„Das hier ist eine Art Brückenexperiment“

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Foto: privat

Rehabilitationsprogramme im Loewenstein Medical Center in Ra’anana erregen weltweit Aufmerksamkeit – erst recht seit dem 7. Oktober 2023

Von Martin Jehle und Olaf Glöckner

Ra’anana, eine gut aufgestellte Kleinstadt nördlich von Tel Aviv, vereint in sich ein paar kleine Superlative: Gut begrünt und mit hoher Lebensqualität, Standort für Ableger von Hi-Tech-Firmen wie SAP, Texas Instruments, Hewlett-Packard, wie auch für die einzige Fern-Universität Israels, die „Open University“. Leicht geht dabei unter, dass hier mit dem „Loewenstein Rehabilitation Medical Center“ die einzige reine Reha-Klinik in ganz Israel beheimatet ist. Sehr wohl haben andere medizinische Einrichtungen, insbesondere große Krankenhäuser, ihre eigenen Abteilungen für Rehabilitation. Doch im „Loewenstein“, wie die Klinik oft nur genannt wird, sind Bereiche für verschiedene Krankheits- und Verletzungsbilder auf acht Etagen mit 300 stationären Betten sowie einer Tagesklinik mit 100 Plätzen vertreten: Neurologische Rehabilitation, Traumatologische Rehabilitation, Orthopädie, Onkologie und weitere. Seit mehr als 65 Jahren gibt es die in ganz Israel bekannte Einrichtung, in der auch Kinder behandelt werden.

Von Ferne betrachtet, wirkt das wuchtige Hauptgebäude im Norden der Stadt wie eine schräge Mischung aus Bürohaus und schmuckloser Ferienanlage. Doch schon beim Eintritt in das rundum begrünte Gelände warten die ersten Überraschungen. Am administrativen Eingangsbereich etwa gibt es einen Informations-Desk, der ausschließlich von Volunteers (freiwilligen Helferinnen) unterhalten wird und sich um Fragen von Interessierten und Angehörigen von Patienten kümmert. Am Tag unseres Besuches versehen Liron und Sarit hier Dienst, zwei freundlich-kommunikative Damen in ihren Sechzigern, die für jeden Ankömmling ein nettes Wort übrig haben. Eine der beiden erwähnt noch ihre Großeltern, die einst in einer Villa in Berlin-Wannsee lebten, und schwärmt vom nahen Potsdam. Im Foyer hat sich auch Dani eingefunden, Medizintechniker aus Berufung und im privaten Leben längst Pensionär – aber stets auch bereit, bei kleineren Reparaturarbeiten zu helfen.

Seit Jahrzehnten schon ist das Zentrum mit dem markanten Logo, das einen sich aus dem Rollstuhl wieder aufrichtenden Menschen andeutet, auch international eine Hausnummer. „Wir begleiten und betreuen Menschen mit unterschiedlichstem Alter und Hintergrund. Sie alle bringen eine individuelle Geschichte mit, die wir ernstnehmen. Rund 200 Freiwillige tragen – neben 750 angestellten Mitarbeitern – zu einer warmen Atmosphäre bei“, berichtet Arthur Kaziev, Leiter der internationalen Abteilung, der uns durchs Haus führt.

Die Behandlungskonzepte und -programme im Loewenstein – sei es für Unfall- oder onkologische Patienten, Kriegsversehrte oder Menschen mit Hirntraumata – gelten als so erfolgreich und verlässlich, dass Patienten auch aus dem Ausland hierherkommen. So hat das Loewenstein Center im vergangenen Jahr auch fünf verwundete Soldaten aus der Ukraine behandelt, die insbesondere Kriegsverletzungen im Bewegungsapparat mitbrachten, vorrangig mit Gliedmaßen- und Rückenverletzungen.

Getragen wird das „Loewenstein“ von „Clalit“, einer der vier großen Krankenhassen Israels, vergleichbar mit der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Der monatliche Beitrag beträgt 4,8 Prozent vom Bruttolohn der Versicherten. Ein Verwaltungsdirektor und der Ärztliche Direktor bilden zusammen mit einem Team das Management. Das ist auch dafür verantwortlich, dass das Zentrum auf Ausnahmesituationen flexibel reagieren kann. Eine solche ergab sich am 7. Oktober 2023, als Hunderte israelische Frauen, Männer und Kinder entlang der Grenze zum Gazastreifen von Hamas-Terroristen kaltblütig ermordet wurden, Tausende andere mussten schwer verletzt versorgt werden. Eine riesengroße Herausforderung schon in den ersten Stunden nach dem Hamas-Massaker, vor allem für das Soroka Hospital in Beer Sheva und für das Sheba Medical Center in Ramat Gan.

