Die deutsche Linke und der 7. Oktober 2023

0
181

Die deutsche Linke und der 7. Oktober 2023 sind bei Dietrich Schulze-Marmeling das Thema. Sein „Antisemitismus reloaded“-Buch verweist kritisch auf Doppelmoralen und Inkonsequenzen in diesem politischen Spektrum. Dabei geht es nicht um bloßes Bashing, kritisch werden Widersprüche thematisiert.

Von Armin Pfahl-Traughber

Wie reagierte die Linke auf das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023? Gemeint ist hier nicht die Partei, welche sich einen solchen Namen gab, sondern das ganze politische Spektrum. Pauschalisierende Antworten auf die Frage können nicht gegeben werden, kam es doch zu unterschiedlichen Positionierungen und Verhaltensweisen. Einem bedeutsamen Anteil war indessen wenig Empathie mit den Opfern eigen, es gab sogar Leugnungen und Relativierungen des schrecklichen Verbrechens. Diese Erfahrung schockierte andere Linke, die ihre Eindrücke auch zu Papier brachten. Einer davon ist der eigentlich als Fußball-Experte bekannte Dietrich Schulze-Marmeling, der aber auch immer wieder zu politischen Fragen und dabei nicht nur zu Irland publizierte. In seinem letzten Buch geht er auf die erwähnte Thematik ein. Es ist überschrieben mit „Antisemitismus reloaded. Die Linke, der Staat und der 7. Oktober“. Und der Autor lässt es an Deutlichkeit in seiner Kritik nicht fehlen, aber ohne ein flaches Bashing „der Linken“ und ebenso ohne Pauschalisierungen.

Bereits auf der dritten Textseite finden sich klare Worte: „Wer islamistische und antisemitische Organisationen wie die Hamas als Teil eines legitimen Widerstands gegen eine unzweifelhaft bestehende israelische Unterdrückungs- und Besatzungspolitik rechtfertigt, Massaker mit eingeschlossen, kann kein Partner im Kampf für eine freie und solidarische Gesellschaft sein“ (S. 9). Bereits vor dieser Aussage konstatierte der Autor: „Die Rückkehr zu einem ‚Wir‘ ist kaum vorstellbar. Wobei der Vorwurf eines linken Antisemitismus‘ nur eine Minderheit der hiesigen Linken betrifft“ (S. 7). Derartige Aussagen hatte man bislang eher selten aus der Linken gehört, umso wichtiger ist die Betonung von deren Kerninhalten. Und genau dies ist die selbstgestellte Aufgabe des Buchs von Schulze-Marmeling. Es ist kein durchstrukturiertes und geschlossenes Werk. Denn die fünf Kapitel bilden eher eigenständige Teile, die mal mehr und mal weniger mit ihren Reflexionen um den aufgezeigten inhaltlichen Schwerpunkt kreisen. Ärgerlich ist das Fehlen von einschlägigen Zitatbelegen.

Der erste Beitrag zieht Bilanz, er referiert viele erschreckende Beispiele linker Ignoranz. Deutlich wird etwa die Doppelmoral im feministischen Kontext thematisiert, nahm man doch die sexualisierte Gewalt allenfalls im relativierenden Sinne wahr. Das zweite Kapitel enthält autobiographische Schilderungen, die verkoppelt sind mit der bundesdeutschen Geschichte insbesondere der linken Judenfeindschaft. Auch die der PLO gegenüber ausgesprochene Solidarität war nicht selten eine Variante davon. Der Autor erinnert dabei auch an den jungen Jürgen Elsässer, der sich vom Links- zum Rechtsextremisten wandeln sollte. Im dritten Beitrag geht es um die islamistischen Bündnispartner mancher Linker, jeweils gegen die Menschenrechte und deren Universalismus gerichtet. Auch wird ohne Apologie etwa gegenüber der Netanjahu-Regierung manches israelfeindliche Zerrbild widerlegt. Und dann ist noch der zwischen Antizionismus und Postkolonialismus bestehende Zusammenhang wichtig. Der Kolonialismus des „Islamischen Staats“ (IS) war und ist dort kein Thema.

Und ganz am Ende widmet sich Schulze-Marmeling der anderen Seite, hier dem Antisemitismus von rechts, bezogen etwa auf die AfD und deren Umfeld. Die Kommentierungen differenzieren, heißt es doch etwa „Pro-Palästina ist nicht per se antisemitisch“ (S. 211) oder „Pro Israel aber trotzdem antisemitisch“ (S. 215). Es sind eher derartige Deutungen in Detailfragen, die das Interesse motivieren, nicht unbedingt die umfassende Interpretation und Systematik. Immer wieder wird an vielen Beispielen die Doppelmoral und Inkonsequenz vieler Linker ebenso wie deren Werterelativismus und Widersprüchlichkeit thematisiert. Der Autor macht dies an der Einstellung zu Israel fest, aber auch an der Haltung zur Hamas und anderen Islamisten. So heißt es etwa: „Die schockierenden Reaktionen von Teilen der Linken sind Ausdruck einer ethisch-moralischen, aber auch ideologisch und politischen Krise, die nicht erst mit dem 7. Oktober begann“ (S. 7). Das Buch liefert zur Debatte wichtige Fragmente, nur Fragmente, aber immerhin … 

Dietrich Schulze-Marmeling, Antisemitismus reloaded. Die Linke, der Staat und der 7. Oktober 2023, Rastede 2024 (Edition Einwurf), 239 S., Euro 20,00, Bestellen?