
Der heutige Reformationstag bietet Anlass, sich den (unterschiedlich ausgeprägten) Antijudaismus der Reformatoren Luther und Zwingli sowie den späteren Antisemitismus der in lutherischer Tradition stehenden „Deutschen Christen“ zu vergegenwärtigen, um in diesem historischen Bewusstsein für einen echten, freien und fruchtbaren jüdisch-christlichen Dialog einzutreten.
Von Thomas Tews
Mit dem Judentum beschäftigte sich der Reformator Martin Luther (1483–1546) bereits in den 1520er Jahren, wobei Sprache und Argumentation seiner frühen diesbezüglichen Schriften trotz des von ihm vertretenen absoluten Wahrheitsanspruches des Christentums in einem verbindlichen, eher werbenden als verdammenden Grundton gehalten waren und sogar gelegentlich ein gewisses Verständnis erkennen ließen[1], etwa in seiner Allegorisierung der biblischen Figur der Judith als jüdisches Volk, die der jüdische Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1907–2001) positiv konnotiert rezipierte:
„Martin Luther hat der Geschichte von Judith und Holofernes aus den Apokryphen des Alten Testaments eine tiefsinnige Deutung gegeben: ‚Judith heißt Judaea, das ist das jüdische Volk, so eine keusche heilige Witwe ist, das ist: Gottesvolk ist immer eine verlassene Witwe, aber keusch und heilig.“[2]
Gleichzeitig jedoch kritisierte Mayer Luther für die Übernahme der antijüdischen christlichen Theologie seiner Zeit:
„[…]; allein für Fürsten und Städter, Bauern wie Kleriker des Mittelalters und der Renaissance blieb die äußere Fremdartigkeit der jüdischen real erblickten oder durch Gerücht vorgestellten Existenz ein äußeres Signum der Verdammung. Daran hatte auch Martin Luther, der kein Humanist war wie Johannes Reuchlin oder Erasmus von Rotterdam, vielmehr innig abhold blieb einer humanistischen Glaubenslaxheit, nichts ändern wollen. Was den römischen Theologen und Juristen die antijüdische Konzilspraxis gewesen war, deduzierte man im evangelischen Katechismus aus dem Buchstaben und Geist eines Neuen Testaments: mit analogem Ergebnis.“[3]
Die Ambivalenz Luthers betonte auch der Philosoph Karl Jaspers (1883–1969), der mit einer Jüdin verheiratet war:
„Anders Luther. Ihn zu studieren, ist unerläßlich. Er ist zwar der theologische Denker, der die Philosophie verachtet, von der Hure Vernunft redet, der aber selbst die existentiellen Grundgedanken vollzieht, ohne die das heutige Philosophieren kaum möglich wäre. Das Ineinander von leidenschaftlichem Glaubensernst und von anpassungsbereiter Klugheit, von Tiefe und von feindseliger Grundstimmung, von erleuchtender Treffsicherheit und von rohem Poltern macht das Studium wie zur Pflicht, so auch zur Qual. Die Atmosphäre, die von diesem Menschen ausgeht, ist fremd und philosophisch verderblich.“[4]
Auch das Lutherbild des jüdischen Schriftstellers Heinrich Heine (1797–1856), der sich aus pragmatischen Gründen, um seine Aussichten auf eine Anstellung als Jurist zu erhöhen, evangelisch-lutherisch taufen ließ, fiel, obwohl er „für unseren großen Meister Martin“ den „größten Respekt“ hegte, zwiespältig aus:
„Er war ein kompletter Mensch, ich möchte sagen: ein absoluter Mensch, in welchem Geist und Materie nicht getrennt sind. Ihn einen Spiritualisten nennen, wäre daher ebenso irrig, als nennte man ihn einen Sensualisten. Wie soll ich sagen, er hatte etwas Ursprüngliches, Unbegreifliches, Mirakulöses, […] etwas Schauerlich-Naives, etwas Tölpelhaft-Kluges, etwas Erhaben-Borniertes, etwas Unbezwingbar-Dämonisches.“
