Der Querschläger

0
396

Itamar Ben Gvir gilt schon lange als Enfant terrible der israelischen Politik. Doch die Forderung des Vorsitzenden der rechtsextremen Partei Otzma Yehudit, dass Juden auf dem Tempelberg in Jerusalem beten können, gefährdet nicht nur den Status quo, sondern birgt viel außenpolitischen Sprengstoff.

Von Ralf Balke

Der Geist ist aus der Flasche und macht keine Anstalten, sich wieder dorthin zurückzuziehen – das sollte auch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu langsam verstanden haben. Bald zwei Jahre ist es her, dass er Itamar Ben Gvir in sein Kabinett holte. Seither ist der Vorsitzende der rechtsextremen Partei Otzma Yehudit das, was man im Englischen eine „loose cannon ball“ nennt, und zwar eine Person, die sich jeder Kontrolle entzieht, eigenmächtig agiert und damit ein hohes, weil unberechenbares Risiko darstellt. Erneut konnte man die Gefahren, die von dem Minister für nationale Sicherheit ausgeht, dieser Tage vorgeführt bekommen, als er den Tempelberg in Jerusalem betrat. Es war nicht das erste Mal, dass er sich dort mit seiner Entourage blicken ließ. Bereits im Mai war er vor Ort, erklärte, dass dieses hochsensible Areal, auf dem sich unter anderem die al-Aksa-Moschee befindet, eine der heiligsten Stätten des Islams, aber auch westlich davon die Klagemauer als letzter erhaltener Teil des historischen Zweiten Tempels, „ausschließlich zum Staat Israel“ gehöre.

Besuche auf dem Tempelberg sind für Itamar Ben Gvir so etwas wie der rote Faden, wenn es um Aufmerksamkeit und Provokation geht. Schon unmittelbar nach seiner Ernennung zum Minister ließ er sich dort blicken, es war quasi seine erste Amtshandlung. Zuvor soll es dazu ein Gespräch mit Benjamin Netanyahu gegeben haben, indem er dem Premier versprochen hatte, von seinem geplanten Besuch wieder Abstand zu nehmen, nur um kurz darauf trotzdem medienwirksam auf dem Tempelberg zu erscheinen. Das Büro des Ministerpräsidenten hatte damals erklärt, dass es keine Empfehlung gegeben hätte, von dem Besuch abzusehen. Und aus dem Büro von Itamar Ben Gvir hieß es, auch von Seiten des Leiters des Inlandsgeheimdiensts Shin Bet, Ronen Bar, sowie vom damaligen Polizeichef Kobi Shabtai, hätte es keine Einwände gegeben. Das Muster ist also bekannt.

Dieser Tage ließ sich Itamar Ben Gvir wieder dort blicken. Dabei war der Zeitpunkt seines Besuches alles andere als zufällig gewählt. Denn parallel zu seinem Auftritt auf dem Tempelberg begann die neue Gesprächsrunde über eine Waffenpause als Vorbedingung für eine Freilassung der sich noch im Gazastreifen von der Hamas festgehaltenen israelischen Geiseln in Katar. Und der Minister für nationale Sicherheit war sich sehr wohl bewusst, dass sein Auftreten dort in großen Teilen der islamischen Welt als Affront verstanden wird. Und genau das war von ihm auch so intendiert. Auf diese Weise wollte er die Verhandlungen torpedieren – schließlich ist er ebenso wie Finanzminister Bezalel Smotrich gegen jede Form einer Waffenruhe und gegen die Übergabe von Palästinensern aus israelischen Gefängnissen als Gegenleistung für die Freilassung israelischer Geiseln im Gazastreifen.

