Von Alvin H. Rosenfeld
„Sieh, als Geschenk vom Ewgen Söhne“, so heißt es in Psalm 127:3, „als Lohn des Leibes Frucht.“
In allen Gesellschaften besteht, ob religiös geprägt oder nicht, der Konsens, die Kostbarkeit und Verletzlichkeit von Kindern anzuerkennen, sowie eine Verpflichtung, Kinder zu schützen und mit Güte und Liebe für sie zu sorgen. Dieser Konsens ist leider nicht immer zutreffend.
Zu den Millionen von Juden, die im Holocaust ermordet wurden, zählen über eine Million, vielleicht sogar anderthalb Millionen jüdische Kinder. Die Namen derjenigen, von denen wir wissen, dass sie ermordet wurden, sind in Yad Vashem in Jerusalem und anderen Forschungseinrichtungen in anderen Ländern verzeichnet. Für viele Menschen steht symbolisch für die ermordeten Kinder eine Name: Anne Frank. Dem Auschwitz-Überlebenden und Schriftsteller Primo Levi zufolge „erregt eine einzige Anne Frank mehr Emotionen als die unzähligen, die wie sie gelitten haben. Vielleicht ist es notwendig, dass es so ist… [denn] wenn wir die Leiden aller erleiden müssten, könnten wir nicht leben“.
Anne Frank starb in Bergen-Belsen noch bevor sie 16 Jahre alt war. Dank ihres Tagebuchs und seiner verschiedenen literarischen und filmischen Adaptionen ist sie für Millionen von Menschen in der ganzen Welt zum Symbol für den Tod all derer geworden, die von Hitler und seinen Anhängern zum Tode verurteilt waren und ermordet wurden.
Gestern, am 26. Februar 2025, wurden zwei kleine israelische Kinder – der neun Monate alte Kfir Bibas und sein vier Jahre alter Bruder Ariel – in ähnlicher Weise zum Symbol für das schreckliche Schicksal von etwa 250 anderen, die am 7. Oktober 2023 aus dem Süden Israels entführt und gewaltsam nach Gaza verschleppt wurden. Warum wurden ein Kleinkind, sein kleiner Bruder und ihre verängstigte Mutter, Shiri Bibas, entführt? Um sie freizukaufen? Wenn ja, warum wurden sie dann innerhalb eines Monats nach ihrer Entführung auf grausamste Weise ermordet? Welche Bedrohung stellten diese drei unschuldigen Juden und zahlreiche andere für die Hamas und ihre Verbündeten dar?
Die Antwort lautet: gar keine. Warum sollte man dann ihrem Leben ein Ende setzen? Die gleiche Frage kann man sich bei Anne Frank stellen.
Warum hielten es die Deutschen unter Hitler für nötig, die Macht eines ganzen Staates zu mobilisieren, um aus diesem jungen Mädchen eine Geflüchtete zu machen, sie dann in ihrem Versteck zu jagen, sie in drei Konzentrationslager zu verschleppen und sie einem frühen Tod preiszugeben? Welche Bedrohung stellte Anne Frank für das Dritte Reich dar? Die Antwort lautet einmal mehr: gar keine. Wie erklärt sich dann Hitlers grausamer Krieg gegen die Juden, einschließlich der Ermordung von einer Million oder mehr jüdischer Kinder?
Es gibt mehrere Antworten, aber eine lautet: In der Weltanschauung der Nazis waren die Juden nicht nur menschlich minderwertig – „Untermenschen“, um den damals gängigen Begriff für sie zu verwenden -, sondern sie stellten eine Form von „lebensunwürdigem Leben“ dar. Im rassistischen Denken der Nationalsozialisten waren Juden nicht nur minderwertig, sondern stellten eine „Gegen-Rasse“ dar. Jüdische Existenz war somit nicht legitim und durfte nicht geduldet werden. So gesehen war Anne Frank, das jüngste Kind einer jüdischen Familie, die seit mindestens sieben Generationen in Deutschland lebte, eine fremde und feindliche Existenz, die ausgelöscht werden musste.
Ihre sterblichen Überreste liegen heute zusammen mit Tausenden anderer Juden in einem Massengrab in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Aber ihre Geschichte, oder zumindest der weniger grausame Teil davon, lebt weiter und wird von unzähligen Menschen in der ganzen Welt rezipert, die vor allem den Satz schätzen, der zu ihrem Markenzeichen geworden ist: „Ich glaube trotz allem immer noch daran, dass die Menschen im Grunde ihres Herzens wirklich gut sind.“
Es ist unwahrscheinlich, dass Anne Frank, die in ihren letzten Tagen in Bergen-Belsen verhungert und an Typhus erkrankt war, mit diesen Worten auf den Lippen diese Welt verlassen hat, aber es sind die Worte, die bis heute am stärksten mit ihrer Erinnerung verbunden sind, einer fast seligen Erinnerung.
Das Schicksal des kleinen Kfir, seines Bruders Ariel und ihrer verzweifelten und verängstigten Mutter ist nicht mit solchen Gefühlen verbunden. Alle drei wurden aus ihrem Haus im Kibbuz Nir Oz entführt und von ihren Entführern in Gaza rücksichtslos ermordet. Wurden auch sie, wie Anne Frank und unzählige andere, als „lebensunwertes Lebens“ betrachtet? Offensichtlich ja, ebenso wie etwa 1200 andere Juden, die am 7. Oktober 2023 im Süden Israels abgeschlachtet, und fast 250 weitere, die entführt und in die Tunnel des Gazastreifens verschleppt wurden. Viele kehren nicht mehr lebend zurück.
