Erstmals hatte sich Friedrich Merz in einer Abstimmung im Bundestag eine Mehrheit mithilfe der AfD verschafft. Manche sehen darin einen „Dammbruch“ und ein Ende der viel beschworenen „Brandmauer“. Doch die Folgen können noch weitreichender sein.
Von Ralf Balke
Es geschah mit Ansage. „Ja, es kann sein, dass die AfD hier im Deutschen Bundestag am Freitag erstmalig die Mehrheit für ein notwendiges Gesetz ermöglicht“, so Friedrich Merz, derzeitiger Oppositionsführer und Kanzlerkandidat der CDU, unmittelbar vor der Abstimmung eines als „Fünf Punkte für sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration“ betitelten Entschließungsantrag zwei Tage zuvor. Zwar bekam er am Freitag keine Mehrheit für seinen Gesetzesentwurf zur Begrenzung der Migration, wohl aber am 29. Januar für den von ihm eingebrachten „Fünf-Punkte-Plan“. Mit 348 Ja-Stimmen und 345 Nein-Stimmen bei zehn Enthaltungen wurde dieser im Bundestag angenommen.
Für viele gilt diese Abstimmung als Zäsur, weil erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein Beschluss in einer Sachfrage gefasst wurde, der mit den Stimmen einer rechtsextremen Partei zustande kam. Entsprechend groß die Empörung, es ist von einem „Tabubruch“ und dem „Ende der Brandmauer“ die Rede, auch innerhalb der CDU/CSU brodelt es gewaltig.
Dabei enthielt der Entschließungsantrag, der unter anderem eine dauerhafte Kontrolle der Grenzen und schnellere Abschiebungen fordert, durchaus Formulierungen, die explizit so gewählt wurden, dass dieser eigentlich ein No-Go für die AfD gewesen wäre. „Wer die illegale Migration bekämpft, entzieht auch Populisten ihre politische Arbeitsgrundlage“, heißt es darin. „Die AfD nutzt Probleme, Sorgen und Ängste, die durch die massenhafte illegale Migration entstanden sind, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren und Verschwörungstheorien in Umlauf zu bringen. Sie will, dass Deutschland aus EU und Euro austritt und sich stattdessen Putins Eurasischer Wirtschaftsunion zuwendet. All das gefährdet Deutschlands Stabilität, Sicherheit und Wohlstand. Deshalb ist diese Partei kein Partner, sondern unser politischer Gegner.“ Auf diese Weise wollte man nach Außen demonstrieren, dass die Brandmauer irgendwie steht und gleichzeitig die anderen demokratischen Parteien, sprich SPD und Grüne, dazu drängen, sich in der Frage im Sinne der CDU zu positionieren.
Womit Merz nicht gerechnet hatte, war die Bereitschaft der AfD, diese verbalen Kröten einfach zu schlucken, um so mit ihrer Zustimmung ein Maximum an Aufmerksamkeit zu erzielen. Damit konnten Weidel & Co. die CDU eindeutig vorführen. Und all das passierte ohne größere Not. Denn der „Fünf-Punkte-Plan“ von Friedrich Merz ist keine Gesetzesvorlage oder Ähnliches, sondern nichts anderes als eine Aufforderung des Bundestages an die Bundesregierung, in Fragen der Asyl- und Migrationspolitik Maßnahmen einzuleiten, sprich tätig zu werden. Zugleich können die Rechtsextremen fortan behaupten, dass die CDU auf ihre Linie eingeschwenkt sei – was dann auch prompt geschah: „Dieser Antrag mit den fünf Forderungen ist, was die Forderungen anbelangt, von der AfD abgeschrieben“, so die AfD-Parteivorsitzende Alice Weidel am Tag vor der Abstimmung in der ZDF-Sendung „Wie geht’s, Deutschland?“. „Zur Wahrheit gehört dazu, dass die CDU genau diese Forderung sieben Jahre von uns abgelehnt hat. Das ist Fakt.“ Und die AfD-Politikerin Beatrix von Storch erklärte nach der Abstimmung in der TV-Talkrunde bei Markus Lanz dem CDU-Abgeordneten Thorsten Frei ganz süffisant. „So können wir gerne weitermachen.“
Friedrich Merz muss sich nun gefallen lassen, dass man ihm handwerkliches Versagen vorwerfen kann. Durch seine überstürzte Initiative hat er der AfD leichtfertig eine Gelegenheit gegeben, zum Mehrheitsbeschaffer zu werden. Zudem hat der Kanzlerkandidat nun ein echtes Glaubwürdigkeitsproblem. Denn in den Tagen, als die Ampel-Koalition platzte, gab er am 13. November 2024 folgendes Versprechen: „Für die wenigen verbleibenden Entscheidungen, die ohne Bundeshaushalt möglich sein könnten, will ich Ihnen hier einen Vorschlag machen: Wir sollten mit Ihnen, den Sozialdemokraten, und Ihnen, die Grünen, vereinbaren, dass wir nur die Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums setzen, über die wir uns zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben, sodass weder bei der Bestimmung der Tagesordnung noch bei den Abstimmungen in der Sache hier im Haus auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da von der AfD zustande kommt.“