Luthers Haltung gegenüber dem Judentum änderte sich in den 1530er Jahren radikal, als er begann, wie es der Historiker Heinz Schilling in seiner Lutherbiographie beschreibt, „mit unerbittlicher Schärfe, ja bedingungslosem Vernichtungswillen gegen Juden“[5] zu predigen und zu schreiben. So vertrat der Reformator in seinen „Tischreden“ die Auffassung, dass Christus Judas zum Exempel gemacht habe, wie die Juden untergehen sollten, wobei er den angeblich aufgeborstenen Leib des Judas als Gleichnis verwendete:
„Daß Judas sich selbst erhängt und der Bauch ihm aufberstet und sein Eingeweide ihm heraußer fället, das ist ein Exempel und Bild, wie alle diejenigen umkommen sollen, die da Christum verfolgen und seine Christen umbringen. Denn wie es ihrem Heerführer und Häuptmann, dem Juda, drüber gegangen, daß er Christum verrathen hat, also wirds den andern Feinden Christi auch gehen. Und haben sich die Juden an ihrem Vetter, dem Juda, hie spiegeln sollen und betrachten, daß sie eben der Gestalt auch würden umkommen. Auch stickt eine Allegoria und Mysterium in dem Wörtlin Bauch und Eingeweide. Denn der Bauch bedeut das ganz jüdische Reich, das soll also hinweg fallen und zu Boden gehen, daß nichts davon uberbleibe. Item daß das Eingeweide ausgeschüttet sey, darmit ist angezeiget worden, daß auch der Juden Kinder und ihre Abkömmling, ja das ganze jüdische Geschlecht verderben und untergehen sollte.“[6]
Heine zufolge zeigen derartige „Tischreden“ in Richtung Juden mit „göttlicher Brutalität“ Luthers „düsteren Wahn der Mönche“[7].
Besonders drastisch entlud sich Luthers Hass auf alles Jüdische in seiner 1543 veröffentlichten Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“, in der er einen judenfeindlichen Maßnahmenkatalog vorlegte:
„Erstens, dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und zuschütte, damit kein Mensch mehr davon in Ewigkeit einen Stein oder Schlacke sehen kann. […] Zweitens, dass man auch ihre Häuser zerbreche und zerstöre. […] Drittens, dass man ihnen alle ihre Betbüchlein und Talmudisten wegnehme, in denen diese Abgötterei, die Lügen, der Fluch und die Lästerung gelehrt werden. […] Viertens, dass man ihren Rabbinern [unter Androhung der Strafe des Verlusts] von Leib und Leben verbiete, weiterhin zu lehren. […] Fünftens, dass man den Juden das [freie] Geleit und [das Recht zur Benutzung der] Straße ganz und gar aufhebe. […] Sechstens, dass man ihnen den Wucher verbiete und ihnen alle Barschaft und Kleinodien an Silber und Gold wegnehme und es beiseitelege, um es zu verwahren. […] Siebtens, dass man den jungen, starken Juden und Jüdinnen Dreschflegel, Axt, Hacke, Spaten, Spinnrocken, Spindel in die Hand gebe und lasse sie im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen, wie Adams Kindern aufgelegt ist (Genesis 3,19). [….] Befürchten wir aber, dass sie uns an Leib, Weib, Kind, Gesind, Vieh usw. Schaden tun könnten, wenn sie uns dienen oder [für uns] arbeiten, weil wohl zu vermuten ist, dass diese edlen Herrn der Welt und [diese] giftigen, bitteren Würmer, keine Arbeit gewohnt [sind und] sich nur ungern so hoch unter die verfluchten Gojim demütigen würden, so lasst uns bei der gemeinen Klugheit der anderen Nationen wie Frankreich, Spanien, Böhmen usw. bleiben und mit ihnen abrechnen, was sie uns abgewuchert [haben], und danach gütlich teilen, sie aber jedenfalls zum Lande hinaustreiben.“[8]
