Am 15. Dezember 1952 floh Leo Zuckermann mit seiner Familie aus Ost-Berlin in den Westen. Der Verfassungsrechtler gehörte zu den bekanntesten Persönlichkeiten, die zu dieser Zeit fluchtartig die DDR verlassen haben. Bis 1950 war er Chef der Präsidialkanzlei des SED-Vorsitzenden Wilhelm Pieck gewesen.
Von Olaf Kistenmacher
Über die Stimmung in der jungen DDR zu jener Zeit schrieb der Soziologe Thomas Haury 2002 in seiner Studie Antisemitismus von links. Nationalismus, kommunistische Ideologie und Antizionismus in der frühen DDR: Ein Schauprozess, ähnlich dem Slánský-Prozess in der Tschechoslowakei, habe „unmittelbar“ bevorgestanden. Jüdische Gemeindevorsitzende wurden verhört, Listen der Gemeindemitglieder angefordert. „Die SED verfügte die Überprüfung der Kaderakten von allen ‚Genossen jüdischer Abstammungʻ. […] Über ein Viertel der rund 3500 jüdischen Gemeindemitglieder floh 1952/53 aus der DDR, darunter fünf der acht Gemeindevorsitzenden.“(1)
An dem Lebensweg von Leo Zuckermann lässt sich exemplarisch das Ausschlussverhältnis zwischen einer jüdischen und einer kommunistischen Identität nachzeichnen. Philipp Graf, Mitarbeiter am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow in Leipzig, wählt dafür in Zweierlei Zugehörigkeit. Der jüdische Kommunist Leo Zuckermann und der Holocaust drei Stationen aus, an denen Zuckermann sich für das eine oder das andere entschieden hat: In der Weimarer Republik trat Zuckermann noch als 13-Jähriger, einen Tag nach der Bar Mizwa, aus der Jüdischen Gemeinde aus; zwei Jahre später, 1924, wird er erst Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend, dann drei Jahre später der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, um 1928 zur Kommunistischen Partei Deutschlands zu wechseln. Der Eintritt in die „sozialistische Bewegung“ bedeutete, so Graf, „die größtmögliche Distanzierung von der jüdischen Herkunft, gleich ob diese nun aus politischen Überzeugungen, aus Scham über den bürgerlichen Hintergrund oder aus Bekanntschaft mit dem Antisemitismus angestrebt“ worden sei (S. 45).
Die zweite Station ist das Exil in Mexiko in der Gruppe um Paul Merker, die eine andere Haltung zum Antisemitismus und zur Shoah entwickelte als die Mehrheit der Kommunistischen Internationale. Die Gruppe begrüßte schon während der 1940er Jahre die „Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina“ und sucht nach Möglichkeiten, wie jüdische Überlebende der Shoah finanziell entschädigt werden können. Die dritte Station in Grafs Biografie ist die Zeit nach der Rückkehr nach Deutschland, in die Sowjetisch-Besetzte Zone, sein Wirken in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands bis zur Flucht aus der DDR. Ganz im Sinn der in Mexiko erfolgten Rückbesinnung auf seine jüdische Identität trat Zuckermann am 7. Juli 1947 in Berlin wieder der Jüdischen Gemeinde bei, forderte andere SED-Mitglieder auf, es ihm gleichzutun, um die Gemeinde fünf Jahre später erneut zu verlassen. Das „Zeitfenster“, in dem ein parteikommunistisches Selbstverständnis auch eine „Identifikation als Jude zugelassen“ hat, war wieder verschlossen (S. 18).
