Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat einen neuen Bericht zur Situation im Gazastreifen veröffentlicht. Darin wird Israel beschuldigt, sexuelle Gewalt und „genozidale Handlungen“ verübt zu haben. Jerusalem nennt diese Vorwürfe haltlos und falsch.
Von Ralf Balke
Ein seriöser Report liest sich eigentlich anders. Denn die Sprache verrät die Intentionen seiner Autoren. So klingt bereits der Titel des dieser Tage von der „Unabhängigen internationalen Kommission für die besetzten palästinensischen Gebiete“ im Auftrag des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen erstellten Berichts hochdramatisch: „Mehr als ein Mensch ertragen kann“. Israel werden darin schwere Menschenrechtsverletzungen sowie sexualisierte Gewalt vorgeworfen. Dokumentiert seien gravierende Misshandlungen von Frauen, Männern sowie Kindern, begangen zumeist von Angehörigen der israelischen Armee. „Sexuelle Gewalt ist inzwischen so weit verbreitet, dass man sie nur als systematisch bezeichnen kann“, behauptet Chris Sidoti, ein australischer Menschenrechtsanwalt und Mitglied der Kommission, gegenüber der BBC. „Sie geht über das Niveau zufälliger Taten von Einzeltätern hinaus.“
Aber der Reihe nach: Die „Unabhängige internationale Kommission für die besetzten palästinensischen Gebiete“ gibt es seit 2021. Sie wurde damals vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ins Leben gerufen, um mutmaßlichen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte zu untersuchen. Ihre Vorsitzende ist die Südafrikanerin Navi Pillay, eine ehemalige UN-Menschenrechtsbeauftragte. Der neue Bericht basiert auf Aussagen von Opfern und Zeugen sexueller und reproduktiver Gewalt, von denen einige auch während der zweitägigen öffentlichen Anhörungen Anfang März in Genf zu Wort kamen sowie – so die offizielle Umschreibung – verifizierten Fotos und Videoaufnahmen. Des Weiteren wäre auch Material von Vertretern der Zivilgesellschaft und von Frauenrechtsorganisationen mit eingeflossen. Die gesammelten Beweise, so Navi Pillay, enthüllten „eine beklagenswerte Zunahme von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt“, die von Israel gegen Palästinenser eingesetzt werde, „um sie zu terrorisieren und ein System der Unterdrückung aufrechtzuerhalten, das ihr Recht auf Selbstbestimmung untergräbt“.
Dabei ginge es um bestimmte Formen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt – wie das erzwungene Entfernen von Kleidung und Nacktheit in der Öffentlichkeit, sexuelle Belästigung einschließlich der Androhung von Vergewaltigung sowie sexuelle Übergriffe, was die Autoren als „Teil der Standardverfahren der israelischen Sicherheitskräfte gegenüber Palästinensern“ bezeichnen. Andere Formen einer Gewalt, einschließlich Vergewaltigung, wären „entweder auf ausdrücklichen Befehl oder mit stillschweigender Ermutigung durch Israels oberste zivile und militärische Führung begangen“ worden, so der Vorwurf. Und da zeigt sich bereits die erste Schwachstelle: Der gesamte Bericht nennt kein einziges Beispiel für Befehle dieser Art, die von einem Kommandeur der Streitkräfte oder politisch Verantwortlichen hätten stammen können. Die Behauptungen basieren ausschließlich auf Aussagen israelischer Politiker, allen voran Finanzminister Bezalel Smotrich von den Religiösen Zionisten oder von Radikalen aus dem Umfeld der Partei Otzma Yehudit wie Yitzhal Shimon Wasserlauf. Sie hatten sich mit Soldaten, denen vorgeworfen wurde, einen palästinensischen Gefangenen auf dem Militärgefängnis Sde Teiman im vergangenen Jahr schwer misshandelt zu haben, solidarisch erklärt. Das kann man zurecht skandalisieren – aber es sind keine Direktiven, nach denen Soldatinnen und Soldaten zu handeln haben.
In der Tat kam es seit Beginn der israelischen Bodenoffensive im Gazastreifen als Reaktion auf das Massaker vom 7. Oktober immer wieder zu Fällen von Gewalt und Brutalität gegen bereits gefangene Palästinenser durch Angehörige der Streitkräfte. Erst im Februar hatte ein israelisches Militärgericht einen Soldaten zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt, nachdem er zugegeben hatte, palästinensische Gefangene im Militärgefängnis Sde Teiman schwer misshandelt zu haben. Es ging um „mehrere Vorfälle, bei denen er die Gefangenen mit den Fäusten schlug und seine Waffe benutzte, während sie mit Handschellen und verbundenen Augen gefesselt waren“. Diese Handlungen wurden in Anwesenheit anderer Soldaten begangen, von denen einige ihn aufgefordert hatten, damit aufzuhören. Auch über die Androhung von Vergewaltigung männlicher Gefangener konnte man immer wieder selbst in der israelischen Presse lesen, Vorkommnisse dieser Art gab es reichlich, vor allem in Sde Teiman. Ferner hatten manche, in den sozialen Medien geteilte Aufnahmen von Soldatinnen und Soldaten, die sie zeigten, wie man Wohnungen im Gazastreifen plünderte, wobei einzelne Militärangehörige mit der Unterwäsche der Bewohner posierten, für viel Unmut und zahlreiche Disziplinarverfahren gesorgt.
