„Der erste Schauspieler seines Staates (…) besaß alle Eigenschaften des unverstandenen, vom Ehrgeiz zerfressenen Mimen, der rastlos sich selbst darstellen und übertreffen wollte, der fehlendes Wissen mit Großsprechertum überdeckte und Politik als persönliches Regiment seiner impressionistischen Natur verstand. Das von ihm eingeläutete „Zeitalter theatralischen Rausches“ entschädigte die Schaubedürfnisse der Massen für erlittene Entbehrungen“.(1)
Von Susanne Benöhr-Laqueur
Das Eingangszitat beschreibt Kaiser Wilhelm II. aus der Perspektive von Theodor Lessing (S. 27). Ein derartiges Ausmaß an (jüdischer) Frechheit bzw. Gescheitheit (S. 73) war nicht nur für die Staatsgewalt höchst verdächtig. Eine Konsultation des Internetportals „Deutsches Zeitungsarchiv“(2) bezüglich des Namens „Theodor Lessing“, ergibt daher alleine für die Jahre 1918 bis 1933 über 660 Treffer (3). Der „Professor aus Hannover“, den heute jenseits der Stadt- und niedersächsischen Landesgrenze kaum noch jemand kennt, provozierte spätestens ab dem Ende des Kaiserreiches und erst recht in der Weimarer Republik gekonnt und nachhaltig.
Rainer Marwedel, den man durchaus berechtigt als führenden Biographen von Theodor Lessing bezeichnen darf, hatte sich ihm bereits in seiner Promotion (4), welche 1987 vom Luchterhandverlag publiziert wurde (5), gewidmet. Die vorliegende Neuausgabe bietet, neben teilweise noch unveröffentlichtem Bildmaterial zusätzlich eine bis heute fortgeschriebene Bibliographie (Klappentext). Im damaligen Vorwort beschrieb Rainer Marwedel seine Intention wie folgt: Ziel des Werkes sei die Rekonstruktion eines jüdischen Philosophenlebens und Vergegenwärtigung der jüngeren deutschen Geschichte“ (S. 412). Dabei verwies er – nicht ohne Ironie – auf die launige Bemerkung des Philosophen Feuerbach, der 1839 (sic!) erklärte, dass man sich „vor niemanden und nichts mehr in acht zu nehmen habe“ (S. 414), als vor den „Katzenaugen des Historikers“ (S. 414) die nur in der Finsternis der vergangenen Jahrhunderte in ihrem Element seien.
Angesichts der Gegenwart, die einher geht mit einer grassierenden Sehschwäche diverser politischer Amtsinhaber, erweist sich die kurzweilige Lektüre als nach wie vor ausgesprochen inspirierend.
Vom quengeligen Kind in giftiger Atmosphäre zum „Antilärmverein“
Die familiäre Struktur der Lessings aus Hannover würde man heute als disfunktional bezeichnen. Der Vater, Mediziner und Lebemann (S. 10), heiratete eine vermögende aber höchst unattraktive Tochter aus gutem Hause (S. 10) und fand wenig Gefallen an seinem quengeligen Erstgeborenen (S. 13). Das Drama des „hochbegabten Kindes“ nahm seinen Lauf. Erst nach einer endlosen Odyssee durch Internate und kaiserliche Lehranstalten (S. 16-19) fügte sich Lessing in sein Schicksal und studierte – wie familiär gewünscht – Humanmedizin (S. 22, 24).
Indes galt sein wahres Interesse dem Schreiben und Publizieren. Es folgten teilweise finanziell extrem prekäre akademische Wanderjahre, ein Zusatzstudium in Psychologie (S. 41), eine Promotion zum Dr. phil. (S. 40) sowie Absagen zur Habilitation bei Theodor Lipps in Dresden (S. 79) und bei Edmund Husserl in Göttingen (S. 86). Die Hoffnung auf einen Lehrstuhl und damit verbunden auf ein erträgliches Familieneinkommen schien angesichts seiner politischen Verortung als Sozialist und Agitator für die Frauenbefreiung sowie Jude (!) in weiter Ferne (S. 79). Ausgestattet mit einem Empfehlungsschreiben von Edmund Husserl verließ Lessing Göttingen „und landete dort, wo er nicht wieder ankommen wollte: in Hannover“ (S. 86). Im Jahre 1907 konnte er sich endlich habilitieren – und sei es auch nur an einer Technischen Hochschule. Nunmehr war er zwar Hochschullehrer aber keineswegs verbeamtet (S. 90) und nur mit einem symbolischen Entgelt, was seine Schaffenskraft aber nicht minderte.
