„j’accuse! Cologne“

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„Wir klagen an. Wir fordern Schutz und Solidarität statt Antisemitismus und Schweigen“ lautete das Motto der neuen Kölner Initiative „j’accuse! Cologne“.

Von Roland Kaufhold

Rund 250 Menschen hatten sich am 8. März – dem Weltfrauentag – auf dem Kölner Rudolfplatz eingefunden. Und das obwohl es bewusst keine öffentliche Werbung dafür gegeben hatte. Die drei Veranstalterinnen und deren Umfeld hatten keinerlei Interesse daran, ihr gedenkendes und forderndes Anliegen durch den üblichen, vorgeblich „propalästinensischen“ Gegenprotest stören zu lassen. „Wir warten noch etwas, bis die Polizei da ist. Wir brauchen Schutz“ teilte eine Rednerin um 17 Uhr bei strahlendem Sonnenschein mit. Es gab zahlreiche Israelfahnen: Auf dem unteren Teil der kleinen Tribüne hing das Motto „Gegen jeden Antisemitismus“.

Die Kundgebung ähnelte vorhergehenden Kölner Kundgebungen für die israelischen Geiseln und für das Selbstverteidigungsrecht Israels gegen die Terrororganisation Hamas. Der Akzent lag diesmal jedoch auf drei Grundsatzreden, anlässlich des Weltfrauentages.

Die drei Rednerinnen waren weitgehend auch die Initiatorinnen: Miriam Haritz – die in Köln auch seit einem Jahr den run4theirlives organisiert, Änneke Winkel sowie die Frankfurter Autorin Barbara Bišicky-Ehrlich formulierten in kämpferischer Weise ihre Wünsche nach Schutz und Solidarität – statt des reflexhaften, durch das Hamas Pogrom vom 7.10. noch verstärkten alltäglichen Antisemitismus und des gesellschaftlichen Schweigens.

Wir publizieren an dieser Stelle die Rede von Dr. Miriam Haritz. Die jüdische Juristin hatte ihre Rede als eine Anklage formuliert. Sie beklagte in scharfen, teils drastischen Worten die seit dem 7.10. sehr konkret erfahrbare mangelnde Solidarität gegenüber Jüdinnen.

J’accuse Cologne

Dr. Miriam Haritz, 09.03.2025

Vorhin haben wir unseren seit bald einem Jahr jeden Sonntag stattfindenden Marsch für die Freilassung der nach Gaza entführten Geiseln durchgeführt, den Run for their Lives. Eine weltweite humanitäre, nicht politische Initiative.
Ich spreche hier und jetzt aber nicht für R4TL, sondern für mich als Jüdin in Deutschland. Und als solche frage ich mich, warum eigentlich ist die Freilassung von Menschen, die in ihren Schlafanzügen oder Partyklamotten vor fast 1 1/2 Jahren entführt wurden, vor allem ein Kampf jüdischer Menschen und viel zu weniger nicht-jüdischer Allies und nicht der Kampf eines jeden Menschen mit Herz und Verstand?
In einer anständigen Welt hätte jeder Promi bei der Berlinale oder bei den Oscars den gelben Pin für die Freilassung der Geiseln getragen. Der rote Teppich wäre glatt gelb eingefärbt gewesen in Gedenken an die immer noch 59 Geiseln, die in den Tunneln der Hamas Unvorstellbares ertragen müssen.
In der realen Welt aber tragen die Stars die omnipräsenten Pins mit Wassermelonen, Palästinaflaggen oder gar die für einen Lynchmord an Juden stehen den roten Hände und hüllen sich in appropriierender Weise in die Tücher, die schon in den 70ern das It-Piece von Terroristen waren.
In der realen Welt begegnen uns auf unseren Runs for Their Lives jeden Sonntag mehrheitliches Wegschauen, selten mal ein wohlwollendes Lächeln und immer wieder Beschimpfungen und Bedrohungen.
Ich bin für LGBTQ-Rechte auf die Straße gegangen, ich habe für Black Lives Matter demonstriert, habe mich mit Fridays for Future für Klimaschutz engagiert, Arsch Huh gegen Rechts gesungen.
Doch all diese vermeintlichen Allies lassen mich seit dem 7.10.nicht nur alleine im October Rain stehen, sondern fallen mir sogar in den Rücken: Queers for Palestine but not for Jews.
Mehr Malcolm X und weniger Martin Luther King.
Gedenkkränze und bewegte Reden zum 9.11., aber die Juden die den 7.10.überlebt haben, gehen meinen Mitmenschen zumeist am Arsch vorbei.
Und oh, Greta Thunberg, how dare you, statt die Welt zu retten sie lieber von Israel befreien zu wollen.

