Ortal ist in Kirjat Shmona geboren, hat dort geheiratet und ihre Kinder bekommen. Seit dreizehn Monaten hat sie ihre kleine Wohnung in der Stadt ganz im Norden Israels nicht mehr gesehen. Das Entsetzen über das Massaker palästinensischer Terroristen im Westlichen Negev am 7. Oktober letzten Jahres vermischte sich mit der Angst, dass die Hisbollah den israelischen Norden gleichfalls überfallen und dort ein Blutbad anrichten könnte. Heute können wir sicher sagen, dass entsprechende Vorbereitungen weit fortgeschritten waren.
Von Oliver Vrankovic
Als die Heimatfront die Bewohner*innen der an der libanesischen Grenze gelegenen Entwicklungsstadt aufforderten, ihre Türen geschlossen und ihre Lichter ausgeschaltet zu lassen, hielten es Ortal und ihre Familie und die Familie ihrer Schwägerin Hagit nicht mehr aus. Sie gingen die Portale durch, in denen Familien und Vereine aus dem Zentrum den Menschen aus den Kriegsgebieten Unterkünfte anboten und stießen auf Maccabi Ramat Yitzhak, einen kleinen Verein in Ramat Gan. Dessen Vorsitzender Na’or Brachel steckte mit sechs Mitstreitern mitten in Renovierungsarbeiten. Das Haus, das die Stadt dem Verein zur Verfügung gestellt hat, bedurfte einer Generalüberholung, die noch nicht abgeschlossen war, als Israel plötzlich mit einer neuen furchtbaren Realität konfrontiert war.
Ende 2022 hatte Brachel, der im Mai des gleichen Jahres den Vereinsvorsitz übernommen hatte, bereits einen Tischtennis-Saal im oberen Stockwerk des Gebäude fertiggestellt und entsprechend formierte sich eine Tischtennis-Abteilung für mehrere Altersstufen von Kindern und Jugendlichen. Bald wurde eine Gruppe Parkinson-Kranker auf die Möglichkeit aufmerksam, in Ramat Gan Tischtennis zu spielen. Der Sport, der entspannt und die Koordination fördert, hat eine therapeutische Wirkung auf Parkinson-Kranke und verlangsamt die Ausprägung der Symptome. Bei Maccabi Ramat Yitzhak entstand eine Tischtennis-Abteilung für Parkinson-Kranke.
Nach dem 7. Oktober wurde der Betrieb für die Kinder und Jugendlichen für mehrere Monate eingestellt, doch die Parkinson-Kranken kamen öfter und manche jeden Tag. Das pro-aktive Tischtennis-Spielen verbindet die sportlichen und gesundheitlichen Aspekte mit dem Spaß am Spiel. Der therapeutische Nutzen war in Kriegszeiten noch viel größer. Für die Parkinson-Kranken erwiesen sich Brachel und Maccabi Ramat Yitzhak als Segen. In den Stockwerken, die noch nicht fertig renoviert waren, kamen acht Tage nach dem 7. Oktober die Familien von Ortal und ihrer Schwägerin Hagit unter – 28 Flüchtlinge aus Kirjat Shmona, von einem 1-jährigen Kleinkind bis zum 80-jährigen Pensionär. Ihrer überstürzten Flucht war geschuldet, dass sie nur Handgepäck dabei hatten. Ihre anfängliche Annahme, dass sie nach einem Monat maximal zwei Monaten zurückkehren könnten, zerschlug sich mit der Intensivierung des Raketen- und Granatenterrors gegen den israelischen Norden.
Ihre Wohnung sei noch unversehrt, erzählt Ortal, in unmittelbarer Umgebung aber gebe es große Zerstörung. Ihr Sohn, der die erste Klasse in Kirjat Shmona angefangen hatte, lernte Schule und Klassenkameraden kaum kennen und geht seit der Flucht aus dem Norden in Ramat Gan zur Schule. Seine jüngeren Geschwister konnte Ortal nicht in einer Krippe unterbringen und hatte sie ein Jahr bei sich. Die ersten Monate, so sagt sie, seinen von Verzweiflung geprägt gewesen, Spannungen, die durch das Aufeinandersitzen bedingt waren und apathischem Nichtstun. Sie mussten ihre nächste Umgebung kennenlernen, den öffentlichen Dienst und die medizinische Versorgung vor Ort. Raphael, Ortals Vater, wurde krank und musste dringend operiert werden. Ohne Brachel und seine Mitstreiter, so sagt Ortal, wären sie aufgeschmissen gewesen. Die Leute von Maccabi Ramat Yitzhak renovierten nicht nur, sondern kümmerten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch um die Grundversorgung, die Bürokratie und das Wohlergehen der Flüchtlinge.
Langsam gelang es den Geflüchteten aus Kirjat Shmona auch, Kontakte zu den Menschen in der Nachbarschaft zu finden, die sich, so erzählt Ortal, alle unglaublich hilfsbereit zeigten. Rafael betont, wie herzlich er in der Synagoge aufgenommen wurde und welch wertvollen Halt ihm das gegeben hat. Aus Bekannten wurden Freunde und Raphael erzählt, dass sie gleichzeitig wünschen, dass er bei ihnen bleibt und bald zurück nach Kirjat Shmona gehen kann. Denn auch wenn sie durchaus hier und da frohe Momente wie Kindergeburtstage hatten, sehnen sich die Familien zurück nach ihrem Zuhause.
