Am 10. Mai hat der Bundesparteitag der Partei DIE LINKE beschlossen, die „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ in ihrer Arbeit zu benutzen.
Von Verena Buser
Es ist allgemein bekannt, dass die Initiatoren dieser Definition von Antisemitismus Teil der globalen Linken sind und in Deutschland vor allem in der Leitungsebene des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin Freunde und Unterstützer hat. Der israelische Forscher Gerald Steinberg hob bereits 2023 hervor, dass die JDA Nazi-Vergleiche sowie Antizionismus per se vom Antisemitismus freispricht. Unschwer war dies zu erkennen, als die Präsidentin der Technischen Universität Berlin 2024 auf X ein Bild des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu mit aufgemaltem Hakenkreuz likte. Es folgte ein Gespräch mit dem Antisemitismusbeauftragten der TU Berlin. Worum es ging, bleib unklar, aber das Liken kann nicht Thema gewesen sein, da das ZfA in Berlin Hauptakteur beim Vorantreiben der JDA in Deutschland ist und auch nicht davor zurückschreckt, polarisierende und fragwürdige Narrative in die Welt zu setzen wie etwa „Eine erklärte Israelliebe geht oft Hand in Hand mit Islamfeindschaft“ oder etwa, „Free Palestine“ komme auf den Kontext an und könne auch als ein freies Palästina mit gleichen Rechten für alle zwischen dem Fluss und dem Meer gelesen werden. Das ist nicht nur schlichtweg falsch, sondern belegt sehr gut, wie wenig Kenntnis der palästinensischen Geschichte oder auch Austausch mit kritischen Palästinensern vorhanden ist. Free Palestine ist unter der Mehrheit von Palästinensern ganz klar – aus einer islamischen sowie einer panarabischen Perspektive – der Wunsch nach einem Palästina, in der ein jüdischer Staat nicht existiert, dem jegliches Existenzrecht oder historische Verbindungen zum Land abgesprochen werden.
Die JDA kann nicht losgelöst von anderen aktivistischen Initiativen betrachtet werden, die in den vergangenen Jahren aus dem Kreis der Holocaust- und Genozidforschung, den Jewish Studies oder der Antisemitismusforschung vorangetrieben wurden und die für sich in Anspruch nimmt, aus einer pro-palästinensischen Perspektive zu argumentieren.
Da ist die „Katechismusdebatte“, auch bekannt als Historikerstreit 2.0, initiiert durch den australischen Genozidforscher A. Dirk Moses, der sich in seinem Konzept der „permanenten Sicherheit“ (kurz gesagt: ein antiwestliches Konzept, das sich den Instrumentarien Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord bedient, um auf Kosten des globalen Süden Sicherheit zu garantieren) auf die Schutzbehauptungen vor Gericht des SS-Gruppenführers und Befehlshaber der Einsatzgruppe D, Otto Ohlendorf, beruft. Deutsche Gerichte haben bereits im ersten Einsatzgruppenprozess in Würzburg 1950 (!) diese Argumentationslinie abgewiesen, weil sie das ist, was sie ist: eine Schutzbehauptung, die davon ablenkt, eine mörderische Ideologie durchzusetzen.
Dann gab es Elephant in the Room, veröffentlich im Sommer 2023, die von der Idee gut gemeint und positiv und vor allem dem Hintergrund einer rechtsextremen Regierung in Israel zu verstehen ist. Allerdings wird auch hier wieder einseitig der Staat Israel kritisiert und als Grund betrachtet, dass es keinen Frieden zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer gibt. Zeitgleich fanden in Gaza die sogenannten We want to Live-Proteste statt, Demonstrationen gegen die Hamas, die im Unterschied zu dieser Petition keinerlei mediale Aufmerksamkeit erhielten.