Gestern war der 8. März, der Internationale Frauentag. Feministische Außenpolitik wurde mir bei der vorletzten Bundestagswahl versprochen. Stattdessen bekam ich:
Metoo – unless you are a Jew.
Believe all women – nur nicht den israelischen. Bring back our girls – es sei denn, sie sind jüdisch.

Und wo wir schon dabei sind, auch jüdische Kinder interessieren nicht. Auch nicht nach dem größten Massaker an jüdischen Menschen seit der Shoah. Von UNICEF bis Save the Children, als ich im November 2023 fragte, ob es denn neben dem Einsatz für Kinder in Gaza auch Spendenmöglichkeiten für vom 7.10 betroffene Kinder in Israel gäbe, gab es nur eine Antwort: nein, die haben ja selber genug, „For Every Child“. Außer, … Ihr wisst Bescheid.
Aber Juden, die darauf hinweisen, sind unbequem. Diejenigen, die des Gedenkens an die Shoa nicht längst überdrüssig sind, zelebrieren tote Juden deutlich offenherziger und enthusiastischer als die Lebenden. Wie anders ist es zu erklären, dass man auf einer Gedenkveranstaltung zum 9. November ein Banner mit der Aufschrift „Wir schützen jüdisches Leben“ als so provokant empfindet, dass man die Bannerträgerin der Veranstaltung verweist?
Die Autorin Dara Horn listet in ihrem Buch „People Love Dead Jews“ 12 Kapitel über Varianten getöteter, wehrloser Juden auf, an die man unter Außerachtlassung des äußerst lebendigen, doch leider allzeit verhassten Judentums gerne erinnert.
Ich möchte aber nicht wehrlos sein.
Ich möchte mich nicht verstecken müssen. Auch nicht meinen Davidstern. Oder meine gelbe Schleife.
Ich möchte auch nicht versteckt werden, wenn der Antisemitismus wieder überhand nimmt.
Ich möchte dann ebenso wenig nachträglich betrauert werden.
Golda Meir, eine der Urmütter des Zionismus, brachte es vor Jahrzehnten auf den Punkt: Wenn wir wählen müssen zwischen tot sein und bemitleidet werden oder zwischen lebendig sein und einem schlechten Image, dann wählen wir lieber Letzteres. Und dafür brauchen wir Israel, dafür bräuchten wir Euch!
Aber bei lebendigen Juden Haltung zeigen, Position beziehen? Das tun die ganzen selbsternannten Gutmenschen am liebsten, wenn es GEGEN Israelgeht.
Was aber, wenn es um eine Haltung FÜR Israel geht? Da sind wir dann aber ganz schnell bei der Obsession des „Ja, aber…“ Im Zweifel eben nie für jenen unverhältnismäßig Angeklagten.
Es gibt weltweit kein Verbrechen gegen Juden, ob in oder außerhalb Israels, bei dem nicht früher oder später dieses „Ja, aber…“ mitschwingt.
Israel und Juden, ja das ist aber auch schwieriges Terrain.

Nein, ist es nicht: Juden, übrigens auch Israeliten genannt, sind Am Israel, das Volk Israel. Vor 3000 Jahre wie heute. In Deutschland oder im Staat Israel, der vor 76 Jahren wiedergegründet wurde.