Der UN-Bericht spricht dagegen von einer „Kultur der Straflosigkeit“. Seine Autoren arbeiten dabei gerne mit Behauptungen und greifen weniger auf Fakten zurück. Die auffallend häufig zu findende Konjunktiv sowie die bewusst eingesetzten dramaturgischer Stilmittel untermauern diesen Eindruck. So beginnt jeder Abschnitt mit Zitaten, die die Leser in eine Richtung lenken sollen und quasi auf das Thema atmosphärisch einstimmen. „Das ist ein Krieg gegen Frauen“, heißt es da unter Berufung auf einen anonym gebliebenen Gynäkologen in Gaza. Ein Kapitel trägt die Überschrift „Israels gezielte Angriffe auf Frauen und Mädchen“, auch hier eingangs ein „Augenzeuge“, der erzählt: „Ich sah eine schwangere Frau, die erschossen und getötet wurde, als sie sich dem Krankenhaus näherte. Sie wurde dort blutend zurückgelassen. Niemand schaffte es, sie zu retten, da das Krankenhaus von den israelischen Streitkräften belagert wurde. Sie wurde in verwestem Zustand etwa 20 Tage später entdeckt.“
Zitiert werden ferner Graffiti israelischer Soldaten, die sexuelle Gewalt androhen. So unschön und vulgär diese klingen mögen, diese in einen Kontext von Genozid und offiziell abgesegneter sexueller Gewalt zu setzen, ist etwas mager. Bemerkenswert sind ebenfalls die zahlreichen Verweise auf das demütigende und sexualisierte Entkleiden von gefangen genommenen männlichen Palästinensern. Das Abfilmen, Posieren und in den sozialen Medien Posten solcher Szenen ist zweifelsohne zu verurteilen. Doch für das befohlene Ausziehen gibt es sehr konkrete Gründe: Zu oft bereits in der Vergangenheit hatten Palästinenser Sprengstoffgürtel am Leib, die unter der Kleidung verborgen waren. Um sicher zu sein, dass keine potenziellen Selbstmordattentäter unter den Gefangenen sind, ist eine solche Maßnahme notwendig.
Ein weiterer Vorwurf rückt die Beschädigung des al-Basma-Centers, der größten Klinik für In-vitro-Fertilisation im Gazastreifen, durch Israel im Dezember 2023 in den Mittelpunkt. Behauptungen des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium zufolge, wären dabei etwa 4.000 Embryonen sowie 1.000 Spermaproben ebenfalls betroffen gewesen, weil der zum Kühlen der Lagertanks notwendige flüssige Stickstoff verloren ging. Diese seien nun alle unbrauchbar. Das hätte, so die Autoren der Studie, negative Auswirkungen auf die Geburtenrate im Gazastreifen. Und Geburten zu verhindern, das erfülle bereits den Tatbestand des Völkermords.
Israel wies die Anschuldigungen des UN-Berichts energisch zurück. Die israelischen Streitkräfte hätten „ganz konkrete Richtlinien“ und verfolgen „eine Politik, die ein solches Fehlverhalten eindeutig verbietet“, so die israelische Vertretung bei den Vereinten Nationen. Zugleich verwies man auf die Einhaltung internationaler Standards, die immer wieder überprüft werde. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu selbst fand einige deutlichere Worte und bezeichnete den UN-Menschenrechtsrat als eine „antisemitisches, korruptes, Terroristen-unterstützendes und irrelevante Einrichtung“, allesamt gute Gründe, warum Israel sich diesem Gremium nun verabschiedet habe. Und das israelische Außenministerium sprach von einer Neuauflage der „Ritualmordlegende“.
Die Opposition in Israel äußerte sich ähnlich. So prangert Benny Gantz, Vorsitzender der Partei Nationalen Einheit, den Bericht als „hinterlistig“, „antisemitisch“ und „falsch“ an und bezeichnete ihn als einen neuen Tiefpunkt der Vereinten Nationen, die nicht in der Lage seien, von „genozidalen Handlungen“ und „sexueller Gewalt“ zu sprechen, wenn es um die Opfer des 7. Oktober in Israel gehe. Cochav Elkayam-Levy, Vorsitzende der Zivilen Kommission zu den Verbrechen der Hamas gegen Frauen und Kinder am 7. Oktober, verurteilte den Bericht als einen Versuch, Israel mit der Hamas gleichzusetzen, insbesondere in Bezug auf sexuelle Gewalt. Sie argumentierte, dass das Vorgehen der Vereinten Nationen seit dem 7. Oktober Teil einem solchen Muster folge, was sowohl den Opfern als auch der juristischen Aufarbeitung schade. Hagit Peer, Vorsitzende der israelischen Frauenrechtsgruppe Na’amat, sieht das genauso und sprich von einem, „skandalösen Bericht, der versuche, das Opfer zum Aggressor zu machen“.
Andere dagegen begrüßen den UN-Bericht, allen voran die Hamas. Hazem Qassem, Sprecher der Terrororganisation, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur AFP: „Die UN-Untersuchung der völkermörderischen Aktionen Israels gegen das palästinensische Volk bestätigt, was vor Ort geschehen ist – Völkermord und Verstöße gegen alle humanitären und rechtlichen Standards.“