Der Aufstieg und Fall des jüdischen Prostituiertenringes von Buenos Aires 1882-1930
I am already on the platform with my belongings, and my man from Buenos Aires stands in the car’s vestibule, beaming with his smooth, self-satisfied countenance, a fragrant cigar between his teeth. As the train pulls away, my ears ring with his last words, “Ha-ha! Well, I’m not peddling Hanukkah candles.”
Sholem Aleichem: The Man From Buenos Aires
Von Juraj Schick

Am 2. Juni 1928 erschien Raquel Liberman auf dem Polizeikommissariat des siebten Bezirks in Buenos Aires und erklärte gegenüber dem Chefinspektor, Julio L. Alsogaray, dass ihr Versuch, die Prostitution aufzugeben, gescheitert sei. Ursache dafür waren die Machenschaften von Jose Saloman Korn und der Sociedad Israelita de Socorros Mutuos Varsovia, Barracas-Buenos Aires (Jüdische „Warschauer“ Gesellschaft für gegenseitige Hilfe, Barracas-Buenos Aires), spätere in Zwi Migdal unbenannt, eine Organisation, deren wahrer Zweck die Koordinierung von jungen jüdischen Frauen zur Prostitution war. Sie sei 1924 direkt von Warschau nach Buenos Aires gereist, in Begleitung eines Zuhälters, der sie zur Prostitution gezwungen habe. Ihre Kinder und den verstorbenen Mann sollte sie bei der Einreise verschweigen. Sie habe für einen Zuhälter namens Jamie Cissinger gearbeitet und ihm einen Prozentsatz ihrer Einnahmen abgeben müssen. Nach fünf Jahren eröffnete sie mit dem gesparten Geld einen Antiquitätenladen. Nachdem sie kurze Zeit dort gearbeitet hatte, sei ein Fremder in ihr Geschäft gekommen, behauptete Liberman, habe begonnen, ihr den Hof zu machen und sie überzeugt, ihn zu heiraten. Nach der Hochzeit erkannte sie, dass sie in eine Falle der Varsovia-Gesellschaft geraten war, um sie wieder in ihre Reihen zu bringen. Ihr neuer Ehemann war ein Beschaffer der Gesellschaft, und er nutzte die rechtliche Bindung mit ihr, um – mit der Organisation im Hintergrund – Druck auszuüben und sie zur Rückkehr in die Prostitution zu zwingen.
Die Anschuldigungen von Raquel Liberman kamen – ob als Koinzidenz oder Absicht – zur rechten Zeit, am Beginn des politischen Umbruchs in Argentinien und stiess rechtliche Untersuchungen an, die 1930 zur Verhaftung von über hundert Mitgliedern der Zwi-Migdal-Gesellschaft und zur Auflösung des rechtlichen und politischen Status’ der Organisation führte. Es war eben dieser Polizeikommissar Julio Alsogaray, der die detaillierte Beschreibung des Aufstiegs und Niedergangs der jüdischen Prostitutionsringes in Argentinien und seiner weltweiten logistischen Verkettung geliefert hat.
Bekannt und geduldet
Zwischen 1875 und 1936 war Buenos Aires ein Zentrum der Prostitution. Durch die politischen Verwerfungen und wirtschaftlich schwierige Situation in einzelnen osteuropäischen Staaten, sowie durch die in den christlichen Mehrheitsgesellschaften nicht anerkannte jüdische Ehegesetze, die durch den Trick der „stillen chuppah“ oder „falschen Heirat“ Frauen in eine ungeschützte Lage bringen konnten, sahen sich Jüdinnen, die mehrheitlich unter Vortäuschung von falschen Tatsachen aus Europa nach Argentinien und andere südamerikanische Länder gelockt wurden, gezwungen, sich in von jüdischen Zuhältern gegründeten und geführten Bordellen zu verdingen. Dabei verlief der Menschenhandel – als Phänomen unter der Bezeichnung „jüdische weisse Sklaverei“ bekannt – nicht im Verborgenen. Der hier behandelte Fall des Prostituiertenringes von Buenos Aires steht exemplarisch für ähnliche Fälle auch in anderen Ländern Südamerikas, wie z.B. in Brasilien oder Uruguay.