Vor dem Hintergrund dieser antijüdischen Ausfälle ist die in der Nachkriegszeit weit verbreitete Vorstellung, dass sich der nationalsozialistische Antisemitismus aus Luthers Judenhass gespeist habe[9], verständlich, doch die jüdische Philosophin Hannah Arendt (1906–1975), die Luther zu den „großen Gründergestalten der Geschichte“ zählte[10], widersprach ihr in einem 1945 veröffentlichten Essay, da sie das mit dem Nationalsozialismus in die Welt gekommene Neuartige und dessen tatsächliche Traditionslosigkeit übersehe:
„Der Nazismus verdankt sich keinem Teil der abendländischen Tradition, ganz gleich, ob es sich um den deutschen, katholischen, protestantischen, christlichen, griechischen oder römischen Anteil an dieser Tradition handelt. Es ist unerheblich, ob wir Thomas von Aquin, Machiavelli, Luther, Kant, Hegel oder Nietzsche mögen – die Liste kann, wie schon ein kursorischer Blick in die Literatur zum ‚deutschen Problem‘ zeigt, endlos verlängert werden –, sie tragen nicht die geringste Verantwortung für das, was in den Vernichtungslagern geschieht. Ideologisch gesehen beginnt der Nazismus ohne jegliche Traditionsgrundlage, und man täte besser daran, die Gefahr dieser radikalen Negation jeglicher Tradition zu erkennen, die das Hauptmerkmal des Nazismus von Anfang an war (im Unterschied zu den Anfangsstadien etwa des italienischen Faschismus).“[11]
Auch der Lutherbiograph Lessing warnt davor, sich „von vornherein den Blick auf den Menschen des 16. durch die Verbrechen des 20. Jahrhunderts verstellen“ zu lassen:
„Luther zum Vorläufer der nationalsozialistischen Judenvernichtung zu erklären, mag manchem, auch manchem protestantischen Pastor als Pflicht erscheinen, um die Schuld zu sühnen, die lutherische Bischöfe unter dem Nationalsozialismus auf sich luden. […] Die nach dem Krieg schließlich auch in Deutschland intensiv vorangetriebene historische Antisemitismusforschung unterscheidet zwischen dem religiös bedingten Antijudaismus Alteuropas und dem rassistischen Antisemitismus der Moderne. Luthers Judenschriften sind der ersten Kategorie zuzuordnen. Angesichts des Anteils von Lutheranern – Kirchenführern wie einfachen Gemeindemitgliedern – an der nationalsozialistischen Judenvernichtung ist es aber nur zu verständlich, wenn man trotz dieser Unterscheidung in Deutschland auch im modernen rassistischen Antisemitismus die ‚Last des von Luther hinterlassenen Erbes‘ sieht. Luther hat erbarmungslos gegen die Juden gepredigt und die Obrigkeiten aufgefordert, sie aus ihren Ländern zu vertreiben. Die physische Ausrottung aus rassistischen Gründen hat der Reformator aber nicht gepredigt. Zudem widerspricht es der historischen Logik wie der biographischen Gerechtigkeit, dem Reformator persönlich in einem historischen Kausalzusammenhang Entscheidungen zuzurechnen, die erst spätere Generationen trafen. Denn historisch-kulturelles Erbe darf nicht biologisch verstanden werden. Es vererbt sich nicht ohne Zutun des Individuums oder des Kollektivs, sondern setzt auswählende Aneignung durch spätere Generationen voraus. Diese hätten sich auch für die erste, judenfreundliche Schrift als Erbe Luthers entscheiden können. Luthers furchtbare Hassreden gegen die Juden mündeten nicht direkt und zwangsläufig in den nationalsozialistischen Holocaust ein. Wer Luther zum Vorfahren Hitlers erklärt, lenkt von entscheidenden kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ab, die zwischen Reformation und Nationalsozialismus liegen und für die andere als der Reformator die Verantwortung tragen.“[12]
