Hetze und Boykottaufrufe, verbale Anfeindungen, Vandalismus und Besetzungen

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Umfrage unter den Mitgliedern des Netzwerks Jüdischer Hochschullehrender in Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigt das Ausmaß von Bedrohungen und Belästigungen nach dem 7. Oktober

Eine kürzlich durchgeführte anonyme Umfrage unter den Mitgliedern des Netzwerks hat das Ausmaß von Bedrohungen und Belästigungen von jüdischen Hochschullehrenden an Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz nach dem 7. Oktober 2023 offengelegt. Mit der vom Netzwerk durchgeführten Umfrage werden das Erleben des universitären Arbeitsumfeldes nach dem 7. Oktober, das Ausmaß von Gefährdungen und die Formen von Bedrohungen oder Belästigungen, denen jüdische Hochschullehrende ausgesetzt sind, dargestellt.

An der Umfrage haben sich rund die Hälfte der Netzwerkangehörigen beteiligt. Rund 40 % der Befragten geben an, seit dem 7. Oktober wegen ihrer jüdischen Identität bedroht oder belästigt worden zu sein.

Wichtige Erkenntnisse zum Bedrohungserleben:

• Online-Belästigung und Cybermobbing: 40,9 % berichten, dass sie über E-Mail oder Social Media belästigt wurden.

• Verbale Belästigung: 63.6% geben an, dass sie im akademischen Umfeld verbal angegriffen wurden.

• Physische Bedrohungen bzw. Sachbeschädigungen haben jeweils rund 14 % erlebt.

• Ausschlussversuche: Mehrere Befragte berichten von Bestrebungen, sie von universitären Veranstaltungen oder Projekten auszuschließen.

Einige der Umfrageteilnehmer:innen schildern detaillierte Berichte über Bedrohungen durch Hetze und Boykottaufrufe, verbale Anfeindungen, Vandalismus und Besetzungen, Versuche der Disqualifizierung im universitären Arbeitsumfeld sowie Projektionen von Israelhass auf Juden in Deutschland.

Die daraus ableitbare Gefährdungslage lenkt den Fokus auf Sicherheitsmaßnahmen an den Hochschulen. Rund 14 % der Befragten geben an, dass sie derzeit Personenschutz oder andere spezielle Schutzmaßnahmen in Anspruch nehmen. 13 % sind aufgrund von Anfeindungen auf online-Lehre umgestiegen. Rund 40 % fordern Sicherheitsworkshops und Schulungen. Jede/r dritte Befragte plädiert für eine erhöhte Polizeipräsenz auf dem Campus, jede/r vierte für Zugangskontrollen zu den Gebäuden. 75,9 % sind der Ansicht, von ihrer Hochschule sei kein klares Sicherheitskonzept verabschiedet und an Mitarbeiter:innen kommuniziert worden. Lediglich 7,4 % geben an, dies sei bei ihnen der Fall gewesen.

Psychologische Wirkung: Belastungen und Verletzungen

Aus den Schilderungen geht hervor, dass die psychologische Wirkung der Antisemitismuserfahrungen auf verschiedene Art und Weise sichtbar wird. Einige Befragte zeigen sich verunsichert. Sie äußern, Angst oder Misstrauen zu haben, oder eine Resignation, wie sie aus der Schlussfolgerung eines/r Befragten folgt, sich „so weit wie möglich aus der Lehre zurückgezogen“ zu haben.

Es werden auch konkrete psychische Belastungen erwähnt, etwa Schlafprobleme oder Gedanken und Phantasien über weitere Eskalationsszenarien sowie über Befürchtungen, „dass das Schlimmste noch vor uns liegt.“

