Bangen um die Geiseln

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Am Platz der Entführten und Vermissten in Tel Aviv

Immer noch befinden sich rund 130 Israelis in der Gewalt der Hamas. Die Terrororganisation treibt mit ihnen ein grausames Spiel. Seit Monaten verlaufen die Verhandlungen. Angehörige und Freunde der Geiseln sind zunehmend verzweifelt. Sie fühlen sich auch von der eigenen Regierung im Stich gelassen.

Von Ralf Balke

Es wirkt wie eine Endlosschleife. „Kein Durchbruch bei den Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln“, hieß es am Donnerstagabend in den israelischen Medien. „Aber es gibt Fortschritte“, hätten Personen, die bei der jüngsten Runde der Gespräche in Katar mit dabei gewesen sind, gegenüber der Presse geäußert. „Die Gräben werden kleiner, und ich denke, dass eine Einigung sehr gut möglich ist“ , sagte denn auch US-Außenminister Anthony Blinken, der zum wiederholten Male in der Region unterwegs ist, um eine diplomatische Lösung des Krieges im Gazastreifen voranzubringen, tags zuvor dem saudischen Sender al-Hadath in Dschidda. Die Vereinigten Staaten hatten gehofft, noch vor Beginn des Ramadan am 10. März einen sechswöchigen Waffenstillstand sowie einen Deal zur Befreiung der rund 130 Geiseln unter Dach und Fach zu bekommen, die sich seit dem 7. Oktober immer noch in der Gewalt der Hamas befinden. Doch alle Gesprächsrunden in Kairo, Doha oder anderen Orten haben bisher zu keinem Ergebnis geführt, wofür Washington in allererster Linie die Hamas verantwortlich macht. So auch diesmal: „Wir haben sehr hart mit Katar, Ägypten und Israel zusammengearbeitet, um einen überzeugenden Vorschlag auf den Tisch zu legen. Doch die Hamas wollte ihn nicht akzeptieren. Sie wartete mit immer neuen Forderungen auf. Die Unterhändler arbeiten gerade daran, aber ich glaube, dass es sehr wohl machbar und notwendig ist“, so Blinken weiter.

Der Sprecher des katarischen Außenministeriums, Majed al-Ansari, dagegen dämpfte alle Hoffnungen. Anfang der Woche erklärte er, dass es noch zu früh sei, um sagen zu können, beide Seiten stünden kurz vor einer Einigung. Die Unterhändler würden weiterhin um eine Einigung ringen. So lautet der jüngste Vorschlag der Hamas, dass man bereit sei, rund 40 weibliche, ältere sowie verletzte Geiseln im Gegenzug für eine sechswöchige Feuerpause, deutlich mehr Hilfslieferungen in den Gazastreifen sowie die Freilassung einer größeren Zahl Palästinenser aus israelischen Gefängnissen, ans Rote Kreuz zu übergeben. Angeblich, so hieß es seitens der Hamas, würde Israel dieses Angebot aber ablehnen. Und aus den Vereinigten Staaten war zu hören, dass man mit Ron Dermer, Minister für strategische Angelegenheiten und einem Vertrauten von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, sowie dem Nationalen Sicherheitsberater Tzachi Hanegbi intensiv an alternativen Vorschlägen arbeiten würde.

Doch über allem schwebt die geplante israelische Offensive in Rafah, mit der Netanyahu der Hamas endgültig den Garaus machen möchte. Die Vereinigten Staaten sehen diese jedoch mit dem Verweis auf den mit Hunderttausenden von geflohenen Palästinensern überfüllten Ort sehr kritisch und lehnen das Vorhaben ab. Die Differenzen darüber haben das Verhältnis zwischen Israel und seinem wichtigsten Verbündeten mittlerweile schwer belastet. Das weiß auch die Hamas, und das dürfte auch einer der Gründe dafür sein, warum sie weiterhin in der Geiselfrage auf eine Verzögerungstaktik setzt. Das Kalkül der Terrororganisation: Je größer der Druck Washingtons auf Jerusalem ist, desto mehr ließe sich vielleicht etwas aus Israel herauspressen. Und wenn Netanyahu wirklich eine Bodenoffensive in Rafah starten sollte und es zu Opfern unter den Palästinensern kommt, desto mehr wird Israel international isoliert. Da kann man also ruhig warten und die Verhandlungen in die Länge ziehen.

Von einer weiteren Seite droht Netanyahu ebenfalls Ungemach. Bei jedem Deal, der als Gegenleistung für die Freilassung von Geiseln die Auslieferung von Palästinensern aus israelischen Gefängnissen vorsieht, drohen seine rechtsextremen Koalitionspartner, da nicht mitspielen zu wollen. So hatte kürzlich Itamar Ben Gvir, Minister für Nationale Sicherheit und Vorsitzender der Partei Otzma Yehudit, ein Ende der Verhandlungen gefordert, weil die Hamas diese endlos in die Länge ziehen würde, um. „Dieses Hinhalten bringt eine Rückkehr der Geiseln nicht voran, dieses Hinhalten gefährdet die Sicherheit unserer Soldaten, unsere Position sowie unseren Ruf und bringt uns in eine Situation, in der sie einfach zusehen, wie wir langsam schwächer werden“, sagt er weiter. Die Freilassung von Palästinensern, an deren Hände israelisches Blut klebe, käme mit ihm sowieso nicht infrage.

