„Ich habe mich geweigert, nach dem Massaker zusammenzubrechen“

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Bei der Buchvorstellung in Israel, organisiert von der Friedrich-Ebert-Stiftung Israel: V.l. Anita Haviv-Horiner, Yaniv Hegyi und Chana Irom, Gründerin und Leiterin der Initiative "Iron Sisters"

Die israelische, aus Österreich gebürtige Bildungsvermittlerin und Publizistin Anita Haviv-Horiner hat in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung einen sehr lesenswerten Band über das ein Jahr zurückliegende Hamas Massaker vom 7. Oktober vorgelegt.

Von Roland Kaufhold

Die Besonderheit ihres Bandes ist, dass sie hierbei 17 VertreterInnen der israelischen Zivilbevölkerung anhand eines strukturierten kurzen Fragebogens zum Erinnern und Sprechen über das Furchtbare eingeladen hat. Das Erinnern dient hierbei zugleich dem Verarbeiten, wie bei der Lektüre eindrücklich deutlich wird. Und es soll in dem Band die beeindruckende Solidarität innerhalb der israelischen Zivilbevölkerung als Reaktion auf den Überfall veranschaulicht werden. Solidarität heißt Handeln ist Anita Haviv-Horiners anregungsreicher Band demgemäß auch überschrieben.

„Der Tag der nicht enden will“

Nach einer Einführung von Anita Haviv Horiner sowie einer Erinnerung an den „Tag der nicht enden will“ – die Schreckensbilder sind jedem Israeli bis heute gegenwärtig und werden auch noch in Jahrzehnten innerlich erinnert werden – von Wladimir Struminski folgen 17 Interviews mit neun Frauen und acht Männern. Die Autorin hat hierbei darauf geachtet, dass ihre Interviewpartner das gesamte soziale, ethnische und politische Spektrum der israelischen Zivilbevölkerung widerspiegelt – eines der offenkundigen Vorzüge dieses Bandes.

Yaniv Hegyi, ehemaliger Generalsekretär des Kibbuz Be’eri, erinnert an die zahlreichen Angriffe von PalästinenserInnen gegen seinen Kibbuz in den vergangenen Jahren. Seine eigenen drei Kinder wurden durch diese Angriffe schwer traumatisiert. Dennoch blieb seine Familie in Be’eri wohnen und engagierte sich in den zurückliegenden Jahrzehnten immer wieder um eine Zusammenarbeit mit Palästinensern. Er baute auch eine Residenz für Kunstschaffende auf: „Ich war immer ein überzeugter Friedensaktivist. Nach dem Massaker und angesichts des Jubels, den es bei vielen Palästinenserinnen und Palästinensern auslöste, habe ich meinen Glauben an ein friedliches Zusammenleben jedoch verloren.“ (S. 45)

In den Monaten nach dem Pogrom baute Hegyi zuerst in Eigeninitiative und dann auch in Zusammenarbeit mit der israelischen Nationalbibliothek eine Dokumentation des Pogroms über die WhatsApp-Nachrichten des Tages auf, die in dem Verein 710 Memorial mündete: „Wir können Akte von Mut und Solidarität dokumentieren. Die Erinnerung an sie wird auch in 100 Jahren fortbestehen.“ (S. 49)

Yael Cyment wuchs in einem Kibbuz auf. Sie sei sehr stolz darauf, dass sich die israelische Gesellschaft selbst nach dem Pogrom „von ihrer besten Seite gezeigt“ habe (S. 53). Zahlreiche Psychotherapeuten, und auch sie mit ihrer Kompetenz zur Akupunktur hätten sich direkt nach dem Pogrom zusammen getan, um den Opfern des Terrorüberfalls Hilfen anzubieten. Ihr Kibbutz habe sie für diese Tätigkeit freigestellt.