Und dann kommt genau aus diesem Kreis der sich als kritisch verstehenden, aktivistischen Forschenden das gebetsmühlenartige Wiederholen von Meinungen, deren zutiefst antiisraelisch argumentierender Kern in Kürze besagt (meine Zusammenfassung), die dominierende Erinnerung an den Holocaust trübe den Blick auf andere Massenverbrechen; Antisemitismus ist eine Form des Rassismus, was zwar nicht der Realität entspricht, derzeit aber ebenfalls eine sehr beliebte Deutung ist; die dominante Erinnerung an den Holocaust ist dafür verantwortlich, dass die Kolonialverbrechen, vor allem auch während des ersten deutschen Genozids in Deutsch Südwestafrika (heute Namibia), keine Position im deutschen Erinnerungsdiskurs haben. Die Lösung sei demnach eine „multidirektionale Erinnerung“ (Michael Rothberg), die eigentlich das macht, was bereits seit vielen Jahren an der Basis in Gedenkstätten oder Gedenkinitiativen Alltag ist, aber vielleicht noch nicht in Teilen des Elfenbeinturms angekommen ist. Darüber hinaus sorgt die JDA dafür, dass man Gaza mit dem Warschauer Ghetto oder einem KZ vergleichen kann, was eine eklatante Weigerung ist, sich mit Gaza zu beschäftigen, wo eine Zweiklassengesellschaft existiert, in der die Zugehörigkeit zur Hamas über den gesellschaftlichen Aufstieg und Zukunftschancen entscheidet.
„Pro-palästinensische“ Encampments an Universitäten und Hochschulen weltweit – in der Realität viel zu oft Terrorverherrlichungen – seien aus „Sorge“ um Palästinenser errichtet worden (Bundespressekonferenz im Mai 2024), obwohl seit mehr als einem Jahr klar ist, dass diese gezielt auch durch die Islamische Republik Iran finanziell gefördert werden. Und wenn es in Deutschland nicht so viel Schuldgefühl gäbe, dann würde auch hier verstanden werden, dass es sich bei dem Krieg um Gaza um einen Völkermord handelt. Dass dies der erste Völkermord der Geschichte ist, den die Opfer jeder Zeit beenden könnten (Geiseln freilassen, Waffen niederlegen und bedingungslose Kapitulation), stört bei dieser Sichtweise nicht. Dieser Positionierung ist es immer inhärent, anerkannte wissenschaftliche Definitionen anzugreifen, sie aber nicht wirklich zu verbessern. Und eigentlich ist es die Staatsgründung Israels, die das Problem ist, denn die hat zu Nakba geführt. Darum gibt es jetzt mit dem „Genocide und Holocaust Studies Crisis Network“ ein neues aktivistischen Netzwerk unter Akademikern, das alle diese empirisch nicht belegten Positionen vorantreibt und neue Definitionen, inklusive in einem überwiegend ahistorischem Schritt die Nakba als Massenverbrechen definiert, ohne die historische Genese dieses Terminus und seine Definition in der palästinensischen Gesellschaft zu beachten. Unschwer ist hier die Handschrift einer israelischen, antizionistischen Perspektive zu erkennen, die lieber Israel als jüdischen Staat aufgelöst sieht als Palästinenser als Subjekte der Geschichte zu sehen. Zudem kolportiert diese Sichtweise auch die These der „Opfer der Opfer“, die der „jahrzehntelangen gemeinsamen Gewaltgeschichte beider Völker“. Ausgeblendet werden dann immer die ethnischen Säuberungen in arabischen Ländern, wo heute nahezu keine Juden leben, im Zuge der Staatsgründung Israels.
Lange Rede – kurzer Sinn, der Holocaust, Israel, Juden – alles ist zu viel, zu viel an Aufmerksamkeit und Dominanz. Der Holocaust hat buchstäblich unsere Erinnerung kolonisiert, daher muss Gaza von deutscher Schuld befreit werden. Und wenn es eines gibt, was bekämpft werden muss, dann ist es der europäische Kolonialismus.