Und Finanzminister Bezalel Smotrich, Chef der Religiösen Zionisten, hatte im Februar in einem Interview mit dem TV-Sender Kan auf die Frage, ob die Befreiung der Geiseln seiner Meinung nach das wichtigste Ziel sei, mit einem „Nein“ geantwortet. „Das ist nicht das Wichtigste. Warum sollte man einen Wettbewerb daraus machen? Warum ist es im Moment so wichtig?“, fragte er zurück. „Wir müssen die Hamas zerstören. Das ist sehr wichtig.“ Zugleich kritisierte Smotrich all diejenigen, die einen Deal „um jeden Preis“ fordern würden. Für den Ministerpräsidenten bedeutet dies, dass seine Koalition platzen könnte, wenn er sich auf ein Abkommen einlässt, das den beiden nicht behagt. Genau das hatten Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich dieser Tage noch einmal im TV-Kanal 13 angekündigt.

Für die Angehörigen der 134 Geiseln, deren Schicksal – die Armee geht davon aus, dass 33 von ihnen wohl nicht mehr am Leben sein könnten – nach wie vor ungewiss ist, geht der Alptraum also weiter. Seit Monaten kämpfen sie dafür, dass die Regierung mehr unternimmt, um sie alle freizubekommen. Schon längst belässt man es dabei nicht nur bei Appellen, sondern geht auch immer wieder auf die Straße. Überall lautet die Forderung: „Bringt Sie nachhause!“ So auch am vergangenen Samstag, als Tausende Menschen in Tel Aviv und anderen Städten des Landes zu Demonstrationen kam, bei denen Transparente mit den Bildern von Mitgliedern des Kriegskabinetts zu sehen waren, auf denen zu lesen stand: „Es liegt an Euch, kommt nicht aus Katar zurück, ohne eine Vereinbarung getroffen zu haben.“

Mehrfach kam es bei den Protesten zu unschönen Szenen. Vor einigen Wochen beispielsweise wurden ehemalige Geiseln wie Ilana Grichevski oder auch Angehörige von Personen, die sich noch in der Gewalt der Terrororganisation Hamas befinden, sogar von der Polizei mit Wasserwerfern angegriffen. Einen Demonstranten schlugen berittene Polizisten sogar krankenhausreif. Die Vorfälle sind nun Gegenstand von Untersuchungen, die das Justizministerium eingeleitet hatte. Auch zu mehrtägigen großangelegten Protestmärschen von Tel Aviv nach Jerusalem brach man bereits auf.

Obwohl sich viele Oppositionspolitiker den Demonstrationen und Märschen angeschlossen hatten, versuchten ihre Organisatoren in der ersten Zeit, allzu deutliche Kritik an der Regierung zu vermeiden. Stattdessen riefen sie zur Solidarität mit den Familien der Gefangenen auf und forderten die Verantwortlichen auf, mehr für die Freilassung der Geiseln zu unternehmen. Doch mit den Monaten wächst die Verzweiflung, der Ton wird ein anderer. Denn viele fühlen sich mittlerweile in Stich gelassen. „Die Geiseln wurden am 7. Oktober aufgegeben und sie werden gerade jetzt wieder aufgegeben“, brachte Yitfath Calderon, deren Cousin Ofer sich unter den Geiseln befindet, die Wahrnehmung auf den Punkt. Das Verhalten von Benjamin Netanyahu hatte von Anfang für Entsetzen gesorgt. Denn der Ministerpräsident hatte viele Tage verstreichen lassen, bis er sich überhaupt mit Angehörigen der Verschleppten treffen wollte. Und auch seine Verweigerungshaltung, für irgendwas im Kontext des 7. Oktober die Verantwortung zu übernehmen, sorgte für Kritik.

Für Entsetzen aber sorgten aber jetzt Äußerungen von Netanyahus Gattin. Eine anonym gebliebene Knesset-Abgeordnete hatte davon berichtet, dass Sara Netanyahu sich bei ihr darüber beschwert hätte, die Geiseln seien undankbar, hieß es am Donnerstagabend in den Medien. „Haben Sie gesehen, wie viele Geiseln wir zurückgebracht haben? Sie haben uns nicht einmal gedankt.“ Das Büro des Ministerpräsidenten wies die Äußerungen zurück und erklärte: „Man kann in einem privaten Gespräch sagen, was man will, auch Lügen und weit hergeholte Erfindungen.“ Mehrere ehemalige Geiseln reagierten bereits auf die Meldung und schrieben in den Sozialen Medien: „Tut mir leid, dass ich entführt wurde.“ Einer von ihnen, Yigal Yaakov, wurde noch deutlicher: „Es tut mir leid, dass ich entführt wurde. Das nächste Mal werde ich den Urlaub in Gaza selbst finanzieren.“ Eine weitere Wortmeldung, diesmal von Mia Regev, lautete: „Es tut mir leid, dass ich entführt wurde, und noch mehr tut es mir leid, dass sie sich damit befassen müssen, anstatt meine Brüder und Schwestern nach Hause zu bringen.“ Auch ein Bild mit der Aufschrift „Danke, Sara“ macht in den Sozialen Medien jetzt die Runde.

In Katar wird unterdessen weiterverhandelt. Zwar ist David Barnea, Chef des Mossad inzwischen wieder nach Israel zurückgekehrt, seine Delegation aber blieb vor Ort. Mit dabei sind Vertreter des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet sowie von der Armee. Wie lange die Gespräche noch andauern und ob es am Ende ein Deal dabei herauskommt, kann niemand mit Gewissheit sagen. Das Bangen geht also weiter.