In diesem Kontext kann seine Tätigkeit im „Antilärm-Verein“ aus heutiger Sicht als visionär bezeichnet werden. Die kapitalistische Modernisierung erzeugte eine enorme Fülle neuartiger Geräusche (S. 96). Das Bürgertum war einerseits von diesem Lärm angewidert wollte andererseits aber auf die technischen Errungenschaften nicht verzichten (S. 97). Der „Antilärm-Verein“ (S. 97) erstellte unter der Ägide von Theodor Lessing Straßenlisten mit den übelsten Lärmquellen, kennzeichnete Ruhezonen um Schulen und Krankenhäuser und unterbreitete den Juristen entsprechende Eingaben. Der „Lärmprofessor“ (S. 97) aus Hannover war im Kaiserreich alsbald omnipräsent.
Fritz Haarmann
Während der Nachkriegszeit entwickelte sich Hannover mit seinem großen Hauptbahnhof zur Drehscheibe für Tausch- und Schiebergeschäfte in alle Himmelsrichtungen. In diesem Milieu verkehrte Fritz Haarmann, der im Jahre 1924 vom Landgericht Hannover wegen Mordes in 24 Fällen schuldig gesprochen wurde, wobei die Anzahl der Delikte höher liegen dürfte. Pikanterweise war Haarmann, ungebildet aber abgefeimt, gewieft und listig, als Polizeispitzel tätig. Dieser Umstand hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass er nicht in den Fokus der Ermittlungsbehörden geriet. Theodor Lessing interessierte sich primär für die abnormen und krankhaften Tatausführungen. Er, als approbierter Mediziner mit Kenntnissen in Psychologie, „glaubte als psychologischer Sachverständiger auftreten zu können“ (S. 214) und scheiterte kolossal. Der Landgerichtsdirektor verwies ihn des Gerichtssaals – seine Presseakkreditierung wurde ihm entzogen: „Wir können im Gerichtssaal keinen Herren dulden, der Psychologie treibt“ (S. 215).
Paul von Hindenburg
Theodor Lessings publikumswirksamer Entfernung aus dem Gerichtssaal folgte der nächste Skandal. In seinem Artikel „Hindenburg, 1925“ (S. 239) – erschienen im Prager Tagblatt – beschrieb er den damaligen Kandidaten für das Amt des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und Ehrenbürger Hannovers (!) überaus spöttisch-provokant. Aus heutiger Sicht war seine Charakterisierung prophetisch: Einerseits ein braver, ernster, herzlicher und leicht tapsiger Großvater, ein „treuer Bernhardiner“ der andererseits zum „führungslosen Wolf“ wird, wenn er keinen Herrn hat, der ihn klug in seine Dienste einzuspannen weiß und ihn apportieren lehrt.(6) Der Skandal war vorprogrammiert: Ein Jude, noch dazu Professor an einer deutschen Hochschule echauffierte sich im Ausland über den „Held von Tannenberg“ und mutmaßlichen zukünftigen deutschen Reichspräsidenten. Rainer Marwedel widmet diesem Kapitel mehr als 50 Seiten (S. 239-292). Die Leserschaft wird Zeuge einer reichsweiten „Hexenjagd“ der „Hugenberg-Blätter“ (S. 284) auf den „Skandalprofessor“, an deren Ende ein merkwürdig schizophrener Kompromiss stand (S. 285): Hinfort verzichtete Lessing auf die Abhaltung von Vorlesungen, behielt aber seine Lehrbefugnis wobei der Lehrauftrag in einen Forschungsauftrag umgewandelt wurde (S. 285). Damit war Lessings akademische Vita beendet – das physische Leben sollte alsbald folgen.
„Fangprämie“
Anfang 1933 hatten drei SA-Männer Theodor Lessing während einer Straßenbahnfahrt in Hannover zu verstehen gegeben, dass Hitler alle Juden hängen werde (S. 326). Als die Provokation Seitens der SA zur Brüllorgie mutierte, während alle Fahrgäste schwiegen und Lessing unbeteiligt aus dem Fenster schaute, setzten die SA-Männer noch nach und höhnten: „Welche Feiglinge die Juden doch wären, man könne ihnen ins Gesicht spucken und sie würden sich doch nicht rühren (S. 326)“. Theodor Lessing floh Anfang März in das tschechische Marienbad (S. 326). Das war nicht weit genug entfernt. Wie Rainer Marwedel beschreibt, war eine „Fangprämie“ (S. 337) von Seiten des NS-Regimes auf ihn ausgesetzt worden. In der Nacht des 30. August erschossen ihn gedungene Mörder durch das Fenster in seinem Arbeitszimmer (S. 342). Am 2. September 1933 wurde er auf dem jüdischen Friedhof in Marienbad beerdigt.
