Vergessene Schriftstellerinnen in Prag

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Foto: C. Wollmann-Fiedler

Die Jägerstraße ist unweit vom Gendarmenmarkt in der Mitte Berlins, wo der berühmte Dichter Friedrich Schiller theaterdichtend auf dem Sockel steht. Hinter ihm ist das damalige Königliche Schauspielhaus zu sehen, das Carl Gotthold Langhans aus Schlesien, der Erbauer des Brandenburger Tors, entwarf. 1821 folgte ein Neubau von Karl Friedrich Schinkel in seinem ästhetisch bekannten klassizistischen Baustil. Im 2. Weltkrieg wurde Berlin heftig bombardiert und in den 1950er Jahren unter der SED Führung der DDR entstand ein nachkonstruierter Umbau zum Konzerthaus. Daneben steht der Französische Dom mit der Französischen Kirche, die den eingewanderten Hugenotten diente, auf der anderen Seite des Platzes ist im fast gleichen Stil der Deutsche Dom zu sehen. Ein feines Ensemble in der Mitte der Stadt Berlin.

Von Christel Wollmann-Fiedler

In der Jägerstraße hingegen entstand im achtzehnten Jahrhundert die „Allee der Banken“. Abraham und Joseph, die beiden Söhne des berühmten Philosophen der Aufklärung Moses Mendelssohn bauten ein regelrechtes Palais, das zum Bankhaus wurde. In mehreren nahestehenden exklusiven Gebäuden wohnten Mitglieder der Familie. In dieser Straße gingen berühmte Architekten, Musiker, Geschäftsleute und Dichter bei den Mendelssohns ein und aus. In der Remise am Brunnenhof ist die Mendelssohn Gesellschaft etabliert und museal aufgeführt ist das Leben der berühmten und begüterten jüdischen Familie. Vor den Stadttoren liegen die Grabstätten der Geschwister Fanny Hensel und ihrem Bruder Felix Mendelssohn-Bartholdy und die Gräber von weiteren 28 Familienmitgliedern auf dem Evangelischen Dreifaltigkeitsfriedhof im heutigen Kreuzberg.

Foto: C. Wollmann-Fiedler

In die besagte Remise, die ehemalige Kassenhalle der Privatbank der Mendelssohns, hat das Deutsche Kulturforum östliches Europa in Potsdam, zusammen mit dem Stern-Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, dem Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam und der Tschechischen Botschaft in Berlin, eingeladen zu einem interessanten Literaturnachmittag. Frau Dr. Krombach vom Deutschen Kulturforum östliches Europa empfängt Frau Lydie Holinková, Attaché der Tschechischen Botschaft in Berlin, und uns Gäste.

Foto: C. Wollmann-Fiedler

Gedanklich versetzt das Thema ins Prag von Franz Kafka, dessen 100. Todestag in diesem Jahr begangen wurde und der mehr denn je hochgelobt und gefeiert wird.  Dokumentationen über ihn und sein Leben werden gezeigt im Kino und Fernsehen. Wir erkennen ihn neu, oder anders als in den vergangenen Jahren. Sollte man ihn wieder lesen, um ihn besser zu verstehen?

„Holunderblüten“ ist das Thema auf der Einladung mit einem modernes, recht expressives farbigen Bild auf der Vorderseite. Eine Dame mit einem Lorgnon von dem Prager  Schriftsteller und bildenden Künstler Karel Hlaváček aus dem Jahr 1897. Dr. Anna-Dorothea Ludewig vom Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam wird uns drei Schriftstellerinnen aus Prag vorstellen, die verloren gegangen sind und kaum jemand kennt. Ludewig und die tschechische Wissenschaftlerin Dr. Veronika Jičínská werden über die Prager Autorinnen Ossip Schubin, Marie Holzer und Hermine Hanel, erzählen. Sehr schade, dass Jičínská in letzter Minute absagen musste. Diese beiden Wissenschaftlerinnen haben die schreibenden Frauen entdeckt und sich für ihr Leben und ihre schriftstellerischen Arbeiten interessiert. Zur deutschsprachigen-böhmischen und jüdischen Literatur gehören die vorgestellten Dichterinnen. Spannend wird der Nachmittag mit den drei Lebensbildern. Rundherum aufgestellte aus Gips geformte Familienmitglieder und prominente Zeitgenossen der Familie Mendelssohn beobachten aus allen Ecken der Remise die Szenerie.