Verantwortung tragen beispielsweise die lutherischen Geistlichen, unter denen sich nach Hitlers Machtergreifung 1933 eine Nomostheologie, die dem deutschen Volk die Rolle einer Schöpfungsordnung Gottes zuwies, ausbreitete. Sie erblickten in Luther die wahre Personifikation der Deutschen und in Hitler „ein Geschenk des Himmels“. Die Nationalsynode wählte im September 1933 in Wittenberg Ludwig Müller einstimmig zum Reichsbischof der „Deutschen Christen“. Auf einer Kundgebung bekannte sich Müller, dessen Amtssiegel Kreuz und Hakenkreuz zeigte, zu Hitlers Judenpolitik und schloss mit dem Appell: „Das Alte geht zu Ende. Das Neue kommt herauf. Der kirchenpolitische Kampf ist vorbei, der Kampf um die Seele des Volkes beginnt.“ Dagegen hoffnungslos verloren war die Gegenstimme des Lutheraners Dietrich Bonhoeffer (1906–1945). Dieser bestand zwar darauf, dass das Judentum „von der Kirche Christi her gesehen niemals ein rassischer, sondern ein religiöser Begriff“ sei, aber noch im April 1933 blieb er dem antijudaistischen Vorurteil, Jesus sei „von den Juden“ ans Kreuz geschlagen worden, verhaftet.[13]
In seinem nach dem Tod des österreichisch-israelischen jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (1878–1965) verfassten Buch „Zwiesprache mit Martin Buber. Erinnerungen an einen großen Zeitgenossen“ erzählt der deutsch-israelische Journalist und Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin (1913–1999), der sich wie Buber für den christlich-jüdischen Dialog einsetzte, unter der Überschrift „Luther und Buber“ folgende Anekdote:
„Buber berichtete mir von einer Delegation protestantischer Theologen, die ihn in Tübingen aufsuchten, um das Problem der Offenbarung mit ihm zu erörtern. Die Theologen hatten sich auf den Lehrsatz Luthers berufen, daß Offenbarung nur in der Schmach geschieht. Nur in dem erniedrigten Christus am Kreuz, der zugleich der erhöhte ist, erreiche den Menschen die Offenbarung Gottes. Von hier aus sahen diese deutschen Theologen eine Möglichkeit der theologischen Anknüpfung an die Schmach ihres eigenen Volkes, das in der Erniedrigung, durch eigene Schuld allerdings, wieder offenbarungsbereit werden könne. Buber trat der Auffassung entgegen, daß Offenbarung nur in der Schmach geschehe. Offenbarung war, nach Buber, nur an ein Ding geknüpft, an die dialogische Bereitschaft des Menschen. Offenbarung kann in der Schmach geschehen, aber nicht nur in ihr. Auch diese scheinbare Demut ist Hybris, denn sie beschränkt die Gnade Gottes. So ungefähr legte Buber seine von Luther abweichende Auffassung dar, und nun ereignete sich das Unwahrscheinliche: Die protestantischen Theologen entschlossen sich, aus ihrer Erklärung das Wort ‚nur‘ zu streichen, indem sie anerkannten, daß Offenbarung auch außerhalb der Schmach geschehen könne. Sie setzten damit praktisch Bubers Lehre von der Offenbarung über Luthers dogmatischen Lehrsatz.“[14]
Im Gegensatz zu Luther erhob Buber für seinen Glauben keinen Totalitätsanspruch, wie er in seiner Schrift „Zwiesprache“ ausführt:
„Ich habe nicht die Möglichkeit, über Luther zu urteilen, der Zwinglin in Marburg die Gemeinschaft absagt, und auch nicht über Calvin, der Servetos Tod befördert; denn Luther und Calvin glauben, das Wort Gottes sei so unter die Menschen niedergegangen, daß es eindeutig gekannt werden könne und also ausschließend vertreten werden müsse, ich aber glaube das nicht, sondern das Wort Gottes fährt vor meinen Augen nieder wie ein fallender Stern, von dessen Feuer der Meteorstein zeugen wird, ohne es mir aufleuchten zu machen, und ich selber kann nur das Licht bezeugen, nicht aber den Stein hervorholen und sagen: Das ist es.“[15]