Inhärent allen diesen „neuen“ Definitionen, Sichtweisen und Erklärungen sind zwei Dinge. Zum einen sind sie auf den Holocaust angewiesen, denn ohne ihn sind die Thesen und Theorien nicht öffentlichkeitswirksam. Zum anderen nehmen sie Palästinenser nicht als Akteure der Geschichte wahr, sondern sehen sie einseitig als hilflose Opfer ohne agency. Mittlerweile ist es derselbe Kreis von Antisemitismus-, Holocaust und Genozidforschern, der von einem Genozid oder einem Scholastizid in Gaza spricht, aber – und dies ist entscheidend – nicht nur unkritisch jegliche Information, die von Seiten der Hamas publiziert wird als bare Münze nimmt, sondern auch einen simplifizierenden und statischen Blick auf Palästinenser einnimmt, der nicht progressiv ist, sondern seit Jahrzehnten, spätestens seit dem Krieg 1967, einseitig palästinensischen Terror als legitimen Widerstand definiert und NULL Kritik an palästinensischen Führungen, Entscheidungen, Fehlern und politischen Äußerungen übt. Das definiert nicht nur den Staat Israel als die Wurzel allen Übels im Nahen Osten, sondern wird Palästinensern nicht gerecht. Auch die Massaker des 7. Oktober 2023 im Süden Israels, die nahezu identisch mit denen des Islamischen Staates sind, werden umgedeutet, wie so vieles, was sich mittlerweile als „progressiv“ bezeichnet: „Der verabscheuungswürdige Angriff der Hamas muss als Versuch gewertet werden, die Aufmerksamkeit auf die Notlage der Palästinenser zu lenken.“ (Omer Bartov). Kritik an dieser Sichtweise wird diffamiert, ignoriert, blockiert oder gelöscht.
Seit dem 7. Oktober melden sich aber auch palästinensische Aktivistinnen und Aktivisten in der Diaspora zu Wort, die trotz Gefahr für Leib und Leben, auch das ihrer in Gaza oder Ägypten lebenden Familien, anstelle des „Widerstands-Narrativ“ einen dritten Weg jenseits altbekannter, polarisierender Narrative einschlagen. Sie zeichnen ein differenziertes Bild der palästinensischen Gesellschaft in Gaza und lehnen das „Hamas als legitimer Widerstand“-Narrativ vehement ab, attestieren dem Großteil der pro-palästinensischen Demonstrationen weltweit puren Judenhass und thematisieren die Verbrechen der Hamas und ihrer Unterstützer an der Zivilbevölkerung in Gaza. Diese wiederum, die Folter, die Morde, die Misshandlungen und die Unterdrückung der Hamas und ihrer Unterstützer von Zivilisten in Gaza, werden nicht nur in der Partei DIE LINKE beschwiegen, auch unter den genannten, in der Selbstwahrnehmung progressiv agierenden Akademikern werden sie ignoriert, obwohl kritische Palästinenser seit mehr als einem Jahr darauf aufmerksam machen (https://www.newsweek.com/why-does-international-media-ignore-hamas-crimes-against-palestinians-opinion-1919290). Diese Positionen, die auf Frieden abzielen, finden nur langsam Eingang in den politischen Diskurs, da sie dem gängigen, einseitigen Narrativ im Nahen Osten widersprechen („Schuld ist immer Israel“). Sie dürfen offenbar nicht sein.
Doch ist ihre Perspektive auf innerpalästinensisches Leben, innerpalästinensische ungelöste Probleme und Konflikte von entscheidender Bedeutung. Sie zeigt, dass „Palästinakritik“, die Palästinenserinnen und Palästinenser nur als Opfer oder Terroristinnen oder Terroristen darstellt, parallel zu einer bereits omnipräsenten Israelkritik erfolgen muss. Warum so niedrige Erwartungen an Palästinenser? Und warum werden diese Kritiker nicht in den pro-palästinensischen Diskurs aufgenommen? Im März 2025 war Hamza Abu Howidy, Friedensaktivst aus Gaza (geflohen im August 2023) in Berlin-Pankow zu Gast, wie immer war dies nur unter Polizeischutz möglich. Gemeinsam mit dem Israeli Shay Dashevsky kämpft er für neue Perspektiven. Hamza Abu Howidy stellte die nachvollziehbare Frage, warum er sich verstecken müsse, wo doch draußen auf den Straßen Israelhass und Terrorverherrlichung an der Tagesordnung sind.