Als Resultat eines Erlebens fehlender Unterstützung oder Solidarität wird von einigen Befragten Einsamkeit benannt. Eine Befragte offenbart: „Dass wir an der Hochschule ein verdecktes, aber für mich als (Jüdin) deutlich spürbares Antisemitismusproblem an vielen Stellen haben, das von Kolleg*innen negiert wird, empfinde ich als sehr belastend. Ich fühle mich komplett allein gelassen. Ich bin ständig in Sorge, dass Antisemitismus offen, nicht nur verbal ausbrechen kann.“ Es wird deutlich, dass der Arbeitsalltag bei einigen erschwert wird. In einem Fall zeigt sich ein Dilemma zwischen der Erwartung eines aus der Problematisierung von Antisemitismus resultierenden Konflikts im Kollegium und dem eigenen Schamempfinden, deshalb auf diese Problematisierung zu verzichten. Es werden auch Weigerungen deutlich, empfundene Grenzüberschreitungen zu tolerieren, wie es für manche vor dem 7. Oktober kein Problem dargestellt hat. In einem Fall wird von einem „Kurswechsel“ gesprochen, „also vom Versuch, dialogbereit zu sein, zu einer Position, wo ich nicht mehr bereit bin, die Meinung von jemandem, der nichts anderes tun will, als mich zu verletzen, als eine ebenbürtige, diskutable Meinung anzusehen.“

In einigen Fällen wird über die Enttäuschung und Entfremdung berichtet, die aus dem institutionellen Umgang mit der Problemdynamik resultiert. Es werden ein Vermeidungshandeln sowie ein Mangel an wirksamen Strategien, das Ausbleiben von (adäquaten) Reaktionen der Hochschule oder uneindeutige Positionierungen von Verantwortungsträger:innen moniert. Ein/e Befragte/r zeichnet nach, wie die Hochschulleitung nach einem antisemitischen Vorfall reagiert habe: „Das Rektorat tut nichts. Hat mich gefragt, ob man nicht einen Schlussstrich ziehen könne, es fühlen sich ja beide Seiten beleidigt.“ Auch in einem anderen Fall wird ein Nichtstun kritisiert: „Institutsvorstand, Uni-Spitze informiert – totales Schweigen, keine Reaktion”. Ein/e Befragte/r berichtet nicht bloß von ausbleibender
Unterstützung, sondern davon, wie antisemitische Positionen gestärkt werden: „Das Dekanat schützt einseitig nur die Aggressoren.”

Maßnahmen zur Verbesserung der Situation

Die Umfrage verdeutlicht den dringenden Handlungsbedarf zur Verbesserung der Sicherheitsvorkehrungen. Die Entwicklung klarer Richtlinien zum Umgang mit den Gefährdungslagen jüdischer Hochschullehrender, die transparente Kommunikation an Betroffene sowie eine Sensibilisierung für und Aufklärung über die Problemdynamiken sind zentrale Bausteine dafür, Antisemitismus wirksam entgegenzutreten und Jüdinnen und Juden
eine gleichberechtigte Teilhabe an Hochschulen zu ermöglichen.

Die Umfrage unterstreicht zudem Bedarfe für langfristige Maßnahmen und Sofortmaßnahmen. Langfristig sollte eine Antisemitismusprävention an Hochschulen verankert werden. Das betrachten wir als Teil der Förderung einer offenen und inklusiven Hochschulkultur, in der Vielfalt und Respekt im Mittelpunkt stehen. Die Ergebnisse dieser Umfrage sind ein Weckruf für Bildungseinrichtungen und die Gesellschaft insgesamt, wachsam zu bleiben und entschieden gegen jede Form von Diskriminierung vorzugehen. Nur durch gemeinsames Handeln kann ein sicheres und respektvolles Umfeld für alle geschaffen werden.

Als Sofortmaßnahmen braucht es einerseits Schulungsprogramme zur Bekämpfung von Antisemitismus, andererseits Unterstützungsstellen und -angebote für Betroffene. Befragte sprechen sich für verbindliche Weiterbildungen für die Mitarbeiter:innen zur Geschichte und aktuellen Relevanz des Antisemitismus sowie für geschulte und vertrauenswürdige Anlaufstellen aus. Ebenso wird die Schaffung der Position eines/r Antisemitismusbeauftragten bzw. die Sensibilisierung bestehender Antidiskriminierungsstellen für die Spezifika des Antisemitismus als Notwendigkeit erwähnt. Es bedarf weiterhin der Schaffung von Stellen, die die jüdische und israelische Gegenwart und Antisemitismusfragen forschungsbasiert lehren, so dass Wissenslücken geschlossen und Juden auf dem Campus, in den Hochschulen sowie in der Gesellschaft als normaler Bestandteil begriffen werden.

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