Die Theologie des von Buber erwähnten Zürcher Reformators Huldrych Zwingli (1484–1531) war einerseits wie die seines Widersachers Luther vom Antijudaismus ihrer Zeit geprägt (was sich etwa in der Rede vom „jüdischen Hochmut“[16] manifesiert), andererseits war sie deutlich gemäßigter und ließ auch positive Inbezugnahmen auf das Judentum zu. Beispielsweise begründete Zwingli die christliche Taufe von der jüdischen Beschneidung her:
„Die Taufe trat nun an die Stelle der Beschneidung. […] Ich frage: Was hätte man deutlicher sagen können als so, dass die Beschneidung Christi dann an uns vollzogen worden ist, wenn wir in der Taufe mit ihm begraben sind [vgl. Röm 6,4]? Folglich wird auch die Beschneidung Christi gemäss der Autorität des Gotteswortes – nicht der des Papstes! – an den Kindern vollzogen, so wie einst die Beschneidung Abrahams. […] Die Kindertaufe ist also, wie früher die Beschneidung, ein Sakrament. Es verpflichtet uns vorläufig als Kinder, das Gesetz des Herrn zu lernen und unser Leben zu bilden. Zugleich verpflichtet es auch die Eltern, uns eine solche Bildung zu geben, durch die deutlich wird: Du stammst von Christeneltern und wirst diesem Bekenntnis entsprechend Dein Leben führen. Ganz ähnlich konnte man dies an der Beschneidung derer erkennen, die vom Fleisch oder vom Geist von Abraham abstammten.“[17]
Das christliche Abendmahl verstand Zwingli analog dem jüdischen Pessachfest:
„Weiter ist unter uns schon eine längere Zeit heftig darüber gestritten worden, was die Sakramente oder die Symbole im Mahl bewirken oder vermögen. Einige beharren darauf, dass die Sakramente den Glauben schenken, den Leib Christi der Natur nach herbringen und bewirken, dass er gegenwärtig gegessen werde; wir lehren hier [in Einklang] mit dem Stifter [der Sakramente] etwas anderes. Als erstes: Den Glauben, d. h. das Vertrauen auf Gott, schenkt allein der Heilige Geist, kein äusserliches Ding. Die Sakramente mögen zwar einen Glauben bewirken, aber nur einen Geschichtsglauben. Alle Jubiläumsfeiern, Siegestrophäen, ja auch Denkmäler und Statuen bewirken einen Geschichtsglauben, d. h. sie erinnern daran, dass sich einmal ein Ereignis abgespielt hat, das nun neu vergegenwärtigt wird, so wie bei der Passafeier der Juden […]. […] Sie stehen anstelle jener Dinge, die sie anzeigen und woher sie auch ihre Namen erhalten. Das Vorbei- oder Vorübergehen Gottes, wodurch [Gott] die Kinder Israels verschonte, kann nicht sichtbar vorgeführt werden, aber das [Passa-]Lamm wird stattdessen als Symbol jenes Ereignisses hingestellt [vgl. Ex. 12,3–14]. Da auch der Leib Christi und alles, was [Christus] in ihm getan hat, nicht vor Augen geführt werden kann, werden stattdessen Brot und Wein zum Essen hingestellt.“[18]
Gerade vor dem Hintergrund der wechselvollen Geschichte zwischen Protestantismus und Judentum ist ein Dialog auf der Basis wechselseitiger Anerkennung unabdingbar. Für einen solchen plädierte auch Buber in einem 1933 mit dem evangelischen Theologen Karl Ludwig Schmidt (1891–1956) geführten Gespräch:
„Das Juden und Christen Verbindende bei alledem ist ihr gemeinsames Wissen um eine Einzigkeit, und von da aus können wir auch diesem im Tiefsten Trennenden gegenübertreten; jedes echte Heiligtum kann das Geheimnis eines anderen echten Heiligtums anerkennen.“[19]
In einem am 7. Januar 1980 in der Reformierten Gemeinde Hamburg stattgefundenen öffentlichen Gespräch zwischen dem jüdischen Theologen Pinchas Lapide (1922–1997) und dem evangelisch-reformierten Theologen Jürgen Moltmann (1926–2024) zum Thema „Israel und Kirche: ein gemeinsamer Weg?“ forderte Moltmann von den christlichen Gläubigen „Öffnungen zum Dialog“:
„Diese und ähnliche Einwände können aber nur so lange erhoben werden, wie wir als Christen – und zwar als Christen in der Bundesrepublik Deutschland – unbewußt und wie selbstverständlich davon ausgehen, daß wir es sind, die den jüdischen Gesprächspartner definieren und ihm sagen, wer er ist und wie er sich zu verstehen habe. Wer aber als Christ von einer christlichen Definition des Juden ausgeht, ist zum Dialog unfähig: Er hat sein Gegenüber schon fixiert, festgelegt, beurteilt und kann von einem Gespräch am Ende nur die Bestätigung dieses seines Vorurteils erwarten. Die christlichen Definitionen ‚des Juden‘, des ‚Tora-Judentums‘, des ‚Talmud-Judentums‘, des ‚synagogalen Judentums‘, des ‚nachisraelitischen Judentums‘ usw. sind in der christlichen Geschichte stets einseitig aufgestellt worden und meistens negativ ausgefallen. Sie sollten auch weniger dem Verständnis der Juden als vielmehr der Selbstbestätigung der Christen dienen. Ein Dialog unter solchen Prämissen kann kein echter Dialog sein. Er besteht im besten Fall aus zwei Monologen und ist im schlimmsten Fall – ein Verhör. Leider sind die christlichen Glaubensgespräche […] oft genug Glaubensverhöre zum Zwecke der Beurteilung des anderen. Sie sind nicht auf Gemeinschaft, und sei es auch nur eine Weggemeinschaft, ausgerichtet, sondern auf die Annahme oder die Ablehnung des anderen, auf die Entscheidung zwischen Freund und Feind. In einem freien und fruchtbaren Dialog muß jedoch jeder so auftreten können, wie er selbst ist, und so ernstgenommen werden, wie er sich selbst versteht. Ein echter Dialog beginnt erst dann, wenn die Vorurteile fallen und keine Vorbedingungen mehr gestellt werden. Das ist gewiß leichter gesagt als getan, denn wenn die Feindbilder undeutlich werden, wird auch die eigene Identität unsicher, sofern diese von jenen Bildern gestützt wurde. Wird aber die Identität der Christen verunsichert, weil die christliche Definition des Juden nicht mehr stimmt, dann entstehen wie üblich Ängste und Aggressionen. Damit muß man rechnen. Auf die schüchternen Anfänge des christlich-jüdischen Dialogs in Deutschland folgten darum auch massive negative Reaktionen. Angst um die eigene christliche Identität ist aber im Dialog mit jüdischen Nichtchristen ebenso überflüssig wie im Dialog mit anderen Partnern. Wer schon im Dialog Identitätsangst bekommt, hat offensichtlich eine erstarrte, unveränderliche, schematische und schwache Identität; eine Identität, die von der Verneinung des anderen lebt; eine Identität, die aggressiv reagiert. Seine authentische Identität verliert in Wahrheit keiner im Dialog mit anderen, er gewinnt im Gegenüber zu dem anderen vielmehr ein neues Profil. Um das Dialogprofil im Gespräch zwischen Christen und Juden geht es hier.“[20]
Moltmanns Plädoyer für einen echten, freien und fruchtbaren jüdisch-christlichen Dialog hat auch fast ein halbes Jahrhundert später nichts an seiner Aktualität eingebüßt.
