Die israelische Bildungsvermittlerin und Publizistin Anita Haviv-Horiner hat einen gut lesbaren Band zum Antisemitismus in Europa herausgegeben. Zugang ist hierbei, wie dieser von Israelis wahrgenommen wird…
Von Roland Kaufhold
Haviv-Horiner wählt hierbei auch für sich selbst den autobiografischen Zugang: Ihr Vater, ein Überlebender, schwieg, wenn er in Österreich mit antisemitischen Bemerkungen konfrontiert wurde. Österreicher seiner Generation sah er zuvörderst als Nazis. Und doch lebte er dort: „Du bist noch jung und verstehst vieles nicht“, entgegnet er seiner wissensdurstigen Tochter. Es sei „vollkommen zwecklos, antisemitische Menschen von ihrem Hass abzubringen.“ Er habe als Jude schon einen zu hohen Preis gezahlt. Er wolle schweigen. Und ihre Mutter bittet Anita besorgt, ihren Davidstern an ihrer Kette lieber zu verstecken. Die Jugendliche ist empört: „Ich bin Jüdin“ sagt sie bald darauf offensiv. Wenige Jahre später geht sie nach Israel; ihre Eltern, die Überlebenden, bleiben hingegen in Wien.
Eingeführt wird in die Thematik durch wissenschaftliche Beiträge von Samuel Salzborn sowie Moshe Zimmermann. Beide verkörpern unterschiedliche politische Positionen, was sich auch in ihren Einschätzungen widerspiegelt: Der Antisemitismusforscher Salzborn lobt den neuen regierungsamtlichen Antisemitismusbericht, insbesondere wegen der darin vorgenommenen Benennung des Schuldabwehr- sowie des antiisraelischen Antisemitismus als Erklärungskategorie. Dies könne jedoch erst „der Anfang“ von pädagogischen und politischen Bemühungen sein.
Moshe Zimmermann verweist in seinem informierten Text auf die 2500 Jahre alte Geschichte des Antisemitismus. Die neu eingeführte „Nachkriegskategorie“ vom „israelbezogenen Antisemitismus“ erscheint dem in Israel lebenden Forscher als problematisch. „Vehemente Befürworter der israelischen Politik“ tendierten dazu, so Zimmermann aus der Perspektive eines linken Israelis, diesen Begriff „überzustrapazieren“. Er erwähnt auch die „Empfindsamkeit der potentiellen Opfer“, welche die Objektivität ihrer Wahrnehmung beeinträchtige; dies bezieht Zimmermann ausdrücklich auch auf Autoren des Bandes.
Breites Spektrum
Gelungen erscheint die Breite des biografischen Spektrums der weiteren 15 Autoren des bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienenen Bandes: Sie stammen aus Rumänien, Österreich, Polen, Ungarn, Frankreich Deutschland, Russland und Großbritannien, und sie sind zwischen 27 und 80 Jahre alt. Die Mehrzahl von ihnen lebt heute in Israel, viele haben biografische Bezüge zum deutschsprachigen Raum. Für die Winzerin Ronny Hollaender, 1988 in Petach Tikva geboren, ist Israel „ein sicherer Hafen“. Ein Praktikum in der Nähe Hamburgs ist mit „schlimmen Erfahrungen“ verbunden: Als Jüdin fühlt sie sich fremd und unverstanden, sie sieht eine „tiefe Kluft“ zwischen Deutschen und Israelis. Das „mangelnde Wissen“ über Israel ist für sie eine der Quellen von Antisemitismus.