Sehr eindrücklich sind die Darstellungen der 1963 in Jerusalem geborenen Geschichtsprofessorin und Fotografin Dana Ariel. Aufgewühlt durch die Ermordung Rabins (1993), über den sie zwei Bücher schrieb, sowie als Tochter von Shoahüberlebenden, die den Staat Israel aufgebaut hatten, engagierte sich Ariel früh in der Bürgerrechtsbewegung. Auch an den neuen Demonstrationen habe sie regelmäßig teilgenommen. Sie dokumentierte die Verbrechen des 7.10. fotografisch und erhielt die Erlaubnis, auch die unmittelbaren Orte der Hamasverbrechen im Süden zu fotografieren. Sich „dem Schrecken des Massakers zu stellen“ (S. 69) erfülle sie mit Stolz und wirke sich heilend für die gesamte israelische Gesellschaft aus.

„Anderen zu helfen gibt mir Resilienz“

Ein Teil der Familie der Verlagsleiterin Dita Kohl-Roman, Tochter von Shoahüberlebenden, gehörte zu den Opfern der Entführungen der Terrorgruppe Hamas. Sie engagierte sich von Anfang an international in dem Kampf für die Freilassung der Geiseln. Ihre Familie sei hierdurch noch enger zusammengewachsen. Anderen zu helfen gebe ihr Resilienz, auch deshalb mache sie immer weiter.

Die auch in Deutschland bekannte palästinensische Sozialarbeiterin und Feministin Nabila Espanioly beschreibt ihr Engagement für Frauen in Haifa und in der Westbank. Ihre Arbeitsmöglichkeiten auch in der israelischen Friedensbewegung, in der sie seit einem halben Jahrhundert aktiv sei, hätten sich seit dem Pogrom sehr verschlechtert. „Als palästinensische Staatsbürgerin Israels habe sie „nicht das Privileg, verzweifelt zu sein“, fasst sie ihre inneren Motive für ihr Engagement zusammen (S. 84). Das Handeln sei für sie „auch eine persönliche Therapie“ (S. 86).

In weiteren Interviews stellen sich u.a. ein Chefkoch, ein Betreuer für russische Senioren, die Leiterin einer Abteilung für Kibbuzim bei der Jugendbewegung Ha-Schomer Ha-Tzair, ein Manager eines Finanzunternehmens, eine ultraorthodoxe Frau (Chana Irom mit ihren Iron Sisters) und ein russischstämmiger Politikberater vor. Sie alle unterbrachen ihren Alltag und brachten ihre berufliche Kompetenz ein, um die israelische Gesellschaft und insbesondere den aus dem Süden in das Landesinnere vertriebenen ca. 200.000 Israelis in konkreter Weise zu helfen. Ihr eigenes Handeln habe sich wie ein Schneeball ausgewirkt und viele Israelis ermutigt, sich gleichfalls in kollektiven Hilfsprojekten einzubringen.

Alexander Dergay beschreibt, wie ihm die Konfrontation mit den Verbrechen außerdem geholfen habe, die eigenen innerfamiliären Verfolgungserfahrungen besser zu verstehen.

„Wir werden noch sehr lange in einer Notsituation sein“

Die Medienberaterin und Theaterpädagogin Feministin Avishag Avinoam, die früher selbst als Discjockey gearbeitet hatte, schaltete direkt nach dem Überfall in einen „Überlebensmodus“ (S. 143). Sie hatte anfangs starke Depressionen, fotografierte sich selbst im Bunker und veröffentlichte die Fotos in einer „Live-Übertragung“. Es war eine Dokumentation der Verbrechen, gegen die international sogleich einsetzenden Verleugnungsversuche und Täter-Opfer-Umkehrungen: „Ohne mein Engagement wäre ich in Trauer versunken“, hebt sie hervor (S. 149).