Der erste Artikel, in dem die „weisse Sklaverei“ thematisiert wurde und den Handel ausdrücklich mit Juden in Verbindung bringt, erschien am 30. Mai 1886 . Die britische National Vigilance Association, die grösste und einflussreichste, in den 1880er Jahren gegründete Organisation zur Bekämpfung der Prostitution, berichtete 1891, dass „ein sehr grosser Handel mit europäischen Mädchen zum Zwecke der Prostitution in Buenos Ayres betrieben wird“ . In dieser Zeit war Buenos Aires auf der ganzen Welt als freizügige Stadt bekannt, mit Bordellen, in denen sich Tausende ausländische Prostituierten verdingten. Die Prostitution in regulierten Bordellen war in Argentinien von 1875 bis 1936 legal.
Albert Londres verwies in „The Road to Buenos Aires“ darauf, dass Buenos Aires‘ berüchtigtes, mit Bordellen übersätes Hafenviertel La Boca als „das Königreich der Polacken“ bezeichnet wurde. In Argentinien war der Begriff polaco oder polaca ein Synonym für Juden in der Prostitution. Londres beschreibt im Buch die Reise eines jüdischen Zuhälters nach Polen und stellt dar, wie mit verarmten Familien über die Köpfe ihrer Töchter hinweg, falsche Eheverträge der „stillen chuppah“ ausgehandelt wurden, oft auf Empfehlung von Heiratsvermittlern, die sie als ganzjährlich festangestellte Agenten bezahlten. Das Buch wurde zum Bestseller in den USA, trug aber auch zum Wachstum des Antisemitismus’ bei.
Es ergaben sich aber auch Fragen nach den Ursachen und Gründen des über lange Zeit weitgehend ungestörten Menschenhandels. Die Erklärung liegt in der komplexen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation in Osteuropa während der Umbruchzeit in Folge der Hegemonialkämpfe im östlichen Mittelmeer, in Wechselwirkung mit den spezifischen Entwicklungen in den Aufnahmeländern Südamerikas.
Das System der jüdischen Rayone im russischen Reich
Im als Krimkrieg bekannten Militärkonflikt zwischen 1853 und 1856, zwischen dem Russischen Reich einerseits und dem Osmanischen Reich und dessen Verbündeten Frankreich und Grossbritannien andererseits, erlitt Russland eine katastrophale Niederlage. Der noch während des Krieges auf den Thron gestiegene Zar Alexander II. (1855–1881) hat nach dem Kriegsende eine Kommission ernannt mit der Aufgabe, Gründe, die zur Niederlage führten zu identifizieren und die notwendigen Korrekturschritte zu benennen. Die Expertise legte offen, wie rückständig das Land in der Technik und in seiner ganzen gesellschaftlichen Struktur im Vergleich mit den Ländern, die die Errungenschaften der industriellen Revolution wirksam implementierten, war und führte die notwendigen Reformen in Verwaltung, Bildung und in der Armee auf.
Der Rayon – russisch „cherta postoiannogo zhitel’stva evreev“–, als die Gebiete des Russischen Reiches, in denen Juden eine dauerhafte Ansiedlung gestattet war, galt als die grösste gesetzliche Einschränkung, die den Juden des Reiches auferlegt wurde. Durch Zarin Katharina II. (1762–1796) aus Staatsräson, um Eigeninteressen der russischen Kaufmannschaft gegen den Zustrom jüdischer Kaufleute aus den 1772 von Polen annektierten Provinzen Weissrusslands zu schützen, um 1790 gegründet, umfasste es ein Gebiet von ca. 1.2 Millionen km2. Die „bekannten Betrügereien und Lügen der Juden verhindere den Konkurrenzkampf mit ihnen“, und Juden seien in den Schmuggelhandel verwickelt, klagten die Moskauer Kaufleute. Die Unterstellungen führten dazu, dass mit dem Ukas von 1790 restriktive Massnahmen ergriffen wurden, die jüdische Kaufleute zwangen, ihren Sitz mindestens 50 Werst (ca. 53 km) von den westlichen Grenzen entfernt zu verlegen. Die rechtliche Ungleichheit der Juden wurde kodifiziert mit einem besonderem, nur für sie geltenden Rechtssystem. Der Aufenthalt im Landesinneren war ihnen verboten. Mit den Statuten von 1804 und 1835 wurden die Provinzen festgelegt, in denen Juden ausdrücklich wohnen durften. Sie erstreckten sich über Teile von Litauen, Ukraine, das jetzige Weissrussland, über Moldawien und Bessarabien. Der Rayon umfasste nicht die Provinzen des von Russland kontrollierten Königreichs Polen (sog. Kongresspolen). Auf der anderen Seite wurde Juden aller sozialen Schichten die Bewegungsfreiheit innerhalb des Rayons gewährt, ein Recht, das nichtjüdischen Mitgliedern der grössten Klasse der Stadtbewohner, den Meschtschanen, (Bürgern), paradoxerweise nicht zukam.