Ossip Schubin wird als Aloisia Kirschner in dem Ort Smichov – heute ein Stadtteil von Prag – 1854 geboren und schreibt als deutschsprachige böhmische Schriftstellerin. Die Literatur des russischen Dichters Iwan Sergejewitsch Turgenjew lernt sie kennen und entleiht sich aus seinem Roman „Helena“ den Künstlernamen Ossip Schubin. Auf dem Landgut der jüdischstämmigen Eltern in Lochkov, unweit von Prag, wächst sie auf. In der Familie fühlt man sich slawisch, spricht aber Deutsch. Die Mutter unterstützt die Schreibleidenschaft der Tochter und unternimmt mit Ossip und der Schwester Marie Reisen durch Europa. Ihre Bücher bringen kaum Geld, doch viel Ehre und Anerkennung in der damaligen Zeit. Novellen und Gedichte in Zeitschriften werden besser bezahlt, erfahren wir von Anna-Dorothea Ludewig. Viele Romane, Novellen und Geschichten hat Ossip zu Lebzeiten veröffentlicht, nicht nur ihre Person verließ 1934 die Welt, auch ihre gerne gelesenen Werke wurden nach und nach vergessen.

Die ältere Schwester Marie Kirschner, 1852 – 1931, studierte in Paris und München wird Malerin und als Glaskünstlerin sehr bekannt. Ihre Entwürfe sollen Höhepunkte des europäischen Jugendstils gewesen sein. 1904 wird ihr auf der Weltausstellung in St. Louis die Silbermedaille überreicht.

Ossip und Marie wohnen zeitweise in Berlin- Tiergarten in der Steglitzer Strasse. Der bekannte Berliner Historienmaler Anton von Werner malt ein zeitgemäßes Bildnis von Ossip. Der Stil des Wilhelminismus ist seiner. Der Maler geht ein und aus bei dem Schwesternpaar, ist ihr ständiger Gast. Marie und Ossip bleiben unverheiratet. Berlin wird als moderne Transitstadt bezeichnet, Prag soll recht altmodisch gewesen sein. Nach dem 1. Weltkrieg ist Ossips bleibende und prägende Aussage „Ich habe nur ein Vaterland „Die Welt“. Unpopuläre Verhaltensweisen gehören zu ihr, als Weltbürgerin wird sie bezeichnet. Sie stirbt 1934 auf ihrem gemeinsamen Schloss Košátky in der Gemeinde Jungbunzlau in Böhmen und wird in Prag beerdigt.

„Holunderblüte“, ein wunderbarer Text, wird von Katharina Groth gelesen. Ausgesuchte Texte aus Büchern und Skripten der vorgestellten drei Literatinnen liest die Schauspielerin ganz selbstverständlich in feiner schauspielerischer Manie.

Hermine Hanel wird 20 Jahre später als Ossip geboren, im Jahr 1874 in der Goldenen Stadt an der Moldau in Prag. Der Vater ist der Sohn einer vornehmen katholischen Prager Patrizierfamilie, seine erste Frau Hermine Österreicher ist jüdischer Herkunft und wird die Mutter seiner einzigen Tochter Hermine. In Prag gehört die Familie zur Jüdischen Gemeinde, später wird Hermine in München katholisch getauft und wächst nach dem frühen Tod der Mutter in der jüdischen Familie der Großeltern auf. Von Hauslehrern wird sie unterrichtet, dann folgen ein Lyceum und ein Internat in Dresden. Malerin möchte sie werden, heiratet zwischenzeitlich einen zwanzig Jahre älteren Unternehmer. Nach fünf Jahren wird die Ehe geschieden. Hermine kann nun ein freies Leben führen und zieht nach München. Sie nutzt ihr Schreibtalent und schreibt für deutschsprachige Prager und Wiener Zeitungen Essays und Geschichten, ebenso frauenemanzipatorische Feuilletons. Illustrierte Kinderbücher von ihr gibt es noch heute antiquarisch zu kaufen. Ein Bilderbuch wird von dem Berliner Maler Hans Baluschek illustriert. Novellen widmet sie ihrer Geburtsstadt Prag und einen Roman im Jahr 1921. Unter dem Pseudonym Dodd erscheint der 1. Roman „Lola“ und gleich ein Jahr später der 2. „Frauen“, in den Jahren 1897 und 1898. Der „Münchner Malerfürst“ Franz von Lenbach zeichnet um 1900 ein Portrait von Hermine Hanel.