Ein Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg staatliche Unabhängigkeit erlangte, wie viele vormals von Kolonialherren beherrschte Staaten. Im Falle Israels hießen die Kolonialherren jahrhundertelang Rom, Byzanz, Arabisches Kalifat, die Kreuzzügler, Osmanisches Reich, Britische Mandatsverwaltung.
Ein Staat, der nicht etwa wegen der Shoah gegründet wurde, als eine Art Wiedergutmachung für 6 Millionen ermordete Juden, deren Nachfahren sich danach bitte immer schön wohlfeil in den Augen der sie davor und danach hassenden Welt zu verhalten hätten. Denn andersrum wird ein Schuh draus: hätte die Weltgemeinschaft jüdische Staatlichkeit nach dem ersten Weltkrieg nicht mit aller Kraft verhindert, hätte es die Shoa so niemals geben können.
Aber Moment, ist das nicht alles Antizionismus und nicht Antisemitismus? Kann man nicht gegen Israel sein, aber für Juden?
Nein, kann man nicht: In Israel lebt rund 50% desjüdischen Teils von 0,2 % der Weltbevölkerung.
Zionismus ist ein erfolgreiches globales Flüchtlingsrettungsprojekt. Refugees Welcome, aber nicht für Juden?
Die Juden der Welt sprechen heute mehrheitlich Hebräisch oder Englisch – oder aber sie sprechen gar nicht mehr. Denn die anderen runden 50 % leben auf dem amerikanischen Kontinent. Wir hier sind vor allem der klägliche Rest der europäischen Juden, dem einstigen Zentrum des Diasporajudentums, das sich 2000 Jahre lang nach Zion, dem Land Israel gesehnt hat. Wer den heute dort Lebenden das Recht auf ihren eigenen Staat abspricht, ist Antisemit, auch wenn er sich Antizionist nennt.
Ja, auch wenn er selber Jude sein sollte – schließlich gab es Juden, die in den 30er Jahren Hitler unterstützt haben. Das auserwählte Volk zu sein, bewahrt uns nicht vor Narren.
Aber der Nahostkonflikt, der ist doch nun wirklich schwer zu verstehen! Nein, ist er nicht: Komplex ist nicht gleich kompliziert. Es gibt fraglos gute und schlechte Menschen in allen Gesellschaften. Aber hier geht es darum, dass die eine Gesellschaft mehrheitlich konsequent den Yahudis, den Juden, den Tod an den Hals wünscht und ihnen das Recht auf einen eigenen Staat grundsätzlich abspricht.
Die andere Gesellschaft will dort mehrheitlich in Frieden leben. Die eine Gesellschaft aber will, dass die andere dort gar nicht lebt.

„Die anderen“, dazu gehören auch die rund 1 Million arabischen Juden, die aus allen arabischen Ländern vertrieben wurden.
Denn ethnische Säuberungen im Nahen Osten erkennt man vor allem daran, dass es kaum mehr Juden in irgendeinem arabischen Land gibt – im Gegensatz zu 20% arabischer Bevölkerung in Israel. Auch da, wo es palästinensische Selbstverwaltung gibt, lebt kein Jude mehr. Außer in Gaza -und zwar als Geisel.
Es geht nicht um Land, es geht um Ideologie. Es geht um panarabischen Nationalismus, internationalen Terrorismus und islamistischen Jihadismus. Und vor allem geht es um das alle Gesellschaften, alle Ideologien zu allen Zeiten zusammenschweißende Element des Antisemitismus. Das ist emotional unfassbar, aber intellektuell eigentlich nicht so schwer zu verstehen.
Woher kommt dann diese Sorge davor, im negativen Sinne parteiisch zu sein, wenn es um eben diesen Antisemitismus geht?
Woher kommt der Unwille, eine klare Position für Juden in und außerhalb Israels zu beziehen?
Diese vornehme Zurückhaltung und der äquidistante Verweis darauf, dass die Wahrheit ja immer das erste Opfer eines Krieges sei?
Das erste Opfer dieses aktuellen Krieges waren hunderte von massakrierten Zivilisten im Süden Israels, sind bis heute die entführten Geiseln in Gaza. DAS ist die Wahrheit des 7. Oktobers, das ist die Wahrheit, die palästinensische Terroristen sogar mit ihren Go Pro Kameras festgehalten haben.
Doch noch am selben Tag begann der Kampf gegen diese Wahrheit. Ein kalkulierter Propagandakrieg jihadistischer Terrorgruppen, den der sog. Westen in seltener Einigkeit mit dem sog. Globalen Süden nur allzu gerne aufnahm und bis heute fortsetzt.
Das alles ist nicht zu verstehen, wenn man nicht bereit ist, die Geschehnisse und die Reaktion darauf als Ausdruck eines nach wie omnipräsenten Antisemitismus anzuerkennen.
„Aber Netanyahu“ – ein Satz, der früher oder später IMMER fällt, wenn ich versuche zu erklären, wie ich als Jüdin in diesem Land von Antisemitismus in diesem Land seit dem 7.10. betroffen bin. Es muss Schwarze Magie sein, wie ich mich innerhalb von Minuten in den Augen meines Gegenübers ohne mein Zutun von einer deutschen Jüdin in die Pressesprecherin von Netanyahu verwandele.
Juden, die nicht pflichtschuldig ihre Verurteilung von Netanyahu voranstellen, wenn sie ihr Leid beschreiben, haben offenbar das Recht auf Mitgefühl verwirkt.