Literatur
Arendt 1986: Hannah Arendt, Das „deutsche Problem“. Die Restauration des alten Europa. In: Dies., Zur Zeit. Politische Essays. Hrsg. von Marie Luise Knott. Aus dem Amerikanischen von Eike Geisel. Rotbuch, Berlin 1986, S. 23–41.
Arendt 2020: Hannah Arendt, Über die Revolution. Hrsg. von Thomas Meyer. Mit einem Nachwort von Jürgen Förster. Erweiterte Neuausgabe. Piper, München 2020.
Ben-Chorin 1978: Schalom Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber. Erinnerungen an einen großen Zeitgenossen. Neuausgabe zum 100. Geburtstag Martin Bubers. Bleicher, Gerlingen 1978.
Buber 1999: Martin Buber, Das dialogische Prinzip. Ich und Du. Zwiesprache. Die Frage an den Einzelnen. Elemente des Zwischenmenschlichen. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1999.
Buber 2000: Martin Buber, Den Menschen erfahren. Hrsg. von Björn Biester. Kiefel, Gütersloh 2000.
Jaspers 1971: Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge. Piper, München 1971.
Knott 2020: Marie Luise Knott, Feuerzange, Urwald, Schlächterhund oder Die Wiedersehensfrage. In: Dorlis Blume/Monika Boll/Raphael Gross (Hrsg.), Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert. Piper, München 2020, S. 95–104.
Kreis 1999: Rudolf Kreis, Antisemitismus und Kirche. In den Gedächtnislücken deutscher Geschichte mit Heine, Freud, Kafka und Goldhagen. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 1999.
Luther 1912: Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abt. 2: Tischreden. Bd. 1: Tischreden aus der ersten Hälfte der dreißiger Jahre. Böhlau, Weimar 1912.
Luther 2016: Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen. Neu bearbeitet und kommentiert von Matthias Morgenstern. Berlin University Press, Wiesbaden 2016.
Mayer 1981: Hans Mayer, Außenseiter. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981.
Moltmann 1980: Jürgen Moltmann, Kirche und Israel: ein gemeinsamer Weg? In: Pinchas Lapide/Jürgen Moltmann, Israel und Kirche: ein gemeinsamer Weg? Ein Gespräch. Chr. Kaiser, München 1980, S. 9–42.
Schilling 2017: Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Sonderausgabe. C.H.Beck, München 2017.
Zwingli 2018a: Huldrych Zwingli, Brief an Franz Lambert und die anderen Brüder in Strassburg (16. Dezember 1524). In: Peter Opitz/Ernst Saxer (Hrsg.), Zwingli lesen. Zentrale Texte des Zürcher Reformators in heutigem Deutsch. Unter Mitwirkung von Judith Engeler. Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2018, S. 163–175.
Zwingli 2018b: Huldrych Zwingli, Erklärung des christlichen Glaubens (1531) (Auszug). In: Peter Opitz/Ernst Saxer (Hrsg.), Zwingli lesen. Zentrale Texte des Zürcher Reformators in heutigem Deutsch. Unter Mitwirkung von Judith Engeler. Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2018, S. 265–286.
Anmerkungen
[1] Schilling 2017, S. 551.
[2] Mayer 1981, S. 68.
[3] Mayer 1981, S. 317.
[4] Jaspers 1971, S. 122.
[5] Schilling 2017, S. 551.
[6] Luther 1912, S. 317 f.
[7] Kreis 1999, S. 142 f.
[8] Luther 2016, S. 195–202.
[9] Knott 2020, S. 96.
[10] Arendt 2020, S. 35.
[11] Arendt 1986, S. 25 f.
[12] Schilling 2017, S. 556 f.
[13] Kreis 1999, S. 18.
[14] Ben-Chorin 1978, S. 113.
[15] Buber 1999, S. 147 f.
[16] Zwingli 2018a, S. 172.
[17] Zwingli 2018a, S. 170; 174.
[18] Zwingli 2018b, S. 280 f.; 283.
[19] Buber 2000, S. 51.
[20] Moltmann 1980, S. 9–11.