Dicht darauffolgend, wuchs der Aufnahmebedarf am Loewenstein Center dramatisch an, nicht zuletzt in der Orthopädischen Abteilung. Hier gelang es – dank großzügiger Spenden aus dem In- und Ausland –, zivile Opfer der Hamas-Massaker wie auch in den nachfolgenden Kämpfen schwer verwundete Soldaten in weit größerer Zahl aufzunehmen als üblich. In den ersten Monaten nach dem 7. Oktober waren fast die Hälfte der Patienten Soldaten, heute sind es noch um die zehn. In der Orthopädie sind drei Fachärzte tätig, doch während der letzten anderthalb Jahre musste der leitende Arzt Amir Chaim zeitweise auch allein klarkommen – mal wurde ein Kollege zur IDF einberufen, dann wieder musste ein anderer in einer Akut-Klinik aushelfen.

„Das waren stürmische Zeiten“, erinnert sich der Chirurg und Orthopäde Amir Chaim, der im „Loewenstein“ eine eigene Forschungsabteilung u.a. zu biomechanischen Behandlungsmethoden leitet, selbst aber auch häufig am OP-Tisch steht. „Mittendrin kam es auch zu einer Verlegung der Abteilung aus dem 8. Stock – dem Dachgeschoss – in einen anderen Gebäudeteil, um der Gefahr von Raketen- oder Drohnenangriffen der Hamas vorzubeugen. Ein Ärzteteam aus den USA kam zur Unterstützung. Nun hat sich der Betrieb wieder etwas normalisiert.“

Just am Tag unseres Besuches gibt es in der Orthopädischen Abteilung ein kleines Fest zu feiern: Anthony, Soldat einer IDF-Spezialeinheit, die sofort in die Kämpfe mit der am 7. Oktober in Israels Süden eingedrungenen Hamas verwickelt war, kann die Klinik nach langwieriger Therapie wieder verlassen. Er hatte im Gefecht schwere körperliche Verletzungen davongetragen, musste mehrfach operiert werden und befand sich zunächst in kritischem Zustand. Und als ob das nicht schon genügend an Trauma und Belastung war, musste Antonys Familie wegen der massiven Raketen-Angriffe der Hizbollah fast zeitgleich aus dem Norden Israels evakuiert werden.

„Als ich ins ‚Loewenstein‘ kam, hieß es, du bleibst hier zwei bis drei Monate. Am Ende wurde es ein ganzes Jahr, worauf ich nicht vorbereitet war. Ich musste viel Geduld haben, und es ging mit mir emotional lange rauf und runter“, sagt der freundlich dreinblickende, athletisch gebaute Mitzwanziger. Im Flur stehen ein paar Süßigkeiten, Kaffee, Obst und Saft bereit, während im „Abschiedsraum“ viele Ärzte, Krankenschwestern und Therapeuten aufmerksam und sichtlich erleichtert lauschen. Hier und da rollt auch eine Träne. „Dieses Haus“, fährt Anthony fort, „gibt uns alles, was wir in so einer schwierigen Situation brauchen. Ich habe ein Jahr lang so wunderbare Menschen erlebt, die mich stark gemacht und neu aufgebaut haben. Das geht hier wohl allen Patienten so, und es ist nicht nur die medizinische Behandlung, die beeindruckt, es ist auch die Kommunikation.“ Antonys Eltern stehen – gerührt, dankbar und etwas schüchtern wirkend – neben ihm im Raum. Amir Chaim ergreift das Wort, dankt ausdrücklich allen seinen Mitarbeitern der Orthopädischen Station, spricht vom Team als einer starken Familie und eilt schon Minuten später zum nächsten Termin.

Arthur Kaziev verweist auf die äußerst heterogene Zusammensetzung der „Team-Familie“ – einschließlich arabischer Pflegekräfte und Physiotherapeutinnen – und er betont ausdrücklich: „Alle Patienten werden hier gleichbehandelt, egal ob Millionär oder Straßenarbeiter, ob Jude, Araber oder andere Gruppenzugehörigkeit. Wir behandeln Menschen, und jeder hat den gleichen unschätzbaren Wert. Bei jeder Regeneration und Heilung ist die Freude gleich groß. Und es gibt einen klaren Konsens: Hier wird keine Politik gemacht.“