Es muss immer kontextualisiert werden, es muss immer, wirklich immer, auf „aber beide Seiten“ verwiesen werden – jüdisches Leid alleine, verursacht durch jahrhundertealten Judenhass, das darf schlicht nicht sein.
Aber das Völkerrecht sagt doch auch, dass Israel Völkermord begeht! Nein, das sagt es nicht: Das sagen Staaten, welche die von Staaten für Staaten kodifizierteundgewohnheitsrechtlichanerkannteinternationaleRechtsordnung dazu missbrauchen, um ihre politische Agenda gegen Israel, den Juden unter den Staaten, zu verfolgen. So wie Staaten zu allen Zeiten ihr jeweiliges Rechtssystem genutzt haben, um die Verurteilung von Juden zu betreiben, um die Ermordung von Juden zu rechtfertigen.
Same same, NOT different. Und es macht schlicht fassungslos, wie so viele Menschen wirklich rechtschaffen glauben, dass nach Jahrhunderten von Ritualmordlegenden die für Juden allzeit tödliche Verleumdung des „Kindermörders“ dieses Mal aber wirklich wahr sei.
Wer weiß schon, dass 30 von 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen Israel bis heute nicht einmal anerkennen?!
Dass es 1945 insgesamt 51, mehrheitlich demokratische Staaten waren, von den 193 heute Stimmberechtigten aber über die Hälfte Autokratien oder Diktaturen sind?!
Wer weiß schon, dass alleine zwischen 2015 und 2024 die UN Generalversammlung 170 Resolutionen gegen Israel angenommen hat, im selben Zeitraum aber nur 76 gegen alle anderen Staaten zusammengenommen?!
Oder dass der UN-Menschenrechtsrat zwischen 2006 und 2024 108 Resolutionen gegen Israel angenommen hat, aber nur 15 gegen den Iran und 10 gegen Russland?!
Die Institutionen und multilateralen Konventionen des Völkerrechts, die gerade aus der Lehre der Shoa ins Leben gerufen wurden, werden seit Jahren gegen den Staat verwendet, in dem die meisten Überlebenden und ihre Nachfahren Zuflucht fanden. Aber klar, Israel ist dieses Mal bestimmt wirklich das absolute Böse, und es hat keinesfalls etwas damit zu tun, dass diese Rolle ja auch sonst in der Menschheitsgeschichte den Juden zugeschrieben wurde.
Mittlerweile glaube ich, dass dieses “Aber Netanyahu“ genau diesem Zweck dient: Je monströser der Regierungschef des jüdischen Staates, desto mehr ist das jüdische Volk ja schon auch ein bisschen selbst Schuld; desto weniger muss man sich mit der Monstrosität eines bis auf den heutigen Tag fortwährenden, in jeder Gesellschaft strukturell vorhandenen Antisemitismus und des eigenen Anteils daran befassen. Mein nicht-jüdisches Umfeld findet, ich sei so radikal geworden seit dem 7.10. Ich finde, mein nicht-jüdisches Umfeld lässt mich zumeist alleine, während ich – wie alle anderen jüdischen Menschen hier – den Vorspann eines Überlebenskampfes führe.
Zugegeben, es ist aber auch leicht, verführt zu werden. Und es ist schwer und schmerzhaft – auch für mich! – anzuerkennen, dass auch in anderen Feldern glaubwürdige Institutionen wie der ÖRR in DEU, unsere diverse Medienlandschaft, honorige Journalisten selbst bei der BBC und Repräsentant*innen bei den Vereinten Nationen antisemitische Ressentiments hegen und in ihre Darstellung Israels, den Ewigen Juden unter den Staaten, einpflegen.
Und sogar – bewusst oder unterbewusst – versuchen sich reinzuwaschen, indem sie weder qualitativ noch quantitativ repräsentative jüdische Stimmen amplizifieren, welche ins Narrativ „Böses Israel“ passen.
Es ist nicht einfach, sich dieser Manipulation zu entziehen. Aber es ist möglich. Man muss es nur wollen. Und gerade in diesem Land hätte ich von so vielmehr Menschen erwartet, dass sie das wollen.
Es geht nicht darum, alles an Israel toll zu finden und kritiklos hinzunehmen. Auch nicht Netanyahu. Es geht darum, anzuerkennen, was und wie Israel wirklich ist. Wie wir Juden wirklich sind. Und dass beide ein Recht haben, zu existieren und sich zu verteidigen, ohne „Ja, aber“. Und dass beide bedroht sind, wenn der Judenhass, der nie weg war, wieder so virulent um sich greift. Auch wenn er sich “Israelkritik“ nennt.
Auch wenn „Zionist“ mittlerweile als Schimpfwort benutzt wird. Nämlich durch all jene, die sich noch nicht wieder trauen, ganz offen „Kauft nicht bei Juden“ oder „Die Juden sind unser Unglück“ auszusprechen.
„Nie Wieder“ ist kein Slogan.
Es war ein Versprechen. Ich sage war, weil es gebrochen wurde. Weil Ihr zugelassen habt, dass es gebrochen werden konnte. Weil Ihr es nicht geschützt habt.
„Nie Wieder ist jetzt“? Die Shoah ist keine universelle Metapher für menschliches Leid, keine Lehre, die man ausgerechnet dem jüdischen Staat vorhalten kann, wenn es in einen aufgezwungenen Krieg ziehen muss.