Nach der Volkszählung im Jahre 1897 betrug die Gesamtbevölkerung Russlands 126’368’827, davon 5’189’401 oder 4,13 Prozent Juden. Der grösste Teil der russischen Juden lebte im Siedlungsgebiet, das nur ein Drittel des Gesamtgebietes einnahm. Ihr Anteil im Verhältnis zu der christlichen Bevölkerung betrug im Rayon 11,46 Prozent, ausserhalb von diesem hingegen nur 0,38 Prozent, in Kongresspolen 14.01%.
Im Rahmen der Reformen, angeordnet durch Alexander II., wurden die Rayonbeschränkungen für die Kategorien von Juden, die als wirtschaftlich produktiv galten oder der offiziellen Agenda der jüdischen Akkulturation in die russische Gesellschaft folgten, gelockert. Die Reformen brachten für die jüdische Oberschicht in der Tat viele Vorteile. Insbesondere jene, die fähig waren, beim Aufbau eines modernen Finanzwesens mitzuwirken und die, die mit Beherrschung moderner Produktionsmethoden zur Industrialisierung Beitrag leisten konnten wurden als ökonomisch nutzbringend betrachtet und genossen Privilegien. Insbesondere der Wissenstransfer im Bankenwesen aus Westeuropa nach Russland erwies sich Dank den vielfach bestehenden Geschäftsverbindungen mit jüdischen Bankhäusern in Grossbritannien, Österreich-Ungarn oder Preussen als für die dynamischen jüdischen Kaufläute vorteilhaft.
Die Wirtschaftskrise und ihre Folgen
Durch die eingeschränkte Mobilität der jüdischen Bevölkerung verbesserte das Edikt Alexanders II. auch die Lage der im Rayon zusammengedrängter jüdischen Handwerker und Kleinhändler nicht wesentlich. Die nur unscharfe Formulierung der Gesetze bot den örtlichen Verwaltungen viele Gelegenheiten zu deren missbräuchlichen Ausführung. Jüdische Familien mussten damit rechnen, dass ihre Kinder, wenn sie erwachsen waren, in den Rayon zurückgeschickt wurden, wenn sie nicht einen durch den Staat für förderungswürdigem befundenen Beruf ergriffen. Nur 2 Prozent der jüdischen Handwerker im Rayon und in Polen haben daher die Chancen ergriffen, die ihnen das neue Gesetz nominell bot.
Doch es gab auch weitere, interne und externe Faktoren, die zur Verarmung der jüdischen Bevölkerung beitrugen. Einer der wichtigsten internen Faktoren war die demografische Explosion: Die jüdische Bevölkerung des Reiches verfünffachte sich zwischen 1800 und 1900. Die übermässige Konzentration von Juden auf ein enges Spektrum von Berufen, wie Kleinhandel oder bestimmte handwerkliche Bereiche, führte in den Krisenzeiten zur Unterbietung in Lohnfragen und Arbeitslosigkeit. Der Anteil der jüdischen Schneider an der Gesamtzahl der jüdischen Handwerker beispielsweise betrug 46,6 %.
Die als Grosse Depression bezeichneten Wirtschaftskrise (1873 und 1896), die als Folge der Spekulationen im Banken- und Eisenbahnwesen mit dem Börsenkrach in Wien begann und sich in ganz Europa bis nach USA fortpflanzte, traf Mitte der 1880er Jahre auch den Rayon und Kongresspolen mit voller Härte. Als Beispiel kann die Situation in der polnischen Stadt Bialystok, bekannt für ihre Textilindustrie, dienen: Im Jahr 1886 gab es in dieser Region rund 150 Fabriken, von denen die Hälfte in jüdischer Hand war, ein Jahr später sank die Gesamtanzahl auf 98. Durch die Krise besonders hart betroffen waren insbesondere die wenig ausgebildeten und daher in der höherwertigen Textilveredelung nicht einsetzbaren jüdischen Arbeiter getroffen.