Itamar Ben Gvir legte anlässlich seines jüngsten Besuchs auf dem Tempelberg propagandistisch aber noch eine Schippe drauf, forderte am Montag im israelischen Armeeradio, dass Juden an diesem Ort wieder regelmäßig beten sollten und man darauf hinarbeiten würde, dies möglich zu machen. Denn der Status quo, der seit Jahrzehnten von allen Seiten mühsam aufrechterhalten wird, würde genau das untersagen. „Wenn ich auf dem Tempelberg alles tun könnte, was ich will, wäre dort ohnehin die israelische Flagge schon längst gehisst worden“, fügte er hinzu. Auf die Frage, ob er eine Synagoge auf dem Tempelberg errichten würde, wenn er die Möglichkeiten dazu hätte, antwortete Ben-Gvir mit einem vierfachen „Ja“. Entsprechend fielen die Reaktionen aus. Die Hamas schlachtete die Visite von Itamar Ben Gvir auf ihre Weise aus, behauptete, der Minister hätte nun den Plan bekannt gegeben, auf dem Tempelberg eine Synagoge zu errichten. Genau diese Behauptung wurde auch von dem Mufti von Jerusalem aufgegriffen, der sie wiederholte und davor warnte, dass ein solcher Schritt „in der Region eine Explosion verursachen könnte, die die ganze Welt betreffen wird“. Und genau das sind die Reaktionen, die Itamar Ben Gvir durch seine Provokationen erreichen will.

Immer wieder ist in diesem Kontext von dem Status quo die Rede, der durch Rechtsextreme wie den Minister für nationale Sicherheit in Gefahr gebracht werde. Gemeint ist damit die informelle Übereinkunft zwischen Israel und der Waqf-Behörde, einer islamischen Stiftung, die das Areal auf dem Tempelberg verwaltet und die Aufsicht über die heiligen Stätten ausübt. Auf diese Weise soll die religiöse und kulturelle Bedeutung des Tempelbergs bewahrt und gleichzeitig für Ordnung und Sicherheit gesorgt werden. So dürfen Muslime dort ungehindert beten und das Gelände mit wenigen Einschränkungen betreten. Für die nichtjüdischen Besucher gibt es dagegen strenge Regeln, die von der israelischen Regierung umgesetzt werden, das heißt, dass auch Juden das Areal nur zu bestimmten Zeiten durch ein einziges Tor erreichen können. Offiziell ist es ihnen untersagt, auf dem Tempelberg zu beten, obwohl das immer wieder mal geschieht. Die Waqf-Behörde selbst wurde ursprünglich 1187 von Saladin ins Leben gerufen, nachdem er Jerusalem von den Kreuzrittern zurückerobern konnte. In ihrer aktuellen Form ist sie eine Institution, die 1948 von dem Haschemitischen Herrscherhaus in Jordanien eingerichtet wurde, das ungeachtet der israelischen Kontrolle seit dem Sechstagekrieg über Ostjerusalem, bis heute die Rolle eines Schutzherrn ausübt. Jede Form einer Störung des Status quo ist somit immer auch eine Angelegenheit, die die Beziehungen mit Jordanien belasten kann.

Für ultraorthodoxe Juden dagegen ist das Areal auf dem Tempelberg absolut tabu. Mit dem Verweis auf die Halacha, den Kanon jüdischer Rechtsvorschriften, sei es Juden generell verboten, sich dort aufzuhalten – anderenfalls wäre die Reinheit dieses Ortes, wo der Erste und der Zweite Tempel standen, nicht mehr gegeben. Und weil sich einst auf dem Tempelberg das Allerheiligste befand, das ohnehin nur bestimmte Personen aus der Schicht der Priester offen war, man aber heute nicht mehr sagen kann, auf welchem Teil genau, ist es untersagt, sich überhaupt dort aufzuhalten. Entsprechend hatten religiöse Autoritäten in der Vergangenheit die Besuche von Itamar Ben Gvir regelmäßig kritisiert. So sprach beispielsweise Yitzhak Yosef, der sephardische Oberrabbiner, im Juli 2023 von einer „Sünde“, die „einer der Minister des Kabinetts – ich werde seinen Namen nicht nennen, es wäre nicht angemessen, ihn hier an diesem Ort zu nennen“, begehen würde. Itamar Ben Gvir interessierte das schon damals herzlich wenig. „Ich handle in Übereinstimmung mit der Position meiner Rabbiner, die glauben, dass der Besuch des Tempelbergs eine Mitzwa ist“, so seine Replik auf die Vorwürfe, wobei er der das hebräische Wort für Pflicht oder Gebot benutzte. Itamar Ben Gvir verwies dabei auf Dov Lior, einen ehemaligen Rabbiner von Kiryat Arba nahe Hebron sowie Yehuda Kroizer, Rabbiner der Siedlung Mitzpe Jericho, ebenso wie er selbst ein erklärter Anhänger des rassistischen Rabbiner Meir Kahane.