Trotz seiner Abkehr von der Gemeinde bildeten jüdische Themen bis 1933 den „Schwerpunkt“ in Zuckermanns Wirken innerhalb der KPD, schreibt Graf, allerdings unter „negativen Vorzeichen“ (S. 49). Er wurde Vorsitzender des antizionistischen Deutsch-Jüdischen Jugendbundes, engagierte sich bei der Gesellschaft zur Förderung des jüdischen Siedlungswerks in der UdSSR und leitete den von der KPD geschaffenen Jüdischen Arbeiter- und Kulturverein in Wuppertal. Mit dem Deutsch-Jüdischen Jugendbund störte er regelmäßig Versammlungen zionistischer Gruppierungen. Später sagte er selbst, es habe in Elberfeld zu jener Zeit „keine zionistische Versammlung“ gegeben, die „zuendegeführt werden konnte“. Dieser ablehnenden Haltung blieb Zuckermann auch nach 1933 treu. Im französischen Exil polemisierte er 1938 gegen Versuche, in Verhandlungen mit Nazi-Behörden „Ausfuhrerleichterungen für emigrationswillige Juden“ zu erreichen, mit den Worten, damit wolle man wohl „Hitler die Juden abkaufen“. Unter den vielen Gruppen, die die Nazis verfolgten, sollten in den Augen des Parteikommunisten Jüdinnen und Juden keine Sonderrolle zukommen.
1941 landete Zuckermann mit seiner Frau Lydia Staloff in Mexiko. Da er des Spanischen mächtig war, hatte er es im Alltag leichter als viele andere, die aus Nazi-Deutschland und dem besetzten Europa entkommen waren. In der Gruppe um Paul Merker erwachte wieder sein Zugehörigkeitsgefühl zur jüdischen Gemeinschaft. Parteitreu blieb Zuckermann zunächst trotzdem. Mit anderen Mitgliedern der Merker-Gruppe störte er eine Gedenkveranstaltung, bei der zwei in der Sowjetunion ermordeten Mitgliedern des Jüdisch-Sozialistischen Arbeiterbundes Polens gedacht werden sollte. Ihr Kampfruf: „Tod der fünften Kolonne!“ In dieser Weise hatte Zuckermann schon in der Weimarer Republik gegen den „Trotzkismus“ gewettert.
Aber im Januar 1945 veröffentlichte er in der Tribuna Israelita, einer Zeitschrift, die sich an ein jüdisch-kommunistisches Publikum wandte, auf Spanisch den Beitrag „Überlegungen zum Problem der Reparation“. Obwohl es nach dem aktuellen Völkerrecht kaum zu realisieren gewesen wäre, suchte der promovierte Jurist Zuckermann nach Wegen, für „die Juden auf der ganzen Welt“ eine „Wiedergutmachung“ zu erwirken. Ganz in diesem Sinne engagierte sich Zuckermann seit seiner Rückkehr in die SBZ. 1948 veröffentlichte er in der Weltbühne den Artikel „Restitution und Wiedergutmachung“. Zur gleichen Zeit signalisierte Otto Grotewohl, mit Wilhelm Pieck einer der beiden SED-Vorsitzender, bei einem Treffen mit der Jewish Agency, ein ostdeutscher Staat würde „Reparationen an Israel leisten“. Trotzdem kam des Vorhaben eines entsprechenden Gesetzes ins Stocken. Innerhalb der SED mehrten sich, so Graf, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bereits die Stimmen, die einer „derartigen Anerkennung der Juden als Opfergruppe kritisch bis offen ablehnend gegenüberstanden“ (S. 186).
Zuckermann versuchte erneut einen Spagat zwischen seiner eigenen Haltung und der herrschenden Stimmung innerhalb der Partei und warnte deswegen auch vor dem „Mißbrauch“ der Ansprüche zugunsten „imperialistischer Zwecke“. Als das Gesetz 1949 scheiterte, hat sich Zuckermann, vermutet Graf, wohl „vergleichsweise rasch“ damit abgefunden. Als westliche Medien von der antisemitischen Kampagne gegen den „Kosmopolitismus“ in der UdSSR berichteten, entgegnete Zuckermann, mittlerweile Chef des Präsidialkanzlei des SED-Vorsitzenden Wilhelm Pieck, 1949 in der Zeitschrift der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes, solche Berichte seien „gefälschte Nachrichten“, um „antisowjetische Stimmungen zu erzeugen“.
Persönlich half es ihm nichts. Am 11. Juli 1950 wurde Zuckermann im Zusammenhang mit den Untersuchungen zur Paul-Merker-Gruppe von der Zentralen Parteikontrollkommission der SED vernommen. Er erklärte, er habe sich noch in Mexiko von Merker distanziert, denn dessen Position wäre „nicht mehr zu unterscheiden [gewesen] vom jüdischen Nationalismus“. Im November 1950 wurde er bei einer erneuten Verhör offen gefragt: „Bist Du auch Mitglied der jüdischen Gemeinde?“ Es nützte Zuckermann auch nicht, einen langjährigen Weggefährte zu denunzieren, um von sich abzulenken. So schrieb er in einem Brief, Julius Meyer, der Vorsitzende des Verbands Jüdischer Gemeinden in der DDR, sei „sicherlich ein Agent israelischer Regierungskreise“.