1909 heiratet sie einen Münchner Architekten und bekommt drei Kinder, doch Ehe und Mutterschaft genügen ihr nicht. Ihre Schreibbegabung wird fortgesetzt, wie oben bereits erzählt. 1933 bekommt sie als Jüdin Schreibverbot. Bei einem Bombenangriff im 2. Weltkrieg wird sie in München 1944 getötet. Ihre schriftstellerischen Arbeiten werden vergessen.

Als dritte im Bunde dieses literarischen Nachmittags wird Marie Holzer aus Czernowitz in der Mendelssohn Remise vorgestellt. 1874 erblickt Marie Rosenzweig in der Hauptstadt des Buchenlandes, der Bukowina, die Welt, im gleichen Jahr wie Hermine Hanel. In dieser Stadt, in diesem äußersten Flecken der Donaumonarchie waren unterschiedliche Ethnien und Religionen eine Selbstverständlichkeit. Das jüdische Elternhaus prägt Marie, gut erzogen wird sie in der großbürgerlichen und assimilierten Familie. Sieben Geschwister gehörten zu der Gemeinschaft. Leon Rosenberg, der Vater, war nicht nur Bankier, Stadt- und Gemeinderat und Reichstagsabgeordneter, auch als Schriftsteller machte er sich einen Namen.

Marie Rosenzweig lernt den katholischen Offizier Johann Holzer aus der Steiermark kennen, mit 21 Jahren heiratet sie ihn. Edith, Rudolf und Gertrud werden geboren. Längere Zeit wohnt Familie Holzer in Prag, wo Johann Holzer in der Kadettenschule unterrichtet.

In der Frauenbewegung engagiert sich Marie, ebenso in sozialen Bereichen. In der Neuen Rundschau erschien der 1. Artikel, weiter im Prager Tagblatt, in der Frankfurter Zeitung, dem Berliner Tagblatt und anderen. Skizzen, Momentaufnahmen und frauenemanzipatorische Gedanken werden auch in Frauenzeitschriften abgedruckt.

Zu Beginn des 1. Weltkriegs, 1914, zieht Familie Holzer nach Innsbruck. Die Ehe verläuft sehr schwierig, Holzer begreift und akzeptiert die Neigungen seiner Ehefrau nicht, das Schreiben und die sozialen Engagements sind ihm fremd. Intellektuell war er ihr unterlegen. Die Donaumonarchie endet 1918, eine neue Weltordnung beginnt, und Holzers hohe militärische Existenz geht von einem auf den anderen Tag zu Ende. Der krankhaft eifersüchtige Ehemann erschießt im Jahr 1924 seine Ehefrau Marie und dann sich selbst. Er ermordet sie, weil sie eigene geistige Werke schuf. Ihre meisterhaften kleinen Prosa können heute noch gelesen werden.

Alle drei vorgestellten Schriftstellerinnen kamen aus gutbürgerlichen und assimilierten jüdisch-christlichen Familien und waren gebildete Frauen mit großem Schreibtalent. Alle drei lebten dieses Talent aus, veröffentlichten ihre Novellen, Geschichten und Romane, doch nach ihrem Tod verschwanden sie aus der literarischen Welt. Sie wurden noch in der Ära der Donaumonarchie geboren und erlebten die neue Zeit, die neue Weltordnung, nach 1920. Im Prager Literaturkreis um Max Brod werden diese drei Schriftstellerinnen nicht genannt und eindeutig als Frauen benachteiligt und vergessen.