Das neue Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts ist erschienen. Schwerpunkt: Jüdische Zeitungen und Autoren
Von Martin Jander
Für Historiker, sozial und politisch aktive Menschen sowie die jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik ist das bereits in seiner 12. Ausgabe erscheinende „Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts“, ein großer Gewinn. [1] Es hat sich die Darstellung wichtiger Menschen und Ereignisse des 20. Jahrhunderts und ihrer Bedeutung für die Gegenwart des 21. Jahrhunderts zur Aufgabe gemacht. Das gibt es in der Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik nur ganz selten.
Der neueste Band behandelt vor allem jüdische Zeitungen und besondere jüdische Autoren, die uns heute Lebenden ein Ansporn sein könnten. Andrea Livnat, eine der Herausgeberinnen des Jahrbuchs, schreibt zum Beispiel über den aus Litauen stammenden Boris Gersman, der in seinem Exil in Südafrika ab 1931 die Afrikaner Yidishe Tsaytung, Sprachrohr der aus Osteuropa eingewanderten Juden, herausbrachte. Die Zeitung berichtete vor allem über die Entwicklung in Palästina und das neu entstehende Israel, aber auch über die zerstörten jüdischen Gemeinden und die Überlebenden, die in Europa blieben. Es gelang den Redakteuren leider nicht, die Bedürfnisse der Nachfahren der Eingewanderten angemessen zu rezipieren. Die Nachfrage ging zurück. Die letzte Ausgabe des Blatts erschien 1983.
Markus Roth schreibt über Israel Kaplan, einen Überlebenden des Ghettos Kaunas, seine Arbeit bei der Jüdischen Historischen Kommission in München und die von ihm initiierte Zeitung Fun letsten Churbn [2], die sich von 1946 bis 1948 die Sammlung und Veröffentlichung wichtiger Dokumente und Zeitzeugenberichte zur Shoa zur Aufgabe gemacht hatte. Markus Roth und Frank Beer haben erst kürzlich alle Ausgaben der Zeitschrift vollständig für deutsche Leser verfügbar gemacht. [3] Die wissenschaftlichen Forschung verstehen erst langsam, dass die Geschichte des deutschen Zivilisationsbruchs und seiner möglichen Abwendung erst dann umfassend dargestellt werden kann, wenn die Berichte der überlebenden und ermordeten Opfer, soweit vorhanden, zur Kenntnis genommen werden.
Über die sich anschließenden Aufsätze von Andreas Mink, Katja Seybold, Thomas Rahe, Andrea Sinn und des anderen Herausgebers des Jahrbuchs, Jim G. Tobias, sei hier nur so viel gesagt, dass auch sie immer den Bezug zur Gegenwart ihrer Leser im Auge haben. Auch die von ihnen vorgestellten Autoren werden daraufhin betrachtet, ob sie als „Helden der Feder“ gelten können und die von ihnen herausgegebenen Zeitschriften tatsächlich als „moralische Wegweiser“ in schwierigen Zeiten gelten können.
Ganz in diesem Sinne argumentiert auch Daniela F. Eisenstein in ihrem Beitrag über das Jüdische Museum Franken und dessen innere Konflikte sowie die Debatten mit seiner Umwelt. Museen zu jüdischer Geschichte müssten in der Bundesrepublik immer wieder auch „Orte konflikthafter Auseinandersetzung mit der kulturellen und politischen Gegenwart“ sein, sagt sie, um Identitäten und Narrative „produktiv“ in Frage stellen zu können. Wer die Geschichte von Juden in Deutschland umfassend erzähle, könne kaum anders, als Romantisierungen eines angeblich konfliktfreien, freundschaftlichen Miteinanders von Christen und Juden infrage zu stellen.
Auch ganz im Sinne produktiven Nachdenkens für die Gegenwart haben die Herausgeber sich entschlossen, einen besonderen Aspekt des Massakers der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 in das Jahrbuch aufzunehmen. Verena Buser und Boaz Cohen haben alles zusammengetragen, was heute aus unterschiedlichsten Quellen über Verbrechen der Hamas an israelischen Kindern bekannt ist. Teilen nicht alle Gesellschaften die Auffassung, dass das Leben von Kindern heilig ist? Wie sich zeigt, ist das nicht der Fall.
Der Beitrag berührt dabei die Frage, ob eine Gleichsetzung der Verbrechen der Hamas mit denen der nationalsozialistischen Deutschen angemessen sei. Der Umfang der Verbrechen, so zeigen sie, ist das keineswegs. Ihr Motiv und ihre Durchführung jedoch, nicht nur Juden auszulöschen, sondern auch ihren Geist, jegliche Ideen von Humanität, und eben auch die Kinder, dies sei gleichsetzbar.
Die Autorinnen zeigen darüber hinaus, dass die Erfahrungen der Kinder der zweiten und dritten Generation der Shoa-Überlebenden in Israel, ein großes produktives Reservoir bieten, das auch den traumatisierten überlebenden Hamas Kinder-Geiseln eine Chance für ein Leben danach bieten könnte.
Der Stil und die Anlage der im neuen Jahrbuch versammelten Aufsätze schließen an sozialethische Interventionen an, in denen Juden bereits im 19. Jahrhundert ihre Mitmenschen auf voraufgeklärtes Denken, Handeln und Antisemitismus hinwiesen, aber auch neue Wege zu politischen und sozialen Reformen skizzierten. [4] Einem solchen Forschungsprogramm haben sich die Jahrbücher des Nürnberger Instituts, das erste erschien 2002, verschrieben.
Jim G. Tobias / Andrea Livnat (Hg.): Nurinst 2024. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Schwerpunktthema: Jüdische Zeitungen und Autoren, Antogo Verlag 2024, 153 S., 16 Abb. schw./w., Euro 16,50, Bestellen?
Die Rezension ist eine leicht überarbeitete Version der Rezension aus der Zeitschrift „sehepunkte“: Martin Jander: Rezension von: Jim G. Tobias / Andrea Livnat (Hgg.): Jüdische Zeitungen und Autoren. nurinst 2024. Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Nürnberg: ANTOGO Verlag 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 3 [15.03.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/03/39904.html)
Anmerkungen:
[1] Siehe zu den bereits erschienenen Jahrbüchern des „Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts“: https://www.nurinst.org/category/publikationen/buecher/ (abgerufen am 3. Februar 2025).
[2] Das jiddische Wort „Churbn“ bedeutet „Zerstörung“. Unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkrieges, als der Begriff Shoa noch nicht verwendet wurde, benutzten viele Juden ihn als Bezeichnung für die Shoa.
[3] Frank Beer, Markus Roth (Hg.), Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift „Fun letstn churbn“ der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946 – 1948, Berlin 2021.
[4] Siehe dazu: Michael Brocke, Margarete Jäger, Siegfried Jäger, Jobst Paul, Iris Tonks, Visionen der gerechten Gesellschaft. Der Diskurs der deutsch-jüdischen Publizistik im 19. Jahrhundert, Böhlau Verlag Wien 2009.