Hagit hat die Situation sehr zugesetzt. Ihr Mann ist als Sicherheitsbeauftragter von Kirjat Shmona weiter die meiste Zeit in der ständig angegriffenen Stadt und ihre ältere Tochter hat sich im Sommer für die Artillerie der Kampftruppen rekrutiert. Um die Sorgen ihrer Mutter zu vergrößern, so Hagit halb im Spaß, halb im Ernst im März gegenüber einer DIG Delegation, die zu Besuch aus Deutschland war. Sie könne nicht anders, erläuterte ihre Tochter damals, sie verspüre ein Verlangen, das Land zu verteidigen.
Für Brachel bedeutete die Aufnahme der Familien aus Kirjat Shmona, zusätzlich zur Verbesserung des Angebot für die Parkinson-Kranken und dem Angebot für Kinder und Jugendliche, eine Mammutaufgabe. Die Feuerwehr bemängelte den Brandschutz und zwang den Verein zu einer Investition von NIS 100.000 für ein Brandmelde- und Sprinklersystem.
Als die Delegation der DIG im vergangenen März bei Maccabi Ramat Yitzhak war, berichteten Brachel und seine Vereinskollegen Eyal und Ophir, dass der unebene Boden und die suboptimale Beleuchtung im Tischtennis Saal ausgetauscht werden müssten. Einige Monate später hat der Verein Beides bewerkstelligt – mit großem Einsatz, ständiger Suche nach Spendengeldern, Freiwilligen und nicht wenig Geld aus der eigenen Tasche. Das nächste große Vorhaben von Brachel ist ein Aufzug.
Wer im Vereinshaus von Maccabi Ramat Yitzhak vorbeischaut, sieht Brachel, wie er repariert, putzt, Müll rausbringt usw. Wenn er nicht gerade versucht, Möbel, Ausrüstung oder Spenden zu sammeln. Als er den Vorsitz übernahm, so erinnert er sich, spielte die Stadt mit dem Gedanken, dem Verein das Haus wieder zu entziehen und abzureißen. Hilfe vom Staat, so Brachel, gibt es keine. Auf der Webseite von Maccabi Ramat Yitzhak heißt es heute: „Unsere Aufgabe besteht darin, den Familien, Männern, Frauen und Kindern, die direkt vom abscheulichen Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober betroffen waren, sowie jenen, die durch den anhaltenden Krieg mit der Hamas und der Hisbollah vertrieben wurden, Nahrung, sichere Unterkünfte und das Nötigste zur Verfügung zu stellen.“ Es wirkliches Understatement, wenn man sieht, was Barchel und die Vereinsmitglieder leisten.
Als einen Engel bezeichnen ihn die Evakuierten, die wissen, wie vergleichsweise gut sie es in ihrer schlimmen Situation haben. Im unweit entfernt gelegenen Hotel Kfar Maccabia haben die durch die gedrängte Unterbringung bedingten Spannungen dazu geführt, dass Geflüchtete aus Kirjat Shmoma im Verbund mit Geflüchteten aus Sderot ihren Frust am Interieur des Hotels ausgelassen haben. Aus den Hotels für die Evakuierten aus den Entwicklungsstädten, die – milde ausgedrückt – auch ohne Krieg ein schwieriges Leben haben, hört man die schrecklichsten Geschichten von Gewalt, Drogen, Prostitution, Vergewaltigungen. Es sind Leute, die auch ohne Krieg schon bis zum Hals in Problemen steckten und mit dem Lauf der Zeit abseits ihres gewohnten Umfelds großen seelischen Schaden genommen haben. Den Menschen aus den Entwicklungsstädten in der Peripherie fehlt es im Gegensatz zu Kibbuz-Gemeinschaften außerdem am Know How, um Spendengelder zu aquirieren. Im Haus von Maccabi Ramat Yitzhak hilft Brachel den 22 verbliebenen Evakuierten aus Kirjat Shmoma in jeder Hinsicht dabei, über die Runden zu kommen und bei Verstand zu bleiben.
Auf dem Weg zum Tischtennissaal schauen die Parkinson-Kranken bei den Familien von Ortal und Hagit vorbei und fragen wie es den Kindern geht. Leider steht die Tischtennis Möglichkeit (noch) nur denjenigen offen, die drei Stockwerke Treppen bewältigen können. Das soll sich ändern! Chanukka und Weihnachten stehen vor der Tür. Es wird gespendet. Dieses Jahr gerne für Maccabi Ramat Yitzhak! Für die Parkinson-Kranken und die Evakuierten aus Kirjat Shmona.
Die DIG Stuttgart und Keren Hayesod haben eine Spendenmöglichkeit geschaffen und Maccabi Ramat Yitzhak kann Spendenquittungen ausstellen: