben können. Wir werden ein Staat von Besatzern sein, und auf jeden Fall werden wir auch kein demokratischer Staat mehr sein.“

Doch faktisch wurde die israelische Sektion des Bunds zu einem für Außenstehende „geschlossenen Club“, der in der Vergangenheit lebte. Er versuchte mit aller Kraft, sich an eine süße Nostalgie zu klammern, die für das Hier und Jetzt jedoch nicht unbedingt relevant war. Der Versuch, sich mit einer eigenen Liste an den Knesset-Wahlen 1957 zu beteiligen, scheiterte. Im zionistischen Israel wurden die Mitglieder des Bunds als „Fremdkörper“, Antizionist*innen, Verräter*innen, „Israel-Hasser“, und Feind*innen gesehen.

Trotz ihrer Marginalisierung beharrten Yitzhak Luden und seine Genoss*innen in der israelischen Sektion des Bunds, die immer kleiner wurde, darauf, auch am Anfang des 21. Jahrhunderts an den Prinzipien und Werten des Bunds festzuhalten. Luden arbeitete in verschiedenen Medien als Journalist, wo er weiterhin die Werte des Bunds predigte. Seine Karriere erreichte 1971 ihren Höhepunkt, als er zum Chefredakteur von Lebnsfragn ernannt wurde. Er war 43 Jahre lang ihr Redakteur, bis die Zeitschrift 2014 eingestellt wurde. Lebnsfragn war am Ende die letzte noch verbliebene Zeitschrift in Israel, die auf Jiddisch veröffentlicht wurde.

Die sozialistisch, humanistisch und demokratisch gesinnten Artikel der Zeitschrift beschäftigten sich auch mit gegenwärtigen Problemen. Sie kritisierten bis zuletzt die israelische Besatzung und die Operationen der israelischen Armee im Gazastreifen und im Libanon. „Er sprach über ein Judentum, das für sich keine Privilegien verlangt, sondern sich integrieren will und gleiche Rechte bewahren will, und das sich nicht ausbreiten und weitere Gebiete einnehmen will“, sagte der Filmemacher Eran Torbiner, der Luden für seinen Film „Bundisten“ interviewte.

„Wir waren auf dem Laufenden, aber blieben eine Bewegung von Migranten, die im Dort und Gestern lebte, die unser Vorbild waren“, sagte Luden. In der Praxis war der Einfluss der Zeitschrift und der Organisation auf die israelische Öffentlichkeit jedoch gleich Null. Die meisten Israelis haben nicht einmal von deren Existenz gehört. Und wer sie kannte, betrachtete sie als den nostalgischen, „harmlosen“ Überrest einer toten Kultur. Auch ihr Versuch, die jiddische Sprache in Israel zu bewahren, scheiterte. Sie ist heute eine tote Sprache in Israel, die nur in einigen ultra-orthodoxen Gemeinden in Israel gesprochen oder an Hochschulen studiert wird.

Als er einmal zu seiner journalistischen Arbeit befragt wurde, sagte Luden: „Als Journalist, verfolge ich vorübergehende Momente, von denen ich zunächst nicht weiß, was sich dahinter verbirgt. Es kann sich dabei um eine Ausnahme, eine Kuriosität oder ein Paradox handeln. Aber wenn sich dieser Moment in ein Momentum verwandelt … sodann wird er Geschichte“. Er weigerte sich jedoch, die Tatsache zu akzeptieren, dass der Bund Geschichte geworden ist, sprich der Vergangenheit angehört. Vor zehn Jahren war Luden gefragt worden, was in zehn Jahren vom Erbe des Bunds in Israel noch übrig sein werde. Er antwortete: „Der Geist“. Ende 2017 ist in der israelischen Realität nicht einmal mehr sicher, dass er damit Recht hatte. Die Kultur und der gesellschaftliche Lebensstil, die sich unter dem jüdischen Proletariat in Wilna/Vilnius, Minsk, Białystok, Warschau und Lodz entwickelten, scheinen für immer verloren zu sein.

Ofer Aderet ist Journalist und schreibt in der Tageszeitung Haaretz über Geschichte, Deutschland und jüdische Geschichte.

(Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin)

Bild oben von Yitzhak Luden aus dem Film „Bundisten“ von Eran Torbiner