Die Regierung hat die Besetzung von Gaza-Stadt angekündigt. Doch der Plan von Premier Benjamin Netanyahu ist umstritten. Denn unabhängig von den vielen Opfern, die seine Umsetzung mit sich bringen würde, kämen enorme Belastungen auf Israel zu.
Von Ralf Balke
Begeisterung gibt es keine. Sogar Generalstabschef Eyal Zamir soll Medienberichten zufolge mit Ministerpräsident Benjamin Netanyahu aneinandergeraten sein, weil er die Pläne der Regierung, auch Gaza-Stadt zu besetzen und damit den gesamten Gazastreifen unter israelische Kontrolle zu bringen, ablehnt. Seine Argumente gegen die erweiterte Militäroffensive: Sie gefährde das Leben der Soldaten und der Geiseln, die sich immer noch in der Gewalt der Hamas befinden. Damit weiß Eyal Zamir die Mehrheit der Israelis auf seiner Seite. Erst am vergangenen Wochenende waren eine Million Menschen dagegen im ganzen Land auf die Straßen gegangen, etwa 500.000 allein in Tel Aviv. Doch letztendlich beugte sich der Generalstabschef dem politischen Druck und versprach, dass die Armee alles unternehmen werde, damit die Besetzung von Gaza-Stadt erfolgreich sein werde.
Offensichtlich hat die erweiterte Militäroperation bereits begonnen. Das jedenfalls gab Effie Defrin, Sprecher der Streitkräfte, am frühen Donnerstagmorgen bekannt. Auch werden erste Kämpfe aus dem Umland von Gaza-Stadt gemeldet. Damit hat die zweite Phase der Operation „Gideons Kampfwagen“ ihren Anfang genommen. Um sich eine Vorstellung zu machen, welche Dimensionen diese annimmt, hier einige Zahlen: 60.000 Reservisten wurden bereits einberufen und in den Gazastreifen beordert. Mittlerweile ist von 130.000 Reservisten die Rede, die in den kommenden Wochen einberufen werden sollen. Für die meisten von ihnen ist das nicht der erste Einsatz, viele der Soldaten waren seit dem Beginn des Krieges vor bald 22 Monaten 250 Tage und mehr im Einsatz. Vor dem 7. Oktober leisteten Reservisten im Durchschnitt etwa 20 Tage im Jahr Reservedienst. Doch viele kommen kaum noch aus ihrer Uniform heraus, manche von ihnen waren sogar 500 Tage an der Front. Das ist nicht nur eine enorme psychische Belastung, sondern ebenfalls eine finanzielle. Sie blieben ihrem Arbeitsplatz fern, verpassten über mehrere Semester hinweg Vorlesungen an der Universität oder haben als Unternehmer Schwierigkeiten, ihren Betrieb aufrechtzuerhalten.
Und nun ist davon die Rede, dass die Bodenoffensive im Gazastreifen bis weit in das Jahr 2026 hinein andauern könnte, wie Generalstabschef Eyal Zamir am 14. August sagte. Auch deswegen erscheinen weniger Reservisten zum Dienst als sonst, die Personaldecke der Armee droht weiter auszudünnen. Die Rede ist davon, dass derzeit lediglich zwischen 60 und 70 Prozent der Einberufenen auch wirklich erscheinen, was wiederum zur Folge hat, dass immer weniger Soldaten immer länger im Einsatz bleiben müssen, vor allem solche, die in Kampfeinheiten dienen. Laut Armee sind ohnehin 12.000 Reservisten aufgrund von Verletzungen oder erlittener Traumata seit Beginn der Kampfhandlungen ausgefallen, weshalb man bereits im April den Militärdienst generell um vier Monate verlängerte. Und die Tatsache, dass es bei der Umsetzung der Wehrpflicht für ultraorthodoxe Männer keinerlei nennenswerte Fortschritte gibt, weshalb Zehntausende Haredim nicht eingezogen werden, sorgt ebenfalls für großen Unmut und wirkt wie ein Dämpfer auf die Motivation der Soldaten.