Die in Berlin tätige Büroleiterin Dafna Berger engagiert sich für einen Brückenschlag. Insbesondere bei Ostdeutschen nimmt sie einen „Frust-Antisemitismus“ wahr. Auch wenn sie selbst noch nie in Berlin angegriffen worden sei fürchte sie sich, in der U-Bahn hebräische Bücher zu lesen. Kritische Äußerungen über Israel kontere sie immer mit der Frage, ob ihr Gegenüber schon einmal in Israel gewesen sei. Dies sei für sie die Gesprächsgrundlage. Politisch habe sie einen klaren Standpunkt: „Als Israelin bin ich zwar gegen die Besatzung, doch glaube ich gleichzeitig, dass man die Gefahren, mit denen Israel konfrontiert ist, klar sehen muss.“
„BDS-Kampagnen verschärfen den Konflikt“
Der 42-Jährige Guy Brand, Landesbeauftragter der Aktion Sühnezeichen in Israel, ist mit dem Thema seit Jahren vertraut. Der christlich-muslimisch-jüdische Dialog steht im Zentrum seiner Bemühungen. Bei Führungen im Haus der Wannseekonferenz habe er mehrfach antisemitische Aussagen erlebt. Man solle Antisemitismus klar und konkret benennen; zugleich sehe er jedoch auch eine Gefahr, „die von israelischen Rechtspopulisten ausgeht.“ Durch BDS-Kampagnen verschärfe sich der Konflikt, würden zusätzlich Abwehr und Feindbilder geschaffen. Wenn Deutsche Israel nur „aufgrund von kollektiven Schuldgefühlen helfen“ wollten so schlage das irgendwann ins Gegenteil um. Das Scheitern des Versuches, antisemitische Äußerungen durch rationale Argumente einzudämmen, wird im Buch von vielen Autoren benannt.
Ofer Moghadam, dessen Familie aus dem Iran stammt und der in der Welt viel herumgekommen ist, arbeitet heute in Pforzheim als Reiseleiter. Die Kritik an der israelischen Politik erlebe er immer wieder als „Vorwand für antisemitische Gefühle“, insbesondere bei Linken. Bei Führungen mache er sehr häufig antisemitische Erfahrungen, die ihn manchmal aus der Fassung bringe. Die Frage, ob man hierauf immer reagieren solle erfüllt ihn mit tiefer Ambivalenz. Er sehe sich zwar verpflichtet, hierauf zu reagieren, habe aber einfach keine Lust mehr auf Streitgespräche. Israelische und jüdische Organisationen sollten sich weiterhin für „ein ausgewogenes Bild von Israel“ einsetzen.
Der 1991 in Wien geborene und 2016 nach Tel Aviv übersiedelte Politologe Raphael Shklarek ist familiär eng mit Israel verbunden, auch seine Eltern sind stark von der Shoah geprägt worden; sein Großvater war der Herausgeber des Magazins „Jüdisches Echo“. Da er während seines Psychologie- und Politikstudiums in Wien bevorzugt in liberalen Kreisen verkehrte sei er nie aggressivem Antisemitismus ausgesetzt gewesen. Auch könne er sich gut verteidigen. Das „spüren die rassistischen und antisemitischen Schlägertypen instinktiv“. Shklarek führt einige Beispiel der unzähligen antisemitischen Skandale in Österreich an. Seine „Wahrnehmung von Antisemitismus“ habe sich in den vergangenen Jahren verändert. Heute sei er sehr viel skeptischer. Durch die Gründung Israels habe sich die Situation für Juden weltweit grundlegend verändert. Als Jude könne er sich mit der Regierungspolitik der letzten Jahre nicht einverstanden erklären. Das Problem sei jedoch, dass sich in vielen Fällen hinter der auch von ihm geteilten Kritik an Entscheidungen der israelischen Regierung Antisemitismus verberge. Politiker wie Jeremy Corbyn, Vorsitzender von Labour, mit ihren freundschaftlichen Beziehungen zu Terrorgruppen wie der Hamas, verkörpern für den Politikwissenschaftler eine linksliberale „Sympathie für Islamismus“. Antisemitismus werde in seiner früheren Heimat Österreich niemals verschwinden, selbst wenn Israel „den moralischen Ansprüchen der Europäer Genüge täte.“
