Das Überleben nach dem Überleben

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Aus Buchenwald befreite Kinder, Foto: United States Holocaust Memorial Museum, Photograph #26151

Vor genau 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Doch für Jüdinnen und Juden in Europa gab es noch lange keine Normalität. Wer aus den Lagern befreit wurde, sich verstecken oder rechtzeitig vor den Nazis hatte fliehen können, sah sich mit einzigartigen neuen Herausforderungen konfrontiert.

Von Ralf Balke

Am 8. Mai 1945 schwiegen die Waffen. Mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten ging der Zweite Weltkrieg nun offiziell zu Ende. Die Herrschaft der Nationalsozialisten war damit Geschichte. Gleiches galt für die Verfolgung und systematische Ermordung der Jüdinnen und Juden überall im deutschen Machtbereich, auch sie war vorbei – zumindest theoretisch. Zwar hatte ihnen der Sieg der Alliierten die Befreiung gebracht, und das manchen schon in den Monaten zuvor, als sowjetische, britische und amerikanische Soldaten ein Konzentrationslager nach dem anderen entdeckten und die Menschen, die sich dort noch befanden, retteten. Aber immer noch verstarben in den ersten Wochen nach dem 8. Mai 1945 Zehntausende von ihnen an Krankheiten, Entkräftung und den Folgen jahrelanger Haft oder Zwangsarbeit. Von einer „Stunde Null“, die die deutsche Seite in den Jahren nach 1945 so gerne beschwören sollte, konnte für Jüdinnen und Juden deshalb schwerlich die Rede sein. Zudem gab es für sie weder in Deutschland, noch im östlichen Europa eine Rückkehr zur Normalität. Und nicht wenige von ihnen wurden erneut Opfer von antisemitischer Gewalt, Ausgrenzung und Vertreibung.

Es gibt daher keine Formel, auf die sich die jüdischen Erfahrungen in der Zeit nach dem 8. Mai 1945 bringen lassen. Wer beispielsweise ursprünglich aus Frankreich oder Deutschland stammte, sah sich mit anderen Herausforderungen konfrontiert als polnische oder rumänische Juden. Was sie aber alle verbinden sollte, war die Erkenntnis, dass man oftmals der einzige Überlebende eines großen Familienverbands war, niemand oder nur noch wenige Personen aus dem früheren sozialen Umfeld noch lebten und man auch nicht unbedingt mit offenen Armen willkommen geheißen wurde, falls es einen in seinen ursprünglichen Heimatort verschlug. Fast überall in Europa herrschte eine Indifferenz gegenüber dem Schicksal der Ermordeten und der Überlebenden, nicht selten gepaart mit der Wut der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft darüber, dass es immer noch Jüdinnen und Juden gibt, die lebten und deshalb Ansprüche auf ihren alten Besitz anmelden könnten.

Besonders ausgeprägt war diese Haltung bei den besiegten Deutschen, die sich gerne selbst als Opfer betrachteten. Hannah Arendt bringt dies in ihrem 1950 erschienen Essay „Besuch in Deutschland – Die Nachwirkungen des Naziregimes“ auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Die Gleichgültigkeit, mit der sich die Deutschen durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert.“ Was gleichfalls festgestellt werden kann: Die Forderungen nach einem Schlussstrich, also einem Ende der Debatten um die Verbrechen der Nationalsozialisten, setzte schon unmittelbar nach dem 8. Mai 1945 ein. Oder anders formuliert: Mit der „Stunde Null“ begann zugleich das große Beschweigen der Taten.

Trotzdem kehrte jüdisches Leben nach Deutschland zurück, mancherorten sogar schon vor dem eigentlichen Datum der Kapitulation. So gründete sich in den Trümmern ihrer Synagoge auf der Roonstraße die jüdische Gemeinde in Köln bereits am 29. April 1945 von Neuem. Noch im selben Jahr kam es zur Wiederbelebung von insgesamt 51 jüdischen Gemeinden, ein Jahr später gab es bereits 67. Und zwei Monate nach dem 8. Mai 1945 wurde das Zentralkomitee der befreiten Juden in der amerikanischen Zone ins Leben gerufen, aus dem fünf Jahre später der Zentralrat der Juden in Deutschland werden sollte. Doch das Ganze war nicht als ein Neuanfang mit Zukunftsperspektive geplant. Man sprach von „Liquidationsgemeinden“, also „Gemeinden in Abwicklung“. Ihr Ziel war nicht der Aufbau neuer Institutionen, sondern von Strukturen, die Jüdinnen und Juden, die es irgendwie nach Deutschland verschlagen hatte, bei der Auswanderung in ein anderes Land unterstützen.