Wird die zweite Phase von „Gideons Kampfwagen“ auch wirklich umgesetzt und es kommt zu der Okkupation von Gaza-Stadt, gibt es weitere Herausforderungen. Die Soldaten würden in ein dicht bebautes Gebiet einziehen und in einen Häuserkampf verwickelt werden, der für sie verlustreich sein könnte. Denn die Hamas und die anderen Terrororganisationen hatten genug Zeit, Sprengfallen und Ähnliches zu errichten. Zudem werden sie, wie in den vergangenen Wochen immer wieder geschehen, aus den noch vorhandenen Tunneln Überraschungsangriffe verüben können. Oder anders formuliert: Jedes Haus wäre eine potenzielle Gefahr, weil vermint oder Eingang zu einem unterirdischen Versteck. Und zudem müsste man weitere 1,2 Millionen Palästinenser vor Ort kontrollieren und auch versorgen. Das ist nicht nur eine personelle Herausforderung, sondern ebenfalls eine finanzielle, deren Dimensionen kaum abschätzbar sind.
So wurde am Dienstag bekannt, dass von dem Sonderzuschuss für Verteidigungsausgaben, der ein Volumen von umgerechnet über acht Milliarden Dollar hat, etwa 432 Millionen für die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) abgezweigt werden, zusätzlich zu den bereits bewilligten 189 Millionen Dollar, die man bereits im Juni der amerikanischen Stiftung überwiesen hatte, damit diese humanitäre Hilfsleistungen im Gazastreifen organisiert. Das stieß sogar innerhalb der Koalition auf Kritik. Manche Knesset-Abgeordneten fragten, wie es seine könne, dass Benjamin Netanyahu ihnen einen „vollständigen Sieg” versprochen hatte, man nun aber die Palästinenser versorgen müsse. Außerdem war es das fünfte Mal, dass man seit dem Beginn des Krieges die Ausgaben für die Verteidigung erhöhen musste, weil die ursprünglichen Planungen über den Haufen geworfen wurden. Kurzum, die erweiterte Offensive im Gazastreifen wird Israel wirtschaftlich und finanziell noch mehr belasten als bisher. Genau Zahlen wagt niemand zu nennen.
Man wäre auf Jahre hinaus mit der Verantwortung für zwei Millionen Menschen in Gaza konfrontiert, die sich nicht selbst versorgen können. „Das könnte Probleme für Israel mit sich bringen“, erklärt Dr. Sasson Hadad, der früher sowohl als Wirtschaftsberater des Stabschefs der israelischen Streitkräfte als auch als Leiter der Haushaltsabteilung des Verteidigungsministeriums tätig war und derzeit als leitender Berater bei MIND Israel, einem gemeinnützigen Strategieinstitut, arbeitet, gegenüber der Tageszeitung „Haaretz“. „Mit diesem Schritt schafft man Fakten vor Ort. Und die Welt weiß, dass es keinen Grund gibt, warum die Hilfe eingestellt werden soll, sobald man sie einmal geleistet hat.“ Und das sei nur der Anfang. „Was passiert mit anderen zivilen Ausgaben wie Gesundheit oder Bildung? Was ist mit dem Wiederaufbau der Infrastruktur?“ All das kostet mehrere Milliarden Dollar pro Jahr, was Israel auf jeden Fall finanziell überfordere.
Deshalb hoffen viele Israelis darauf, dass die Ankündigung, Gaza-Stadt zu besetzen und alles, was bisher geschah, nur eine Drohkulisse ist, die die Hamas zum Aufgeben zwingen soll. Bereits am Montag signalisierte die Terrororganisation, dass sie den Vorschlag für einen Waffenstillstand und die Freilassung von Geiseln akzeptiere, den man ihr einen Tag zuvor unterbreitet hatte. Demnach sei sie bereit, im Rahmen einer 60-tägigen Waffenruhe zehn lebende Geiseln sowie die sterblichen Überresten einer nicht näher genannten Zahl von Israelis gegen 150 Sicherheitsgefangene, also Palästinensern, die aufgrund terroristischer Straftaten zu sehr langen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, auszutauschen – deutlich weniger als in vorherigen Verhandlungsrunden. Auch zeigt man sich in der Frage der Breite eines Sicherheitspuffers zwischen Israel und dem Gazastreifen flexibler und kam der israelischen Forderung weiter entgegen. „Wir können deutlich erkennen, dass die Hamas unter enormen Druck steht“, sagte der Ministerpräsident dazu. Doch von seinem Plan, im Rahmen einer erweiterten Militäroffensive Gaza-Stadt zu besetzen, wolle er nicht abrücken. Dabei steht auch Benjamin Netanyahu unter Druck. Viele der europäischen Partner Israels kritisieren die Pläne, drohen anderenfalls mit einer Anerkennung eines Staates Palästinas, falls er nicht einlenkt.
