Jetzt ist es doch passiert. Nach wochenlangem Drohen, Verhandlungen und Versuchen, eine Kompromisslösung zu finden, haben die ultraorthodoxen Parteien des Vereinigtes Tora-Judentum die Regierung verlassen. Auslöser ist ein Gesetzesentwurf in Bezug auf die Wehrpflicht.
Im Juni letzten Jahres hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass die Regierung dafür sorgen müsse, dass auch ultraorthodoxe Männer zum Militärdienst einberufen werden. Damit beendeten die Richter eine über 70 Jahre geltende Ausnahmeregelung, die die strenggläubigen Männer von der Armee befreite. Was nach der Staatsgründung mit einigen Hunderten Jeschiwa Schülern begann, auf deren Wehrdient Israels erster Premier Ben Gurion zu verzichten bereit war, hat sich zu einer der größten Ungerechtigkeiten im jüdischen Staat entwickelt.
Besonders deutlich wurde das Ungleichgewicht seit dem 7. Oktober 2023, wenn nämlich Zehntausende Reservisten seit Hunderten von Tagen Dienst leisten, in Gaza, im Libanon, wieder in Gaza, und damit nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Ehe, ihr Familienleben, ihre Karrieren aufs Spiel setzen. Gleichzeitig leisten etwa 60.000 Wehrdienstpflichtige aus dem ultraorthodoxen Sektor keinen Wehrdient. In den letzten Monaten wurden 24.000 Einberufungsbescheide an Ultraorthodoxe versandt, nur 1345 Männer kamen diesen nach.
Groß war daher auch der Druck auf die Regierung, nun endlich ein Gesetz zu verabschieden, das diese historische Ungerechtigkeit beseitigt. Gleichzeitig blockierten die ultraorthodoxen Parteien jede Lösung. Die Sorge ist vor allem, dass die Rekrutierung die jungen Männer von der ultraorthodoxen Lebensweise entfremdet, auch wenn die Armee mittlerweile rein ultraorthodoxe Einheiten gegründet hat. Der nun vorliegende Gesetzesentwurf, an dem gestern bis spät abends noch gefeilt wurde, der eine über viele Jahre hinweg stufenförmige Anhebung des Anteils ultraorthodoxer Rekruten vorsieht, passt den Ultraorthodoxen aus verschiedenen Gründen nicht. Zum einen fordern sie die Rücknahme der bereits versandten Einberufungsbescheide und ein Ausnahmekomitee, das nicht nur der Armee, sondern auch den Rabbinern unterstellt ist, vor allem aber die Sanktionen bei Nichteinhaltung der Rekrutierungen sind umstritten.
Auf Geheiß ihrer Rabbiner entschieden sich daher gestern die dem Vereinigten Tora-Judentum angehörigen Fraktionen, die Regierung zu verlassen. Auf Netanyahus Regierung hat das im Moment nur geringe Auswirkungen. Auch wenn die Mehrheit nun auf 61 Sitze geschrumpft ist, bleibt die Regierung handlungsfähig. Sowieso hatten sich die ultraorthodoxen Parteien in der vergangenen Wochen aus vorsorglichem Protest enthalten. Sollte der Gesetzesentwurf allerdings zur Abstimmung kommen, könnte die Knessetauflösung durchaus wieder auf die Tagesordnung kommen.
Was auf der Strecke bleibt, ist eine Lösung. Eine Lösung, die eine 78 Jahre alte Ungerechtigkeit behebt. Zu einer Zeit, in der Israel den längsten Krieg in seiner Geschichte führt, dessen Ende nicht absehbar ist. Seit dem 7. Oktober 2023 fielen 893 Soldaten, 449 davon seit Beginn der Bodenoffensive in Gaza. Allein in den letzten zwei Monaten fielen 36 Soldaten. (al)