Eine Antwort gab es nicht. Ein anderes Beispiel ist Ahmed Al Khatib aus Gaza, der in den USA lebt und mit „Realign for Palestine“ eine zukunftsgewandte Initiative gegründet hat, trotz seiner eigenen familiären Verluste im Krieg in Gaza. Er zählt zu einer selbstkritischen Generation von Palästinensern, die neue Weg einschlagen möchte. Sie hinterfragt einen Diskurs, der seit Jahrzehnten in der palästinensischen Gesellschaft, aber auch in der Diaspora, die Deutungshoheit übernimmt. Dessen Regel besagt: „Schuld ist immer Israel“. Im Unterscheid zu den Initiatoren der JDA wollen sie Palästinakritik üben und müssen so nicht den Staat Israel diffamieren oder dämonisieren. Sie wollen ihn auch nicht auflösen oder zerstören, werden aber genau deswegen als „Zionisten“ verunglimpft. Es gibt noch mehr von ihnen, dazu zählen die Aktivistin Yasmine Mohammed, Mo Husseini (USA), John Aziz in Großbritannien, aber auch Aktivisten aus anderen arabischen Ländern, wie die Ägypterin Dalia Ziada oder Rawan Osman, die in Deutschland lebt und einen syrisch-libanesischen Hintergrund hat. Ein weiteres Beipsiel ist der Mediziner und Politikwissenschaftler Huthifa Al Mashhadani, Leiter der Deutsch-Arabischen Schule in Berlin und Vorsitzender des Deutsch-Arabischen Rates. Er setzt sich für Frieden mit Israel ein und wird deswegen bedroht und verunglimpft.
Sie alle brechen ihre Schweigen zugunsten eines neuen Diskurses, der den Nahostkonflikt eben nicht nur manifestiert, aber keine Lösungen anbietet außer derjenigen, die der antizionistischer Israelis entspricht, die die einzigen sind, die in Deutschland so gerne gehört werden ob ihrer einseitigen Kritik an Israel. Diese antizionistischen Positionierungen weigern sich bislang, kritische palästinensische Perspektiven zu diskutieren oder in den Diskurs aufnehmen. Dies zeigte das jüngste Beispiel des Philosophen Omri Böhm. Israelische, jüdische Antizionisten sind gern gesehene und gehörte Gäste in Deutschland, wie auch Amos Goldberg oder Bashir Bashir, aber auch die dominante Stimme von Omer Bartov, was den angeblichen Völkermord in Gaza betrifft.
Die kritischen palästinensischen-arabischen bzw. arabischen Stimmen zeigen ganz klar, dass es keine „Jerusalem Declaration“ braucht, die angeblich den Antisemitismus (den es immer nur von rechts gibt) bekämpfen möchte, ihm aber gleichzeitig Tür und Tor öffnet. Dies kritischen palästinensischen und arabischen Stimmen diffamieren Palästinenser nicht einseitig, wie es beliebt ist unter (israelischen) Antizionisten mit Bezug zu Israel. Sie kritisieren vielmehr Israel ohne sich antisemitischer Verunglimpfungen und Stereotype zu bedienen.
Sind sie nicht die tatsächlich Progressiven, da sie Brücken zwischen den jahrzehntelangen, polarisierenden Diskursen schlagen?
Dr. Verena Buser ist assoziierte Forscherin des Holocaust Studies Program am Western Galilee College, Israel und lebt in Berlin.