Jüdische Prostitution war in Kongresspolen kein unbekanntes Phänomen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreiteten sich Prostitution, Sexhandel und sexuelle Sklaverei in Warschau. Ähnlich zum Handwerk wurde auch die Prostitution segmentiert. Während in Kongresspolen und Warschau insgesamt 72,7 % der Prostituierten katholisch und 21,36 % jüdisch waren, betrug der Anteil der jüdischen Prostituierten in Warschau im 1874 zwei Drittel; rund 75 % aller Bordelle in Warschau wurden 1889 von Juden betrieben. Diese Aktivitäten wurden meist von der jüdischen Unterwelt dominiert, und ihre Existenz verursachte viele Spannungen und Kontroversen innerhalb der polnisch-jüdischen Gemeinschaft Warschaus. Die Ursachen der gelegentlich auftretenden Gewaltausbrüche sind nicht bekannt, aber möglicherweise auf politische Aktionen der organisierten jüdischen Arbeiterschaft („Bundisten“) zurückzuführen. Laut Laura Engelstein wurden die Zuhälter von den Bundisten oft als Agenten der „Ochrana“ (russische zaristische Polizei) wahrgenommen.
Die Spannungen zwischen den sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die die Grossen Reformen einleiteten, und dem Paternalismus des autokratischen Systems verschärften sich. Sie kulminierten am 13. März 1881, als Alexander II., der vermeintliche Zarenbefreier, durch die anarchistischen Sozialrevolutionäre der „Narodnaja Wolja“ („Volksfreiheit“), – nach vorangegangenen sieben misslungenen Versuchen – ermordetet wurde.
Unmittelbar danach begannen Unruhen, begleitet von Pogromen , zuerst in Südrussland, dann in der Südukraine, in Elizavetgrad (heute Cherson) und dessen Umgebung, und sie verbreiteten sich weiter über Kiew bis tief nach Russland. Der Schrei einer jungen Frau „Der jüdische Kneipier wollte mir Blut abzapfen!“ soll angeblich der Auslöser der ersten Ausschreitungen gewesen sein und weckte Erinnerung an frühere Ritualmordlegenden. Es war hauptsächlich der Neid auf die erfolgreiche, im Bankwesen tätige jüdische Oberschicht, der den Hass schürte, aber auch die Wut über das manchmal als allzu tüchtig empfundene Geschäftsgebaren bestimmter jüdischer Händler, insbesondere in der Textilindustrie. Hinzu kam die für die polnischen Nationalisten als beleidigend angesehene und im russischen Kernland nicht geltende Gleichgestellung von Juden mit ethnischen Polen. Solche antisemitischen Regungen führten zu den Exzessen, bei welchen der Mob begann, jüdische Geschäfte und Wohnungen zu zerstören.
Die auf Befehl von Alexander III. im gleichen Jahr gebildeten Sonderausschüsse in den von Juden bewohnten Bezirken hatten zu bestimmen, „welche Arten von jüdischer wirtschaftlicher Tätigkeit auf das Leben der allgemeinen Bevölkerung einen schädlichen Einfluss haben.“ Das Ergebnis war die „zeitlich begrenzte Verordnung“, das berüchtigte Maigesetz vom 3. Mai 1882, mit dem man den Forderungen den russischen Händlern nach der Beseitigung der jüdischen Konkurrenten entgegenkam. Demnach wurde u.a. festgesetzt, dass den Juden verboten war, sich ausserhalb von Städten und Kleinstädten niederzulassen, dass die ausserhalb von Städten und Kleinstädten im Namen von Juden abgeschlossenen Kauf- und Pachtverträge ungültig waren und dass Juden an Sonntagen und den russisch-orthodoxen Feiertagen keinen Handel treiben durften.
In Folge der Restriktionen und Pogrome wuchs die Auswanderung. Die amtliche russische Statistik gibt keine Auskunft über die Auswanderung. Die Register bestimmter Häfen geben zwar Auskunft über die Einschiffung von Auswanderern, nicht aber über deren Nationalität oder Religion. Als die wichtigsten Zielländer der Auswanderer galten die USA, Brasilien, Argentinien und Südafrika. Trotz der aussagekräftigen Statistiken waren sich die Hafenbehörden in den Zielländern einig, dass bis in die 1890er Jahre fast ausschliesslich russische Juden die Einwanderer in diese Länder waren.
