„Antizionismus und Identitätspolitik“ nach dem 7. Oktober 2023

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Antisemitismus blühte nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 erneut auf, weniger dagegen eine kritische Auseinandersetzung mit der mörderischen islamistischen Organisation. Ein „Siebter Oktober Dreiundzwanzig. Antisemitismus und Identitätspolitik“ betitelter Sammelband liefert dazu viele anregende Statements. Es sind gelegentlich polemische Kommentare, die aber deswegen keine falsche Sichtweise repräsentieren müssen. Insbesondere eine Doppelmoral der politischen Linken ist immer wieder Thema.

Von Armin Pfahl-Traughber

„Wo bleibt die einfache Erkenntnis, dass die Hamas die Waffen niederlegen und die Geiseln freigeben kann, um sofort Frieden zu haben?“ (S. 8) Güner Balci stellt diese Frage in einem voluminösen Sammelband, der mit „Siebter Oktober Dreiundzwanzig. Antizionismus und Identitätspolitik“ als Titel von Vojin Sasa Vukadinovic herausgegeben wurde. Diese einfache Aussage aus dem dortigen Vorwort mag unrealistisch sein, sind doch die gemeinten Konfliktlinien in mehrfachem Sinne verhärtet. Gleichwohl kann eine solche Frage zum genannten Thema gestellt werden, um klare Aussagen über Verantwortlichkeiten zu formulieren. Genau dies geschieht bezogen auf die Folgewirkungen des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023 nicht. Dabei stellt sich die einfache Frage: Warum ist dem so? Letztgültige Antworten können die Autoren des erwähnten Bandes nicht geben, sie liefern aber zahlreiche Beiträge für einschlägige Reflexionen eben zu diesem Thema. In seiner langen Einleitung merkt man die innere Empörung dem Herausgeber zu solcher Ignoranz an.

Gleiches lässt sich bei vielen Autoren der zahlreichen Beiträge feststellen, was man aber auch als Ausdruck einer solchen Empörung mehr als nur verstehen kann. Fast 30 Artikel sind in dem umfangreichen Band abgedruckt, mal drei Seiten, mal 30 Seiten lang. Manchmal dominiert die persönliche Blickrichtung, manchmal wird harte Ideologiekritik formuliert. Durch alle Beiträge zieht sich aber die erwähnte Empörung, die insbesondere gegenüber Intellektuellen und Linken formuliert wird. Diese Ausrichtung hat nichts mit Einseitigkeiten zu tun, sie verweist auf eigentlich existente Grundlagen für eine andere Perspektive. Besondere Aufmerksamkeit finden dabei kritische Kommentare zu bestimmten Queers, gibt es doch etwa eine Gruppierung „Queers for Palestine“. Ob deren Akteure unter einer Hamas-Herrschaft so glücklich werden würden, darf aus Erfahrung und mit guten Gründen bezweifelt werden. Einige der abgedruckten Beiträge gehen auch auf solche Fragen ein, etwa auf den „gendertheoretischen … Verrat an den jüdischen Frauen“.

Die meisten Artikel haben aber andere Schwerpunkte, seien sie bezogen auf erste Kommentare zu dem Massaker, auf den dadurch für verschiedene Akteure entstandenen politischen Handlungsbedarf oder auf die Folgen der identitätspolitischen Vorstellungen. Einige aus der Fülle entnommene Hervorhebungen sind hier nötig, lassen sich doch verständlicherweise nicht alle Beiträge des Sammelbandes kommentieren. Besondere Beachtung verdienen etwa ideologiekritische Kommentare, dies gilt etwa für die Abhandlung über den Antizionismus von Judith Butler, die Betrachtung des programmatischen „Dekolonialisierung ist keine Metapher“-Textes, aber auch die Einwände gegen den bekannten Soziologen Jean Ziegler. Dieser letztgenannte Beitrag ist von einem ehemaligen Studenten von ihm geschrieben, welcher möglicherweise ein einseitiges Bild des engagierten Soziologen zeichnet. Gleichwohl verweist der Autor mit guten Belegen auf dessen problematische Deutungen zu Israel und dem Nahostkonflikt.

Viele andere Beiträge klagen eine Doppelmoral an, nämlich die der politischen Linken zu eben diesem Thema. Nicht wenige der Autoren weisen einen Migrationshintergrund, aber auch solche politische Nähen auf. Aus deren Blickwinkel entsteht ein ganz fataler Eindruck, hier etwa in folgendem Essaytitel enthalten: „Wie die Linke uns tatsächlich progressive Migranten verraten hat“. Es heißt in einem Artikel beispielsweise: „Große Teile der Linken leugnen oder relativieren den islamischen Faschismus und den Antisemitismus im Islam“ (S. 341). Oder man kann etwa lesen: „Diese Personen meinen, uns zu schützen, doch ihr Kulturrelativismus stellt eine ganz eigene Form des Verrats  und des Rassismus dar. Wer das Benennen von Problemen stigmatisiert, ist an deren Lösung nicht interessiert“ (S. 445). Derartige Doppelmoralen sind aber, das muss fairerweise noch konkretisiert werden, nicht nur der Linken eigen. Bilanzierend betrachtet liegt ein anregender und beachtenswerter Sammelband mit gelegentlich polemischen, aber nicht unzutreffenden Texten vor.

Vojin Sasa Vukadinovic (Hrsg.), Siebter Oktober Dreiundzwanzig. Antizionismus und Identitätspolitik, Berlin 2024 (Querverlag), 454 S., Euro 20,00, Bestellen?

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