Aber die Situation ist komplexer. „Darüber hinaus wird aus Sicht der Hamas die Absicht von US-Präsident Donald Trump und seiner Regierung, durch die Beendigung des Krieges und die Freilassung der Geiseln einen diplomatischen Erfolg zu erzielen, als potenzielles Druckmittel gegenüber Israel angesehen, um es zu mehr Flexibilität zu bewegen und Zugeständnisse in den Verhandlungen zu erreichen“, heißt es in einer neuen Analyse der beiden Sicherheitsexperten Kobi Michael und Yossi Kuperwasser vom Institute for National Security Studies (INSS). Beide beschäftigen sich gleichfalls darin mit dem Szenario einer vollständigen Besetzung des Gazastreifen, verweisen auf die astronomisch hohen Kosten, den personellen Aufwand durch die Armee und andere Faktoren. Sollte es dennoch dazu kommen, empfehlen die Sicherheitsexperten eine eindeutige Erklärung der Regierung, dass Israel auf keinen Fall vorhabe, im Gazastreifen Siedlungen errichten zu wollen und die Besatzung temporär bleibt. Bei aller Kritik erkennen sie einen Aspekt, der dem Ansatz etwas Positives abgewinnen kann: „Die Entscheidung, die vollständige Übernahme des Gazastreifens umzusetzen, würde eine grundlegende Überzeugung in der Logik der Hamas zunichtemachen: dass Israel eine solche Maßnahme wahrscheinlich nicht ergreifen wird. Wenn die Hamas und die Bewohner des Gazastreifens davon überzeugt sind, dass Israel entschlossen ist, diesen Weg zu gehen, würden die Chancen auf eine Einigung mit der Hamas – mit Bedingungen, die denen Israels viel näher kommen – erheblich steigen, ebenso wie die Zusammenarbeit der Zivilbevölkerung mit Israel.“
Die kommenden Tage werden also zeigen, ob es beim Aufbau einer Drohkulissen bleibt, die die Hamas deutlich kompromissbereiter macht als bisher, weil ihre Anführer verstehen, dass das Spiel für sie aus ist. Oder aber, und das darf keinesfalls unterschätzt werden, Israel wird auf unbestimmte Zeit mit der Last einer Kontrolle und Versorgung des Gazastreifens konfrontiert sein, bei dem das Land zunehmend isoliert stehen wird.
Wie schon bei allen von den arabischen Terroristen begonnenen „Waffengängen“ zuvor: das Dilemma ist unfassbar schrecklich, v. a. aus der Fernsicht. Yaakov Amidror weist darauf hin, dass ein Aufschub der Hamas-Entwaffnung die absehbare Zahl von IDF-Gefallenen verdoppeln könnte, Mitchell Bard sieht diesen Krieg für Israel als bereits verloren an. Die für September d. J. geplante politische Erpressung der Regierungen um Macron, Starmer und Albanese in Gestalt der Anerkennung eines fiktionalen palästinensischen Staates wird das Desaster global massiv verschlimmern. Ich bewundere alle, die sich nicht entmutigen lassen und klaren Verstand bewahren. Israel kann es ein weiteres Mal nur verkehrt machen…
> Amidror
https://www.jpost.com/israel-news/article-864877
> Bard
https://www.jns.org/has-israel-lost-the-war-gaza-and-the-illusion-of-victory/
https://www.israelheute.com/erfahren/hat-israel-den-krieg-verloren-gaza-und-die-illusion-des-sieges/
> 2S-Trap
https://docs.google.com/document/d/1EAwdPxZF1wPAZj0PyXRZouGQbPIobQpsXIXPjRLLQZA/edit
Kommentarfunktion ist geschlossen.