Offensichtlich ist das jetzt alles nur noch Geschwätz von gestern. Zwar bekräftige Friedrich Merz noch am Abend des 29. Januars in der ARD-Sendung „Tagesthemen“ seine Absage an eine Zusammenarbeit mit der AfD, sagte aber mit Bezug auf eine Abgrenzung, dass der Begriff „Brandmauer“ ohnehin das „falsche Wort“ sei. „Ich möchte, dass der Brand hinter der Mauer nicht zum Flächenbrand in ganz Deutschland wird. Und deswegen wenden wir uns der Lösung der Probleme, die wir haben.“
Die Tatsache, dass die Abstimmung unmittelbar nach der Gedenkstunde im Bundestag anlässlich der Befreiung Auschwitz vor 80 Jahren stattfand, verlieh dem Ganzen zusätzlich einen üblen Beigeschmack. Der 99-jährige Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg will deswegen sein Bundesverdienstkreuz zurückgeben und Michael Friedman trat nach 40 Jahren Parteimitgliedschaft aus der CDU aus. „Das war kein Betriebsunfall“, erklärte der jüdische Publizist gegenüber der „Jüdischen Allgemeinen“. „Jeder Politprofi musste wissen, dass es so kommen würde, wie es am Ende kam.“ Eine Strategie, sich der AfD auf diese Weise zu nähern, sieht er nicht. Wohl aber habe man ein hohes Maß an Verantwortungslosigkeit an den Tag gelegt. „Die Union und leider auch die FDP war bereit, das Risiko einzugehen, dass nur mit der AfD eine Mehrheit zustande kommen würde. Das ist ein Tabubruch, ein Dammbruch.“
Doch unabhängig von der Frage, ob das Agieren von Friedrich Merz ein Ende der „Brandmauer“ bedeutet oder ob diese jetzt lediglich einen Riss bekommen habe, hat das alles schwer kalkulierbare politische Folgen. In Deutschland herrscht gerade Wahlkampf und mit seiner Initiative hat der Kanzlerkandidat der CDU nicht nur manchen Anhängern seiner Partei vor den Kopf gestoßen – selbst Ex-Kanzlerin Angela Merkel hatte sich zu Wort gemeldet und ihn kritisiert – und Wähler verschreckt. Viel problematischer ist nun die absehbare Verschiebung der Schwerpunkte bei den Themen. Die Migration droht in den kommenden Wochen alle Diskussionen zu überlagern. Oder anders formuliert: Wenn die CDU es zulässt, dass Sachfragen wie Wirtschafts- und Sicherheitspolitik, bei denen ihr laut Umfragen relativ hohe Kompetenzen zugesprochen werden, weniger Relevanz haben als die Migrations- und Asylpolitik und das Ganze auch noch gezielt vorantreibt, stärkt sie sehr wahrscheinlich die Rechtsextremen, die ohnehin weitestgehend monothematisch aufgestellt sind. Zudem belastet so etwas das gesellschaftliche Klima – erinnert sei an den Landtagswahlkampf in Hessen im Jahr 1999. Damals machte der CDU-Politiker Roland Koch das Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft zum zentralen Thema und initiierte sogar eine Unterschriftenkampagne mit fatalen Folgen. Immer wieder erklärten Bürgerinnen und Bürger, sie wollten mal „gegen die Ausländer unterschreiben“.
Sich selbst könnte Friedrich Merz ebenfalls einen Bärendienst geleistet haben. Denn der eklatante Wortbruch zu seiner Aussage vom 13. November sowie die Art und Weise, wie er die anderen demokratischen Parteien unter Druck zu setzen versuchte, seinem „Fünf-Punkte-Plan“ zuzustimmen, werden es SPD und Grünen deutlich schwerer machen, mit ihm gegebenenfalls nach der Bundestagswahl eine Koalition einzugehen. „Friedrich Merz weigert sich, eine weitere Zusammenarbeit mit der AfD auszuschließen“, so die Grünen-Politikerin Ricarda Lang am Freitag. „Doch jeder Unions-Abgeordnete weiß, dass sich niemand auf >friss oder stirb, sonst mach ich’s mit den Nazis< einlassen wird. Das ist kein Angebot, sondern Erpressung. So können Demokraten nicht zusammenarbeiten. Wer sich so verhält, ist eines Kanzleramts unwürdig.“ Kurzum, jede Koalitionsverhandlung dürfte nach dem 23. Februar deutlich komplizierter und Deutschland womöglich ein Stück weit unregierbarer werden, weil sich Mehrheiten noch schwerer finden lassen als ohnehin schon.
„Was in der Sache richtig ist, wird nicht falsch, wenn die Falschen zustimmen“, hatte der Kanzlerkandidat vergangene Woche ebenfalls gesagt – ein Satz, der nicht unbedingt dazu geeignet ist zu glauben, dass das, was am 29. Januar geschehen ist, nach dem Motto „Einmal ist keinmal“ wieder ad acta gelegt werden kann. Eher droht die Wiederholung, was dann zur Gewöhnung führt und am Ende womöglich zu einer Zusammenarbeit mit der AfD, die über gemeinsame Abstimmungen hinausgeht. Tabu- oder Dammbruch sind deshalb die falschen Umschreibungen. Bei der Demontage der „Brandmauer“ handelt es sich um eine Salamitaktik.