„Nicht jeder, der mich nicht mag, ist ein Antisemit“
Der 1954 in Rumänien geborene Kleinunternehmer Arthur Karpeles sieht Antisemitismus als eine „unheilbare Krankheit“. Bildungsarbeit habe diesen bisher nicht einzudämmen vermocht. Die nach einer langen Lebenszeit in Jerusalem nun in Wien lebende Judaistin Tirza Lemberger legt sehr anspruchsvolle autobiografische Reflexionen vor: „Nicht jeder, der mich nicht mag“ sei ein Antisemit. In der Öffentlichkeit habe es in Österreich immer „mehr oder weniger versteckten Antisemitismus“ gegeben. Übertriebene Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung im Ausland habe Israel letztlich nichts gebracht: „Israel wird beschimpft, unabhängig von seinen Handlungen.“ Die 1954 in Krakau geborene Historikerin Miri Freilich, die drei Jahre nach ihrer Geburt mit ihrer Familie nach Israel gelangte, wurde durch den 1973er Jom-Kippur-Krieg, an dem sie als Soldatin teilnahm, geprägt. Ihr erster Besuch in Polen, 1989, habe sie geradezu traumatisiert; bei einem Besuch knapp 20 Jahre später machte sie jedoch ganz gegenteilige, positive Erfahrungen. Das heutige Polen „leugnet seinen historischen Antisemitismus“, beklagt die Historikerin. Heute bedanke sie sich innerlich bei ihren Eltern, „dass sie mich nach Jerusalem gebracht hatten.“ Europa, insbesondere Polen, müsse sich seiner antisemitischen Vergangenheit stellen; Israel vermöge dabei nur wenig zu helfen.
Auch weitere Beiträge des Bandes sind von einem eindrücklichen Grad von Selbstreflexion geprägt, etwa der der in Paris aufgewachsenen und seit 2008 in Israel lebenden Historikerin und Holocaustforscherin Stephanie Courouble-Share: „Man muss zwischen Antisemitismus und Rassismus differenzieren, doch beides bekämpfen“, betitelt sie ihren Text. In Frankreich habe sich die Gefahr durch Antisemitismus massiv verschärft, sowohl durch Islamisten als auch durch Linke und Rechte. „Israel gibt mir ein Gefühl der Sicherheit“, auch wenn sie Frankreich und ihre dort lebende Familie vermisse, hebt sie hervor. Israel spiele „eine konstruktive Rolle in der Bekämpfung von Antisemitismus in Frankreich und ganz Europa.“
Der ehemalige Diplomat Daniel Shek bringt seine weltumspannenden Erfahrungen auf eine prägnante Formel: „Meine Meinung über Antisemitismus hat sich nicht geändert. Ich bin dagegen.“
Der von Anita Haviv-Horiner herausgegebene Band ist lesenswert.
Ihren autobiografischen Zugang zum Thema hatte Anita Haviv-Horiner 2015 in ihrem Beitrag eines Sammelbandes über „Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus“ ausführlich und in persönlicher Weise dargeboten: „Ich bin gerührt über dieses Foto meines Vaters. Und dass es auf dem Cover unseres Buches zu sehen ist.“ sagte sie im Mai 2016 bei der Buchvorstellung in der Kölner Germania Judaica, integraler Bestandteil der Kölner Stadtbibliothek.
Anita Haviv-Horiner: In Europa nichts Neues? Israelische Blicke auf Antisemitismus heute, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2019, 184 S., 1,50 Euro plus Versandkosten, Bestellen?
Eine stark gekürte Version dieser Besprechung ist unter dem Titel „„Unheilbare Krankheit“. Anita Haviv-Horiner befragt 15 Israelis zum Antisemitismus in Europa“ in der Jüdischen Allgemeinen 9. Mai 2019 (Nr. 19), S. 19 erschienen.