Die Autoren mit Artur Kaziev und Dr. Hagay Amir, dem Geschäftsführer des Loewenstein, Foto: privat

Amir Chaim kommt vom dringlichen Einsatz zurück und nimmt sich noch ein paar Minuten Zeit für uns, erzählt u.a. von einem sehr wertvollen Praxisaufenthalt vor Jahren an der Berliner Charité. Seit vier Jahren leitet er nun die Orthopädische Abteilung im Loewenstein und fühlt hier seine Bestimmung. „Hier habe ich als Arzt noch einmal ganz neu verstanden: auch die professionellste medizinische Behandlung bedarf einer ganzheitlichen Begleitung und einer mentalen Stärkung. Die Umgebung muss einfach stimmen“, erklärt er mit nachdenklicher Miene.

Noch einmal kommen wir auf den 7. Oktober 2023 zurück, einer Herausforderung, die sich so niemand gewünscht hatte. „Schon vorher hatten wir wichtige Erfahrungen bei der Behandlung von mehrfach verletzten Soldaten gesammelt, nicht zuletzt der ukrainischen Front-Soldaten. Plötzlich aber wuchs der Druck, eine zweite Abteilung zu eröffnen, was wir dann – dank einiger größerer Zuwendungen – auch schafften. Besonders für die biomechanischen Behandlungen und auch für die plastische Chirurgie wuchs der Bedarf rasant“, erinnert sich der Chirurg. Zur Teamwork in seiner Abteilung ergänzt er noch: „Das hier ist so eine Art Brückenexperiment. Wir versuchen, Menschen zu heilen und wieder für das alltägliche Leben vorzubereiten. Raum für Spannungen und inszenierte Konflikte ist einfach nicht vorhanden.“

„Jeder erinnert sich sehr genau an den 7. Oktober“, sagt Arthur Kaziev „und natürlich war klar, dass für viele der schwerverletzten und traumatisierten Patienten mit dem Eintritt ins Center der langwierige Kampf um die Rückkehr ins Leben erst so richtig beginnen würde. Viele Bewohner von Kibbutzim nahe dem Gaza-Streifen kamen zu uns mit nachzubehandelnden Mehrfachverletzungen – auch solche, die nicht weniger kompliziert aussahen wie die der Soldaten, und das waren nicht wenige.“

62 Betten gehören mittlerweile zur Ausstattung der orthopädischen Abteilung im Loewenstein. Der Standard in Israel sind 32 Betten, aber die Zeiten haben fast eine Verdoppelung mit sich gebracht, was logischerweise auch einen enorm erhöhten Betreuungsaufwand bedeutete. Hier wuchsen die Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten wohl ein ganzes Stück über sich hinaus. Eine nennenswerte Erweiterung des Personals war nicht nötig.

Für Anthony beginnt nun ein neuer Abschnitt im Leben. Andere IDF-Soldaten und Zivilisten müssen – zusammen mit „ihren“ Medizinern und Therapeuten im Loewenthal – noch länger gegen die Spätfolgen, die ihnen der 7. Oktober auch physisch bereitet hat, kämpfen. So etwa David (Name geändert), der ebenfalls gleich nach dem Hamas-Massaker in die IDF rekrutiert wurde und zunächst an der Nordgrenze gegen die Hizbollah kämpfte, schließlich aber auch in Gaza zum Einsatz kam. „Dort war ich auch am Häuserkampf beteiligt“, berichtet der junge Mann, „und eines Tages traf uns eine heftige Explosion. Ich trug schwerste Verletzungen am Bein davon, schnell war klar, dass – wenn überhaupt möglich – meine Heilung ein langwieriger Prozess werden würde. Und tatsächlich werden wohl noch zwei weitere Operationen folgen müssen.“ David hat vor dem 07.10. Informatik studiert. Seit seiner Verwundung hat auch sein Gedächtnis gelitten. Seine weitere Ausbildung und berufliche Zukunft sind offen.

Viele Patienten und Soldaten betonen, wie sehr sie die Atmosphäre im Loewenthal mental gestärkt hat. Gemeinsam werde darum gekämpft, wieder den Weg in den Alltag zu schaffen. Jeder Fortschritt bei Gehversuchen, jede Rückkehr motorischer Fähigkeiten zähle. So gesehen, scheint der 7. Oktober das Haus eher noch stärker gemacht zu haben. „Aber nicht nur wir hier im Medical Center, unser ganzes Land hat dieses Zusammenrücken erlebt“, bekräftigt Oberarzt Amir Chaim, und meint: „Das ist hier wie so eine Art positive Magie.“