Yated Ne’eman

Doch nach seinem letzten Besuch auf dem Tempelberg fielen die Reaktionen der Ultraorthodoxen ungewöhnlich scharf aus. „Yated Ne’eman“, die Zeitung der aschkenasischen Haredi-Partei Degel HaTorah, schrieb auf ihrer Titelseite sowohl auf Hebräisch als auch Arabisch: „Es ist seit Generationen die Meinung aller Gelehrter der Halacha, dass es Juden verboten ist, den Tempelberg zu betreten, und daran hat sich auch nichts geändert. Der politische Pyromane zündet das Areal ein zweites Mal an.“ Und „HaDerech“, eine der sephardischen Shass-Partei nahestehende Zeitung titelte: „Ben-Gvir provoziert weiterhin und entweiht die Heiligkeit des Tempelbergs.“ Ministerpräsident Benjamin Netanyahu bringen die Visiten seines Koalitionspartners jedenfalls regelmäßig in Erklärungsnot. Es gäbe „keine Änderung des Status quo“, heißt es fast schon gebetsmühlenartig, ansonsten hält man sich dort aber mit weiteren Kommentaren zu Itamar Ben Gvir zurück. Anders dagegen Innenminister Moshe Arbel von der Shass-Partei. Er sprach jetzt davon, dass dessen „Mangel an Denken viel Blut kosten“ könne. Auch Verteidigungsminister Yoav Gallant hob hervor, dass das Handeln des Ministers für nationale Sicherheit zunehmend ein Risiko darstellt und Israels Ansehen in der Welt gefährde.

Genau das geschah auch. Nach der jüngsten Visite von Itamar Ben Gvir auf dem Tempelberg meldete sich ebenfalls das amerikanische Außenministerium zu Wort. Matthew Miller, einer seiner Sprecher, reagierte auf das Interview des Ministers für nationale Sicherheit im Armeeradio und nannte die Äußerungen „eine eklatante Missachtung des historischen Status quo“ in Jerusalem, die nur „Chaos“ brächten und die Spannungen in einem Moment verschärfen würden, in dem Israel den Bedrohungen durch den Iran und der Hisbollah ausgesetzt sei. „Sie untergraben direkt die Sicherheit Israels.“ Das sind sehr deutliche Worte, die parallel zu der Debatte innerhalb der Europäischen Union fallen, rechtsextreme israelische Minister wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir zu sanktionieren. „Das Büro von Premier Netanyahu hat deutlich gemacht, dass die Handlungen und Äußerungen von Minister Ben Gvir mit der Politik der israelischen Regierung unvereinbar sind, und eine Reihe von verantwortlichen Stimmen in der israelischen Regierung haben sie verurteilt. Es ist wichtig, dass die israelische Regierung weiterhin dafür sorgt, dass ihre Politik eingehalten wird“, betonte Matthew Miller ferner. Ob die Kritik aus Washington Ministerpräsidenten dazu veranlasst, seine „loose cannon ball“ Itamar Ben Gvir endlich unter zu Kontrolle zu bekommen oder sich womöglich von ihm zu trennen, darf aber bezweifelt werden. Und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis dieser erneut auf dem Tempelberg zu sehen ist.