Der Schriftsteller und Rapper Kurt Tallert erhält den diesjährigen Uwe-Johnson-Förderpreis
Von Roland Kaufhold
Sehr vieles, was Kurt Tallert in seinem großartigen Werk Spur und Abweg über seine Familie und den Nachhall der Shoah erzählt hat, kam mir sehr vertraut vor – obwohl uns 25 Lebensjahre trennen. Es geht vor allem um die subtile, dunkle Beklemmung, die Hilflosigkeit, die die Recherchen über die eigene Familienbiografie in einem hervor rufen. Auch wenn sich sehr Vieles in unseren Biografien unterscheidet, so habe ich doch nahezu jedes Detail seiner faszinierenden Spurensuche über seinen jüdischen Vater dicht nachzuvollziehen vermocht. Und doch hatte Kurt, bei dessen Geburt sein Vater, der Überlebende, bereits 58 Jahre alt war, gewissermaßen „Glück“: Sein Vater Harry, der Überlebende und frühere SPD-Politiker, hat ihm einen Nachlass hinterlassen: Briefe, Tonbandprotokolle, Gedichte. Kurt Tallert brauchte ein Jahrzehnt, bis er an diese Materialien heran kam. Zu groß war die Angst und der übermächtige Schrecken in seiner Mutter gewesen. Und auch danach brauchte er noch einmal zehn Jahre, um seine Spurensuche zu einem – vorläufigen – Abschluss und in eine familienbiografische Erzählung zu bringen.
1994 – da war Kurt sieben Jahre alt – notierte sein Vater über das dunkle und doch konkrete absolute Böse:
„Ohne A. H. (A. Hitler, RK) wäre ich vielleicht nie Politiker geworden. Er schaffte mir als Mitglied eines Kollektivs, von dem ich nicht einmal ahnte dass es so etwas gab, ein existentielles Grunderlebnis. Als sogenannter Halbjude war ich vom Nationalsozialismus zum Tode verurteilt. Der Kerl wollte mich umbringen. Dabei hatte ich ihm nichts getan. Egal. Urteil gefällt. Vollstreckung ausgesetzt. Nicht jetzt. Noch nicht. Vielleicht bald.“ (S. 67)
Kurt Tallert hat mit Spur und Abweg eines der bedeutsamsten Werke der vergangenen zwei Jahrzehnte zur Shoah und zum jüdischen Weiterleben vorgelegt. Er beschönigt nichts, wahrlich nicht. Er hat ein Werk einer tiefen, großen Liebe vorgelegt“ hatte ich 2024 über sein berührendes Werk geschrieben.
Der Uwe-Johnson-Förderpreises 2025
Die sechsköpfige Jury des Uwe-Johnson-Förderpreises sieht dies genauso und hat dem Schriftsteller Kurt Tallert – und hierdurch auch dem Rapper Retrogott für sein literarisches Erstlingswerk Spur und Abweg ihren mit 5000 Euro dotierten Förderpreis für das Jahr 2025 verliehen. Eine gute Wahl!
Der Jury lagen eine Vielzahl von literarischen Erstlingswerken aus dem Bereich Prosa und Essayistik vor. Tallerts Werk über seinen überlebenden jüdischen Vater, in welchem er die bis in die Gegenwart reichenden Folgewirkungen der Shoah auf eindringliche Weise beleuchtet, überzeugte sie am meisten.
Kurt Tallert habe mit seiner subtilen Spurensuche über seinen jüdischen Vater in mehrfacher Hinsicht ein „außergewöhnliches Buch“ geschrieben, heißt es in der Begründung zur Preisverleihung.
Und weiter: Bereits als Kind spürte Kurt Tallert die Spuren der Verfolgung in seinem Vater, obwohl dieser diese vor seiner Familie zu verheimlichen versuchte – um sie zu schützen. Die Spuren seiner Suche verlaufen bis in die Gegenwart, was ihn mit Uwe Johnsons „Versuch, einen Vater zu finden“ verbinde. Der Zivilisationsbruch, dem sein damals 17-jähriger Vater Harry im Zwangsarbeitslager im niedersächsischen Lenne ausgesetzt war, wirke fort. Das Konzentrationslager Buchenwald – vgl. die Zeitzeugenberichte des Psychoanalytikers Ernst Federn – , welches Kurt Tallert mehrfach aufsuchte, erstmals mit sechs Jahren, war ein Ort und ein „Ausdruck einer Vergangenheit, die mich stumm anschrie“, schreibt Kurt Tallert.
Seine immer neuen Reisen an die Lebens-Orte seines früh verstorbenen Vaters – da war Kurt erst elf – , zu überlebenden Verwandten und zu den Orten der organisierten, geplanten Vernichtung jüdischen Lebens, brachten ihm seinem Vater, dem ehemaligen Bremer SPD-Landtags- und Bundestagsabgeordneten, immer wieder nahe.
Die Abwesenheit von Reue und Schuldeingeständnis, die Tallert in seinem Werk in verschlungener, eindrücklicher Weise beschreibt, hat seit dem Hamas-Pogrom vom 7.10.2023 ihren Höhepunkt erreicht. Auch seine innere Verbundenheit mit dem Staat Israel bringt der Autor in seinem Werk in authentischer Weise zum Ausdruck: „Die Geschichte dieses Volkes ist die Geschichte von Teilen meiner Familie. Der Gedanke, es sei auch meine Geschichte, ist vollkommen abwegig, schießt mir durch den Kopf.“ (S. 85).
Der Uwe-Johnson-Förderpreises wird am 26.9.2025 im Schauspielhaus Neubrandenburg feierlich an Kurt Tallert verliehen.