Wer als deutsche Jüdin oder deutscher Jude nach Deutschland zurückkehrte, hatte mit einigen Besonderheiten vor Ort zu kämpfen. Allein in der britischen Zone zählte man 1947 rund 5.000 solcher Überlebenden oder aus dem Exil Zurückgekehrten. Doch die Besatzungsmacht betrachtete diese Personengruppe ausschließlich als Deutsche wie alle anderen, weshalb es keine besondere Unterstützung durch die Alliierten oder die United Nations Relief und Rehabilitation Administration (UNRRA) gab. Die deutschen Behörden sollten für sie zuständig sein, was eine zusätzliche Herausforderung bedeutete, weil in den zuständigen Amtsstuben oftmals weiterhin die ehemaligen Nazis saßen, die nun über die Unterstützung von traumatisierten Menschen zu entscheiden hatten, deren Eigentum zuvor „arisiert“ worden war. Hinzu traten bei der Unterstützung aus heutiger Sicht irritierende Fragen in den Vordergrund, wie zum Beispiel, wer überhaupt Jude sei und damit anspruchsberechtigt für Lieferungen internationaler Organisationen wie dem American Jewish Joint Distribution Committee. Sollte man die jüdischen Religionsgesetze zur Grundlage nehmen oder etwa die nationalsozialistische Rassengesetzgebung, nach der Menschen klassifiziert wurden? Denn oftmals galt die Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gemeinde als Kriterium bei der Vergabe von Hilfsgütern, weshalb flexiblere Lösungen gefunden werden mussten, die auch anderen zugute kommen sollten, die von den Nazis als Juden verfolgt wurden.

Dazu gesellten sich weitere Schwierigkeiten. Für deutsche Juden aus Königsberg, Breslau oder Stettin war eine Rückkehr keine Option mehr, weil ihre alte Heimat und damit auch ihr früherer Besitz sich jetzt auf sowjetischem oder polnischem Territorium befand, was eine Restitution absolut unmöglich machte. Damit teilten sie in gewisser Weise das Schicksal der nichtjüdischen Deutschen, die nun aus diesen Gebieten vertrieben werden sollten oder bereits geflohen waren. Und ein Neuanfang in der sowjetisch-besetzten Zone war allenfalls für überzeugte Kommunisten eine Option, die darin die Möglichkeit sahen, an der Entstehung eines „Neuen Deutschlands“ mitwirken zu können – vorausgesetzt, sie betonten ihr Jüdischsein nicht allzu sehr und forderten keinen „arisierten“ Besitz zurück. Deshalb kehrte man – wenn es denn Deutschland sein sollte – in erster Linie in die drei Westzonen zurück.

Aber auch andere Jüdinnen und Juden standen nach dem 8. Mai 1945 vor dem Problem, dass sich ihre alte Heimat plötzlich in einem anderen Staat befand. Das traf vor allem auf jene zu, die aus Polen kamen, dessen östliche Landesteile nun zur Sowjetunion gehörten. Ein Neustart dort schien wenig verlockend, geschweige denn möglich. Ohnehin sahen sich polnische Juden, die entweder die Lager überlebt hatten oder sich rechtzeitig Anfang der 1940er Jahre in die Sowjetunion absetzen konnten, mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert, wenn sie nach Krakau, Warschau oder in eines der vielen kleinen Dörfer zurückkehren wollten. Ihre Häuser oder Betriebe hatten sich christliche Polen angeeignet, manches wurde verstaatlicht, so gut wie nichts zurückgegeben. Darüber hinaus ereigneten sich in zahlreichen Orten in Polen gewaltsame Ausschreitungen gegen die wenigen Überlebenden. Ein Höhepunkt war der Pogrom von Kielce im Juli 1946, bei dem mehr als 40 Schoah-Überlebende ermordet und weitere 80 teils schwer verletzt wurden. Laut Schätzungen wurden bis zum Jahr 1947 etwa 2.000 Jüdinnen und Juden Opfer solcher Gewaltexzesse, wie sie überall im östlichen Europa aus den unterschiedlichsten Gründen stattfanden. Die Etablierung kommunistischer Diktaturen nach sowjetischem Vorbild in Polen, Ungarn, Rumänien oder der Tschechoslowakei tat ihr Übriges, um einen Neuanfang in der ursprünglichen Heimat unmöglich zu machen.

Was folgte, war eine Fluchtwelle von Jüdinnen und Juden aus diesen Ländern Richtung Westen, vor allem in die amerikanische und die britische Zone. Zu den rund 50.000 bis 70.000 jüdischen Überlebenden, die es in den drei westlichen Besatzungszonen unmittelbar nach Kriegsende gab und als Displaced Persons galten, gesellten sich mehr als 200.000 jüdische Menschen aus dem östlichen Europa hinzu, was sowohl von der amerikanischen als auch der britischen Verwaltung als große Belastung wahrgenommen wurde, die man eigentlich möglichst schnell wieder loswerden wollte. Aber auch die in Deutschland gestrandeten Jüdinnen und Juden wollten nicht bleiben, sondern weiter nach Palästina oder in die Vereinigten Staaten, was aber aufgrund der restriktiven Einwanderungspolitik ein Problem sein sollte.

Erschwerend kam der unterschiedliche Umgang mit diesen Menschen. Während Großbritannien Juden generell den Status als Displaced Persons verweigerte und sie weiterhin als Staatsbürger ihres Herkunftslands betrachtete, weil man ihnen so die Auswanderung in das britische Mandatsgebiet Palästina unmöglichen machen wollte, sah der Umgang in der amerikanischen Zone anders aus. Dort erkannte man sie problemlos als Displaced Persons an und arbeitete ebenfalls eng mit jüdischen Hilfsorganisationen zusammen. Erst die Gründung des Staates Israel 1948 sowie eine flexiblere Haltung Washingtons bei der Vergabe von Einreisepapieren sollte ein Ende dieses Kollektivs von Menschen einläuten, die auf unterschiedlichste Art und Weise die Jahre bis 1945 überlebt hatten. Nur eine Handvoll von ihnen verblieb in Deutschland.

Linktipp:
www.after-the-shoah.org – Jüdische DP Lager und Gemeinden in Westdeutschland

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