„Nie wieder“ hat auch nicht einfach mit rechtsextremem Hass, Rassismus oder allgemeinen Menschenrechtsverletzungen zu tun, wie Ihr es zuletzt zu Zehntausenden auf die Straße getragen habt.
Die Shoa ist der Höhepunkt von Jahrhunderten von eliminatorischem Judenhass im Wandel des jeweiligen Zeitgeistes.
Für dieses im Kern jüdische „Nie Wieder“ finden sich aber auf Demos selten mehr als ein paar Dutzend Menschen zusammen.
Die Art, wie Ihr „Nie Wieder“ benutzt, hat diesen Begriff von seinem Grundwesen entkernt, „judenrein“ könnte man ganz anklagend sagen.
Ein wahrhaftiger Kampf gegen Antisemitismus in all seinen Facetten darf sich nicht auf blumige Worte von Politikern zu Gedenktagen beschränken.
Ich will keine Kränze! All das routinierte Gedenken an die ermordeten Juden der Vergangenheit ist nichts wert, wenn die lebenden Juden der Gegenwart nicht verteidigt werden.
Dieser Kampf ist eine Daueraufgabe für die Gesamtgesellschaft. Für jeden von Euch, Euren Freundinnen und Freunden, Familienangehörigen, Arbeitskolleg*innen.
Er kann und darf nicht mehr nur von uns Juden angeführt werden. Weil wir schlicht zu wenige sind, egal wie laut wir sind. Wir werden immer leiser sein als die, die laut gegen uns hetzen, aber auch leiser als Euer Schweigen, unsichtbar durch Euer Wegschauen.
Anders als ich es selbst jahrzehntelang geglaubt habe, gibt es ein Ihr und ein wir – und nicht wir sind es, die Türen zuschlagen, sondern Ihr seid es, die keine Brücken über die Gräben baut, die sich seit dem 7.10. aufgetan haben.
Ihr seid es, die im Namen einer vorgeblichen Kunstfreiheit, Wissenschaftsfreiheit, Meinungsfreiheit, Meinungsäußerungsfreiheit, Meinungsvielfalt mindestens toleriert, dass es uns – wieder! -an den Kragen geht, dass ich mich so im Stich gelassen fühle, dass ich hier und heute diese Anklage führen muss!
J‘accuse, ich klage an – auch wenn Geschichte sich nicht wiederholt.
J’accuse, weil diese singuläre Form des judenbezogenen Menschenhasses, akademisch distant als Antisemitismus bezeichnet, auch 120 Jahre nach Dreyfuss, 87 Jahre nach der Reichspogromnacht, 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz wieder mehrheits- und salonfähig geworden ist.

J‘accuse, weil in unserer Hauptstadt wieder “Tod den Juden” skandiert wird und es No-Go-Areas für Juden gibt.
J‘accuse, weil die einen das als rechtsextremes Argument nutzen, muslimische Menschen unter Generalverdacht zu stellen und von „Remigration“ zu träumen, während die anderen aus Sorge vor dem Vorwurf eines vermeintlichen Rassismus lieber den Hass der Islamisten und die Demokratiegefährdung von Linksextremisten ausblenden.
J‘accuse, weil 30 % der Wähler*innen bei der letzten Bundestagswahl in Teilen extremistische Parteien gewählt haben, deren artikulierte antisemitische Grundhaltung zumindest in Kauf genommen wird, weil man immer nur den Antisemitismus „der anderen“ sehen will.
J‘accuse, weil der akademische Schoß, aus dem das Übel in den 1930ern kroch, auch heute wieder fruchtbare Brutstätte für Antisemitismus ist, diesmal nicht rassisch begründet, sondern als pseudo-linke post-koloniale Befreiungsideologie.
J‘accuse, weil die, die sich aktiv am Judenhass beteiligen, eine Minderheit sein mögen – die aber umso lauter hallt, wenn die Mehrheit dazu schweigt. Ausgerechnet in dem Land, das aus der Shoah eine Garantenpflicht übernommen hat, jüdisches Leben hier und in Israel zu schützen, wird genau das unterlassen.
Die Beweisführung der Anklage ist hiermit abgeschlossen, I rest my case.
Die Zukunft wird zeigen, wie das Urteil der Geschichtsbücher dieses Mal ausfallen wird.

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