Zwischen beiden historischen Ereignissen liegt jedoch ein wesentlicher Unterschied. Eines der Hauptmotive der Nationalsozialisten für den Völkermord beruhte auf falschen anthropologischen, rassenhygienischen Theorien ihrer Zeit. Damit die „überlegenen“ Typen – allen voran die arischen Deutschen – „gedeihen“ konnten, mussten die minderwertigen Typen – die „Untermenschen“ – eliminiert werden. Zur letzteren Kategorie gehörten diejenigen, die als psychisch krank oder körperlich und geistig behindert eingestuft wurden und von denen Hunderttausende getötet wurden. Ein ähnliches Schicksal erwartete eine große Zahl von Slawen. Auf der untersten Stufe derjenigen, die keine Existenzberechtigung besaßen, standen jedoch die Juden, von denen etwa sechs Millionen ermordet wurden. Für Menschen in aller Welt ist Anne Frank zum Symbol für ihr Schicksal geworden.
Es stellt sich die Frage, ob die Bibas-Kinder, weltweit bekannt für ihr süßes Lächeln und ihr leuchtend rotes Haar, stellvertretend Symbol für diejenigen werden, die am 7. Oktober 2023 gejagt, ermordet und verschleppt wurden. Erste Hinweise darauf gibt es weltweit, denn als ihre grausame Ermordung öffentlich wurde, erleuchteten Städte auf der ganzen Welt – New York, Beverly Hills, Buenos Aires, Rio de Janeiro, Belgrad und sogar das weit entfernte Yangon in Myanmar – plötzlich in Orange, der Farbe, die mit dem glänzenden Haar von Kfir und Ariel assoziiert wird. In der Schweiz wurden orangefarbene Luftballons in die Luft geschickt, von denen einige die Bilder der Bibas-Jungen trugen, begleitet vom Gesang der Hatikvah, der israelischen Nationalhymne. Die Farbaktionen symbolisieren des ehrende Gedenken an die ermordeten Bibas-Kinder.
Warum aber wurden sie überhaupt ermordet? Nicht in erster Linie aus „rassischen“ Gründen, wie es bei Anne Frank und so vielen anderen der Fall war, sondern in erster Linie aus religiösen Gründen. In der Präambel der Hamas-Charta von 1988 heißt es: „Israel existiert und wird weiter existieren, bis der Islam es auslöscht, so wie er andere vor ihm ausgelöscht hat.“ Artikel 7 verkündet: „Der Tag des Jüngsten Gerichts wird nicht eintreten, bevor die Muslime die Juden bekämpfen und sie töten“ (zitiert aus einem muslimischen Hadith, der Mohammed zugeschrieben wird). Das „palästinensische Problem“, so heißt es darin, „ist ein religiöses Problem“ und kann nicht auf dem Verhandlungsweg politisch gelöst werden. „Initiativen, Vorschläge und internationale Konferenzen sind reine Zeitverschwendung, eine Übung in Vergeblichkeit“. (Artikel 13). Der einzige Weg, „das Banner Allahs über jeden Zentimeter Palästinas zu erheben“, ist der „Djihad“, ein heiliger Krieg, der „eine Pflicht für jeden Muslim ist, wo immer er auch sein mag“. (Artikel 13). Das Ziel der Hamas und ihrer Verbündeten besteht darin, die Welt unter der Herrschaft des Islam neu zu ordnen. Dies ist ihr zentrales Glaubensbekenntnis: „Allah ist ihr Ziel, der Prophet ist ihr Vorbild, und der Koran ist ihre Verfassung: Der Dschihad ist der Weg, und der Tod für Allah ist ihr höchstes Ziel.“ (Artikel 9)
Die meisten Menschen im Westen sehen den israelisch-palästinensischen Konflikt im Wesentlichen als einen politischen und territorialen Konflikt an. Das ist er auch, aber nur zum Teil. Für die Hamas und andere islamistische Gruppen ist er im Wesentlichen religiös und wird als muslimisch-jüdischer Konflikt verstanden. In ihrem Herzen steckt die Vernichtungsphantasie, Juden zu töten und dem jüdischen Staat ein Ende zu setzen. Für ihre eifrigsten Anhänger ist das große Ziel ein Völkermord.
Der kleine Kfir, sein vierjähriger Bruder Ariel und ihre hingebungsvolle Mutter Shiri Bibas fielen diesem Ziel zum Opfer. Ihr Leben wurde wegen der doppelten Sünde, Juden zu sein und in Israel zu leben, ausgelöscht. Das Todesurteil über sie lautete mit anderen Worten, dass sie einfach waren, wer sie waren – Juden. Es ist ein Schicksal, das viele andere erwartet, in Israel und darüber hinaus, wenn diese neueste Version der Vernichtungswut nicht vollständig und endgültig besiegt wird.
Alvin H. Rosenfeld ist Direktor des Center for the Study of Contemporary Antisemitism, Indiana University, USA.
Deutsche Übersetzung: Dr. Verena Buser, Berlin