Die Lage spitzte sich weiter zu. Trotz seiner hohen Stellung wurde ab Sommer 1951 weiter gegen Zuckermann ermittelt. Das Ministerium für Staatssicherheit ging dem Verdacht einer „Agententätigkeit“ nach. Im August 1952 trat Zuckermann „mit sofortiger Wirkung“ und ohne Angabe von Gründen aus der Jüdischen Gemeinde aus, machte also, wie Graf kommentiert, „den im Juli 1947 erfolgten Eintritt rückgängig“. Zuckermanns „jüdisches Selbstverständnis“ war ein letztes Mal „dem ‚Aufbau des Sozialismusʻ zum Opfer gefallen“ (S. 243). Zuckermann kehrte nach Mexiko City zurück, wo er 1985 starb. Aber anders als seine Frau hielt er auch dort Distanz zur Jüdischen Gemeinde.
Die Quellenlage zu den Schicksalswegen von Menschen, die vor den Nazis fliehen mussten, ist aus offensichtlichen Gründen meist unzureichend. Dass Biografien zu ihnen deswegen oftmals auf Spekulationen angewiesen sind, ist nachvollziehbar. Trotzdem bleibt bei heiklen Fragen wie Denunziationen oder Unterwerfung unter eine Parteilinie eine spekulative Antwort stets etwas unbefriedigend.
Wirklich im Weg steht sich der Historiker Philipp Graf mit seiner gleich auf den ersten Seiten erfolgten Abgrenzung von Studien, die der Frage nach dem Antisemitismus in der Linken systematischer nachgehen. Studien wie die eingangs zitierte von Thomas Haury, die die „Affinität“ des Marxismus-Leninismus zu „antisemitischen Welterklärungen“ genau herausarbeitet, kann man nicht, wie Graf das versucht, damit abtun, sie könnten „nicht erklären“, weshalb jemand wie Zuckermann eine andere Sichtweise vorgelebt hat (S. 22). Das offenbart nicht nur ein zu schematisches Verständnis sozialwissenschaftlicher Erklärungsansätze, denn es gibt immer Ausnahmen. Vor allem aber weiß auch Graf nicht, was Leo Zuckermann in Wirklichkeit dachte, was er ahnte, aber sich nicht eingestehen wollte oder wann er sich selbst bewusst belogen hat.
Unweigerlich belegt Grafs Biografie, was er anfangs als abwegig bestreitet: Langfristig lassen sich eine parteikommunistische und eine jüdische Identität nicht vereinen. Während für eine deutsche, französische oder christliche Identität und einem kommunistischen Selbstverständnis kein Ausschlussverhältnis besteht, mussten und müssen sich Jüdinnen und Juden entscheiden. Während die Kommunistische Internationale seit den 1920er Jahren weltweit sogenannte nationale Befreiungsbewegungen unterstützte, galt das für den Zionismus nur für eine winzige Zeitspanne um 1948. Die Ursachen des linken Antizionismus kann man nicht erkennen, wenn man die Ergebnisse zahlreicher Studien zum Antisemitismus in der Linken, die seit den 1990er Jahren vorliegen, nicht berücksichtigt. Zu der Unvereinbarkeit von jüdischer und kommunistischer Identität gehört auch, dass in offiziellen parteikommunistischen Positionen das Leid von Jüdinnen und Juden nicht wirklich anerkannt wird. Selbst bei dem Zivilisationsbruch der Shoah.
Philipp Graf: Zweierlei Zugehörigkeit. Der jüdische Kommunist Leo Zuckermann und der Holocaust. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2024, ISBN 978-3-525-30257-6, 356 S., 45,- Euro, Bestellen?
(1) Thomas Haury: Antisemitismus von links. Nationalismus, kommunistische Ideologie und Antizionismus in der frühen DDR. Hamburg 2002, S. 12.