Die jüdischen Parallelgesellschaften von Buenos Aires
Argentinien wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Liberalen, eine kleine, frankophile, durch wissenschaftlich-positivistische Ideen beeinflusste Elite der Gesellschaft beherrscht. Als unter der Führung von General Roca die argentinische Armee die autochthone indianische Bevölkerung aus ihren Gebieten vertrieb, wurden deren riesige Siedlungsgebiete durch „wichtige Persönlichkeiten“ mit guter Verbindung zur Regierung, die sogenannten Oligarchen, „akquiriert“. Was fehlte, waren Arbeitskräfte, die die Oligarchen befähigen würden, aus dem Land entsprechende Rendite zu ziehen. Als die Nachrichten über die Unterdrückung der Juden in Russland und von den Pogromen in Argentinien eintrafen, entschloss sich die Regierung, den Eigeninteressen der Oligarchie nachgebend und die grundsätzlich anti-jüdischen Stimmung in der Bevölkerung nicht beachtend, mit der Immigration russischer Juden das Problem zu lösen.
In einem Brief vom 25. August 1881 bat Samuel Navarro, der Leiter des Immigrationskommittes von Argentinien, den Chef-Immigrationsagenten in Europa, Carlos Calvo, mit den Entscheidungsträgern in St. Petersburg sofort Kontakt aufzunehmen mit dem Ziel, die Ausreise von Juden nach Argentinien anzustossen. Verfolgte russische Juden hatte sich außerdem an die spanischen Vertreter in Konstantinopel gewandt mit der Frage, ob Spanien ihnen Schutz gewähren würde. Aufgrund der positiven Reaktion von König Alfonso XII. wurden erste Gespräche aufgenommen.
Die meisten russischen Juden gingen aber 1881 weder nach Spanien noch nach Argentinien, sondern sie ließen sich in Westeuropa oder in den USA nieder. Es gab viele Gründe für das Scheitern der Initiative von Alfonso XII., z.B. die schwache Wirtschaftslage Spaniens oder die soziale Rückständigkeit der Mehrheit der spanischen Bevölkerung. Die Fragen nach der rechtlichen Stellung der russischen Juden in Spanien ergab, dass der Art. 11 der spanischen Verfassung die öffentliche Abhaltung von nicht-christlichen Gottesdiensten verbot; die Bestrebungen, diesen Artikel zu modifizieren scheiterten. Über die Situation im spanischen Südamerika verbreitete sich unter den Juden die Meinung, dass es dort nicht besser sein konnte, als in Spanien selbst – und 1881 galt Argentinien als unterentwickelt. Der Versuch, die russischen Juden 1881 in Argentinien anzusiedeln schlug zwar fehl, aber die Bemühungen der Regierung um die osteuropäischen Juden blieben bestehen. Viele Juden kamen in den 1880ern dort an, hauptsächlich aber auf Eigeninitiative.
Die sozio-politische Unterdrückung der Juden im russischen Polen des späten 19. Jahrhunderts, die ausweglose Wirtschaftslage, die jüdischen Religionsgesetze, die einer Frau ohne Einwilligung des Mannes keine Scheidung ermöglichen und die Perspektivlosigkeit schufen Bedingungen, die Fluchtversuche von jungen, jüdischen Frauen begünstigten. Tausende meist aus armen Familien stammende Mädchen und junge Frauen, deren Eltern auf ein besseres Leben für ihre Töchter hofften, liessen sich von gezielt angeheuerten jüdischen Mafiosi durch Erzählungen vom faszinierenden Leben, das sie in Übersee erwarte, beeindrucken und gingen so nach Argentinien, Brasilien, Kuba oder andere Länder Südamerikas und wurden in die Sexsklaverei verkauft. Der ganze Anwerbungs- und Überführungsprozess war wohlorganisiert.