„Wir werden noch sehr lange in einer Notsituation sein. Die Arbeit hat erst begonnen“ (S. 151). Mit dieser realistischen Perspektive ist der Beitrag der pensionierten Hochschuldozentin Orly Soker betitelt. Neben ihrer Lehrtätigkeit zur Geschichte des Zionismus und Journalismus hatte sie sich bereits früh in zivilgesellschaftlichen Initiativen engagiert. Nun gründete sie mit wenigen KollegInnen die Nichtregierungsorganisation „Masa Ischi – Personal Journey“. Sie ermutigten die von den Terroristen attackierten Menschen, auch in medial weniger beachteten Orten wie Ofakim, über ihre furchtbaren Erinnerungen zu sprechen oder diese auch aufzuschreiben. Als Motiv für ihr Engagement benennt sie eigene als traumatisch erlebte Kriegsrunden mit der Hamas im Jahr 2014. Das gemeinsame Sprechen über das Erlittene könne Menschen weltweit helfen, „die belastenden Erfahrungen zu überwinden.“ (S. 158)

Terry Newman, Inhaber einer Investmentfirma, 1981 in London geboren und 2006 nach Israel eingewandert, gründete mit Freunden „Brothers and Sisters for Israel“. Diese Organisation von Reservisten der Armee war maßgeblich an der Organisation von Protesten gegen die Regierung beteiligt. Ihre erworbenen Ressourcen setzten sie unmittelbar nach dem Massaker dafür ein, „den Überlebenden des Hamas-Massakers zu helfen.“ (S. 162) Hunderte von Freiwilligen engagierten sich etwa für Spendenkampagnen für Binnenflüchtlinge. Jede Krise enthalte auch eine Hoffnungsperspektive, das motiviere sie, so Newman.

Solidarität zwischen jüdischen und arabischen Menschen

Jamal Alkirnawi, 1979 in Rahat in einer beduinischen Familie aufgewachsen, wurde zum Leiter der Nichtregierungsorganisation „A New Dawn in the Negev“. Am Tag nach dem Überfall sei er nicht fähig gewesen, zur Arbeit zu gehen. In den beduinischen Ortschaften gab es kaum Schutzräume gegen Raketenangriffe der Hamas. Seine Organisation begann mit Hausbesuchen und psychosozialen Hilfsangeboten, 200 arabische und jüdische Freiwillige unterstützten sie. „Ich habe mich geweigert, nach dem Massaker zusammenzubrechen. Ich habe Menschen verloren, die mir nahestanden“ (S. 174), hebt er hervor. Solidarität zwischen jüdischen und arabischen Menschen sei seine zum Handeln ermutigende Hoffnung.

Der Investmentbanker Avner Stepak fasst die Grundlagen seines Engagement in dem Motto zusammen: „Tue Gutes, du wirst es mit Zinsen zurückbekommen.“ (S. 177) Er organisierte Fahrdienste für Soldaten und organisierte 4500 ehrenamtliche Helfer bei der Ernte im Süden Israels.

Den Abschluss des anregungsreichen Bandes bildet die Tierärztin Shira Yashpe. Unmittelbar nach dem Massaker beschloss sie, sich für die zahlreichen, in den verlassenen Orten schutzlos herumirrenden Tiere einzusetzen, in Abstimmung mit den Behörden. Sie errichtete in einem Kibbuz die Zentrale „Dogs and Heroes“, die bald landesweit bekannt wurde. Die Behörden gaben ihr die Anweisung, sich für die Rettung landwirtschaftlicher Pflanzen einzusetzen: „Ich sagte zu meinem Team: „Schnappt euch auf dem Weg zu den Tieren auch eine Pflanze.“ (S. 189) Sie hätte alles getan, um die bedrohten Tiere „aus dem Inferno herauszuholen“ (S. 189), beschreibt sie ihre Motivation. Ihr war bewusst, dass sie nur in der Kriegszone zu helfen vermochte: „Mir war klar, dass dieses Engagement unerlässlich war, um mit mir selbst im Reinen zu sein. Ich wollte mich nicht von der Angst beherrschen lassen.“ (S. 191)

Anita Haviv-Horiner: Solidarität heißt Handeln. Die israelische Zivilgesellschaft nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023. Bundeszentrale für politische Bildung, 201 S., 4,50 Euro, Bestellen?

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