„Reden wir von Hannover – das wird genügend harmlos sein“ (7) in Zeiten von „Chaos und Irrsinn“ (8)
Flankierend zur Biographie erschien eine kommentierte Zusammenstellung kleiner Schriften von Theodor Lessing aus den Jahren 1921-1923. Hier finden sich prägnante Zeitstudien, wie etwa „Der Abend-Spaziergang“ (S. 137 ff) aus dem Jahre 1923. Die Beschreibung von dreißig Menschen, die abwechselnd achtzehn Stunden vor dem städtischen Schlachthof stehen, um „desinfiziertes Fleisch tuberkulöser Kühe“ (S. 137) zu kaufen, offenbart das soziale Elend der Großstadt. Mit einer fast schon traumwandlerischen Treffsicherheit skizzierte er wenige Seiten später „die Kommenden“ (S. 141) im nach wie vor eleganten Stadtteil List: „Ich gehe durch neugebaute Straßen. Villen, fabelhaft (…) Auf der Bank am Waldrand sitzen Adam und Eva (…) Er, Adam hat ´ne Hornbrille und Aktenmappe. Sie, Eva, einen wasserstoffsuperoxydblonden Entsagungsknoten“ (S. 141). Theodor Lessings Schriften schwanken auf über 360 Seiten zwischen Utopie und Dystopie, an deren Ende Rainer Marwedel dankenswerter Weise eine über 200 Seiten umfassenden Erklärungs- und Kommentierungsteil angefügt hat. Die Lektüre von „Chaos und Irrsinn“ ist teilweise außerordentlich fordernd, gleichwohl bereichernd. Hier offenbart sich Theodor Lessings „Philosophie der Not“, in der die selbige als materieller Kern und Triebkraft der geschichtlichen Phänomene erklärt wird.
Eine Wiederentdeckung und Rezeption des Werkes von Theodor Lessing ist überfällig! Rainer Marwedels absolut lesenswerte neu aufgelegte Dissertation, die Publikation der Schriften von Theodor Lessing seit 2006 (9) und nicht zuletzt die Website „https://theodorlessingedition.de/“ leisten dazu einen wertvollen Beitrag. Die Aspekte des Schaffens von Theodor Lessing waren facettenreich und gereichen allemal der Stadt Hannover zur Ehre (10). Seine Beobachtungsgabe – nicht zuletzt im Hinblick auf seine Heimatstadt – war treffsicher und ist in gewisser Weise zeitlos: Die Harmlosigkeit trügt.
Rainer Marwedel: Theodor Lessing. Eine Biographie, Wallstein Verlag Göttingen 2024.
Rainer Marwedel (Hrsg.): Theodor Lessing. Chaos und Irrsinn. Kleine Schriften 1921-1923, Wallstein Verlag Göttingen 2024.
Anmerkungen:
(1) Marwedel, Rainer: Theodor Lessing. Eine Biographie, Göttingen 2024, S. 27, Fußnote 23 m.w.N.
(2) https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper (letzter Zugriff am 27.4.2025).
(3) https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/search/newspaper?query=%22Theodor+Lessing%22&fromDay=1&fromMonth=1&fromYear=1918&toDay=1&toMonth=12&toYear=1933 (letzter Zugriff am 27.4.2025).
(4) Marwedel, Rainer: Rekonstruktion eines Philosophenlebens, Theodor Lessing (1872 – 1933), Hannover, Universität, Dissertation, 1984.
(5) Marwedel, Rainer: Theodor Lessing: 1872 – 1933 ; eine Biographie, Darmstadt 1987.
(6) Lessing, Theodor: Hindenburg, 1925, in: Prager Tagblatt, 25.4.1925, http://www.theodor-lessing.de/html/hindenburg.html (letzter Zugriff am 27.4.2025).
(7) Marwedel, Rainer: Theodor Lessing. Eine Biographie, Göttingen 2024, S. 9, Fußnote 3 m.w.N.
(8) Marwedel, Rainer (Hrsg.): Theodor Lessing. Chaos und Irrsinn. Kleine Schriften 1921-1923, Göttingen 2024.
(9) Marwedel, Rainer (Hrsg.): Theodor Lessing: Nachtkritiken. Kleine Schriften 1906-1907, Göttingen 2006 sowie ders. (Hrsg.): Theodor Lessing: Kultur und Nerven. Kleine Schriften 1908-1909, Göttingen 2021.
(10) Seit 2004 verleiht die „Deutsch-Israelische Gesellschaft Hannover, e.V. AG Hannover“, den Theodor-Lessing-Preis an Personen, die sich für aufklärerisches Handeln, Toleranz und Solidarität mit Israel einsetzen und für den Kampf gegen Antisemitismus einstehen.