Ein eleganter Mann, scheinbar gut erzogen, erschien in einem jüdischen Schtetl in Polen oder Russland. Er informierte die örtliche Gemeinde, dass er nette junge Frauen suche, die in den Häusern reicher Juden in Argentinien arbeiten könnten, sogar mit Aussicht auf Heirat und schaltete entsprechende Anzeigen in den Schulen. Durch die herrschende Situation verzweifelt reagierten die Eltern positiv in der Hoffnung, ihnen Töchtern einen Neuanfang in der Übersee zu ermöglichen. Die Mädchen, meisten im Alter von 13 bis 16 Jahren, bestiegen in Begleitung eines Fremden die Schiffe nach Argentinien. Ihre „Ausbildungszeit“ begann oft auf schon auf dem Schiff. Es war immer eine grausame und brutale Angelegenheit. Die meistens jungfräulichen Mädchen wurden in Käfige gesperrt, geschlagen, vergewaltigt, ausgehungert und dadurch gezielt mental gebrochen. Manchmal, um ein Einreisevisum zu erhalten, wurden sie mit einheimischen Männern verheiratet. Einmal dort eingetroffen, ohne familiären Anschluss und ohne Sprachkenntnisse, wurden sie durch jüdische „rufianos“ , entweder direkt vom Schiff oder Zug abgeholt und zu den Bordellen gebracht.
Es gab aber auch Frauen, die das Risiko bewusst auf sich nahmen. Einige von ihnen, genügend selbstsicher und mit krimineller Energie ausgestattet, haben es bis in das höchste Gremium der rufianos der „Warschauer“ Gesellschaft geschafft.
Die Ausgangsbedingungen für eine „erfolgreiche Tätigkeit“ der rufianos, insbesondere in Argentinien, waren sehr günstig: starkes Wirtschaftswachstum, die kulturelle Rolle Buenos Aires’ als „Athen von La Plata“, ein stark überproportionaler Anteil männlicher Bevölkerung und eine korrupte Beamtenschaft. Das letztere Kriterium war wichtig, weil die nach französischem Vorbild geregelte und legale Prostitution Hand in Hand mit kriminellen Aktivitäten ging. Daher war ein unkomplizierter Zugang zur Verwaltung, insbesondere zu Polizei und Gerichten vom grossen Vorteil.
Es gab mehrere von osteuropäischen Juden gegründeten Organisationen, die in den Handel mit jüdischen Frauen verwickelt waren. Aber die wichtigste und berüchtigtste jüdische Zuhälterorganisation war die Jüdische Warschauer Gesellschaft für gegenseitige Hilfe, von Barracas-Buenos Aires. Nach der Intervention der polnischen Botschaft in Argentinien 1927 änderte sie ihren Namen und wurde, um ihren Geldgeber, Luis Zwi Migdal, zu „ehren“, verkürzt „Zwi Migdal“ genannt.
Die Zuhälter schufen äusserst effektive Arbeitsmethoden sowie eine Struktur von Regeln und Kodewörtern. Die Gesellschaft verhielt sich so, als ob sie einem legalen Geschäft nachginge . Jede Frau verfügte über ihre eigene Kartei und jeder Geschäftsvorgang wurde darin perfekt dokumentiert. Die Beschaffung der Frauen, ihr Transport und ihre „Weiterverwendung“ wurde, wie im Warenhandel üblich, straff organisiert und stand unter der Leitung eines dafür Verantwortlichen. Es wurden täglich „Preislisten der angebotenen ‚Ware‘“, veröffentlicht, um, wie im normalen Handel, den Markt- und Angebotsschwankungen gerecht zu werden. Die rufianos veranstalteten Auktionen, eine Art „Fleischmarkt“, auf dem neu angekommene Mädchen nackt vor Händlern an Orten, wie dem Hotel Palestina oder dem Café Parisienne, vorgeführt wurden. Prostituierte, die ihre Kunden nicht zufriedenstellten, wurden geschlagen, mit Geldstrafen belegt oder zur Arbeit in Provinzbordellen verschleppt. 1893 enthüllte die argentinische Presse die Existenz eines 40er-Clubs von „Personen, die den Kauf und Verkauf von „weissen Sklavinnen“ hierzulande organisierten, mit Stützpunkten in Montevideo und anderswo an der Küste“. Unter ihren Mitgliedern befanden sich auch Gründer der Warschauer Gesellschaft, wie Luis Migdal, Noeh Trauman, Bernardo Gutvein und Libert Selender.

Zuhälter und Prostituierte, Madams und Bordellmanager protzten unbeschwert mit ihrem Reichtum und verheimlichten auch ihre jüdische Identität nicht, sie stellten sie offen und gern zur Schau, vor allem in den Logen des jiddischen Theaters. Um ihr soziales Ansehen zu heben beschlossen die Mitglieder von Zwi Migdal, einen Teil des „erarbeiteten“ Vermögens für den Bau von Synagogen, Gemeindegebäuden und die Entwicklung des jiddischen Theaters in Buenos Aires zu spenden.
Der Einfluss der Zwi Migdal Organisation erreichte ihren Höhepunkt in den 1920er Jahren, als die etwa 430 rufianos allein in Argentinien in 2.000 Bordelle bzw. Salons ca. 4.000 Frauen kontrollierten. Die Umlagerung der Tätigkeit führte bezeichnenderweise zur Senkung der Anzahl lizenzierter Bordelle in Odessa zwischen 1868 und 1893 von 76 auf 16, in Warschau zwischen 1889 und 1908 von 17 auf acht und in Paris zwischen 1840 und 1900 von 140 auf 50.
Die Hauptzone der Prostitution in Buenos Aires zwischen 1914 und 1930 war das Viertel Once, in dem sich, ausser einer Ansammlung von exklusiven Bordellen, auch jüdische Institutionen, Geschäfte und Wohnungen befanden. Von den 191 Prostituierten, registriert in Once, waren 147 jüdisch identifizierbar. Trotz Abgrenzungsversuchen gab es vielfach Beziehungen zwischen den jüdisch-konservativen Gemeinden und solchen Organisationen, die man teme’im nannte. Wichtige jüdische Mainstream-Institutionen, darunter die Congregación Israelita, der Tempel Max Nordau, der orthodoxe polnische Tempel, die Mikwe , das soziale Zentrum der Union Israelita Argentina, die Hauptsitze der jiddischen Tageszeitungen Di Presse und Di Yidishe Tsaitung, die jiddisch-sozialistischen Zeitung La Vanguardia, die zionistischen Organisationen Poale Sion und die Argentinische Zionistische Föderation und auch die örtliche Sektion des Jüdischen Vereins zum Schutz von Mädchen und Frauen befanden sich in oder in der unmittelbaren Nachbarschaft von Once.
Unter dem Druck der internationalen jüdischen Organisationen, die um den eigenen Ruf besorgt waren, beschlossen die konservativen jüdischen Gemeinden von Argentinien, einen Boykott von teme’im zu organisieren. Das Vorhaben konnte aber nicht gelingen, da Zuhälter und Prostituierte täglich mit anderen Mitgliedern der argentinischen Gesellschaft interagierten – mit Polizisten und Richtern, Politikern und Stadtbeamten, Ärzten und Gesundheitsverwaltern, Möbelherstellern, Wäschereien und anderen Dienstleistern. Viele der Mitglieder der „guten Gesellschaft“ waren nicht-zahlungspflichtige Kunden der Prostituierten, so dass alle kriminelle Aktivitäten der Zwi Migdal ungestört weiter gehen konnten – zu stark waren die gegenseitigen persönlichen und geschäftlichen Verknüpfungen.
Die Bestrebungen der konservativen Gemeinden bewirkten immerhin, dass die Varsovia-Gesellschaft begonnen hat, ihr Streben nach Respektabilität teilweise nach innen zu verlagern. Die so Marginalisierten wohnten zwar weiterhin in ihren Prachtvillen, aber als jüdische statusgebende Symbole dienten ihnen immer öfters Prachtgrabstätte auf einem eigenen Friedhof oder veröffentlichte Angaben über ihre Jom-Kippur-Beiträge. Besonders paradox erscheint, dass die Gründungsmitglieder der Varsovia-Gesellschaft in einem Passus der Statuten festhielten, dass „nur diejenigen aufzunehmen (seien), die einen guten Ruf haben“.
Das Ende von Zwi Migdal
Aufgrund der Anschuldigungen, die die Antiquitätshändlerin und ehemalige Prostituierte Raquel Liberman im Juni 1928 auf dem Polizeikommissariat in Buenos Aires vorbrachte, wurde eine formelle rechtliche Untersuchung der Aktivitäten der Varsovia-Gesellschaft eröffnet, die dem Leiter der Ermittlungsabteilung, Eduardo Santiago, übertragen worden ist. Santiago stand allerdings in den Diensten der Varsovia-Gesellschaft: Er legalisierte heimliche Glücksspiele, die Prostitution von Minderjährigen, den Verkauf von falschen Dokumenten und er schützte die Kriminellen und beglaubigte die Falschaussagen. Die Untersuchung hatte dem zu Folge keine Konsequenzen – das Netzwerk der Varsovia konnte ungestört weitermachen.
Die aufkommende Weltwirtschaftskrise hat aber auch Argentinien erreicht. Es schien jetzt opportun, den Fall der jüdischen Gesellschaft Varsovia neu aufzugreifen und eine umfassende Untersuchung einzuleiten. Als Leiter der Untersuchung wurde jetzt der Richter Dr. Rodriguez Ocampo ernannt, der in keinem Verhältnis zu Zwi Migdal stand. Es wurde ein Untersuchungskomitee unter der Leitung vom Steuerkommissar Dr. Luis A. Barberis gebildet, in der sowohl die für den jüdischen Bezirk Once zuständigen Kommissare Otamendi und Vieyra als auch Selig Ganapol, ein von Grossbritannien ernannter Ermittlungsbeamter der Zweigstelle der in London ansässigen Jüdischen Vereinigung zum Schutz von Mädchen und Frauen in Buenos Aires, genannt Esras Nochim (EN), vertreten waren. Das Komitee begab sich am 12. März 1930 zum Hauptsitz von Varsovia, wo ihnen der Buchhalter Jacobo Saltzman eröffnete, dass der Verein jetzt Migdal Society heisse und sich im Weiteren kooperativ zeigte. Er überreichte den Vertretern des Komitees alle Dokumente und Bücher, einschliesslich den Statuten der Gesellschaft, des Mitgliederverzeichnisses samt Telefonnummern und Zulassungen zur Führung ihres “Geschäfts“, der Buchhaltung und der Rechnungsbücher.
Der neuen politischen Stimmung hat sich auch Polizeikommissar Julio L. Asogaray angepasst und wurde daraufhin befördert. Sein zum Fall Varsovia erstellter Bericht, der zur Eröffnung des Verfahrens führte, war voll von antisemitischen Klischees im Sinne „von rassenspezifischem Verhalten der rufianos“. Die EN und die konservative jüdische Gemeinde schlossen sich im Gerichtsverfahren gegen die Zwi Migdal-Gesellschaft zusammen und äusserten sich enttäuscht über die Vielzahl von bekannten „établissements“, die der Verhaftungsrazzien aus dem Netz der Polizei schlüpften. Das Dilemma der jüdischen Gemeinden artikulierte die deutsch-jüdische Aktivistin Bertha Pappenheim bereits auf der zweiten internationalen Konferenz der Jewish Association for the Protection of Girls and Women im Jahr 1927: „Wenn wir die Existenz dieses Handels zugeben, verurteilen uns unsere Feinde; wenn wir es leugnen, sagen sie, dass wir versuchen, es zu verheimlichen.“
In der aufgeheizten Stimmung nach dem rechten Militärputsch unter der Führung von General Jose F. Uriburu am 6. September 1930 erschien auf der Titelseite der Zeitung La Critica der Zwi Migdal-Fall mit dem suggestiven Untertitel: „Der Prozess wurde unter der vorherigen Regierung blockiert, er muss weitergehen, egal, wer dabei fällt.“ Der langwierige Prozess mit 108 Häftlingen endete im September 1930 und führte zu langen Haftstrafen. Aber das Beziehungsnetz der Zuhälter blieb wirksam, auch vom Gefängnis aus. Die Verurteilten legten im Januar 1931 Berufung gegen ihre Urteile ein, worauf hin die Strafberufungskammer zu dem Schluss kam, dass es keine Beweise dafür gebe, dass die Angeklagten eine kriminelle Vereinigung gebildet hätten und ordnete, bis auf drei Personen, ihre Freilassung an. Auf die Berichte der Medien darüber reagierte die Öffentlichkeit mit grösster Empörung. Der erzeugte Druck veranlasste die Behörde, die Entlastungsentscheidung rückgängig zu machen. Man beschloss pro forma, die Zuhälter nach Uruguay zu deportieren, was aber nur eine begrenzte Wirkungskraft hatte: Die rufianos kehrten im Laufe der Jahre, einer nach dem anderen, wieder zurück, ohne ihre Tätigkeit wieder aufnehmen zu können. Die politische Lage weltweit hat sich geändert – die Ära der rufianos war abgeschlossen.