Sagen, wie es ist und nicht, wie es sein soll

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Vor 40 Jahren wurde der Judaist Prof. Hermann Greive von einer ehemaligen Studentin getötet

Von Eva Schwis

Am 24. Januar 1984 schoss Sabine S. Gehlhaar, eine ehemalige Studentin der Judaistik, Prof. Hermann Greive im Martin-Buber-Institut der Universität zu Köln mit einem Vorderlader in den Kopf. Einen Tag später starb er.

Greive gab an diesem Mittag gerade Hebräischunterricht. Er sackte nach vorne auf den Tisch, und das Blut schoss aus seiner rechten Schläfe wie der Sekt aus der Flasche. So beschrieb es später eine anwesende Studentin. Sie und die anderen Kommilitonen flüchteten unter die Tische. Greive begann zu röcheln. Eine wagte sich aus der Deckung und hinein ins Schussfeld. Ich erinnere mich nur noch an ihren Vornamen. Dodo. Dodo ging zu dem Schwerverletzten und streichelte ihm immer wieder über den Rücken. „Schließlich weiß man nie, was ein Mensch noch mitkriegt“, erzählte sie mir später.

Das sagte Dodo zu einer Zeit, als Nahtoderfahrungen ein Fremdwort und Atheismus und materialistisches Weltbild ungeschriebene Gesetze an der Uni waren. Wer auch nur ansatzweise dagegen verstieß, wurde schnell als „labil“ oder „psychisch krank“ abgestempelt. Dodo war mutig, und ich bin ihr heute noch dankbar. Ein menschlicher Lichtblick in all der Düsternis.

Sabine Gehlhaar schoss auch auf Prof. Johann Maier, den Leiter des Instituts, und auf einen weiteren Mitarbeiter, den späteren Prof. Hans-Georg von Mutius. Maier kam mit einem Streifschuss davon; die Kugel auf von Mutius verfehlte zum Glück ihr Ziel. Sabine Gehlhaar wurde von Mitarbeitern des Instituts überwältigt und von der Polizei abgeführt.

Ich saß zur selben Zeit in einem theologischen Seminar und hatte keine Ahnung.

Am anderen Tag las meine Mutter den Kölner Stadt-Anzeiger. „Bei Euch gab es gestern einen Anschlag, und Greive ist in den Kopf geschossen worden.“

„Nein. Das stimmt nicht.“

„Doch.“ Meine Mutter reichte mir die Zeitung, und ich schaute auf Greives Foto.

Vom ersten Semester an hatte ich bei Greive studiert. Er war nicht nur klug, sondern auch gütig. Er hatte Humor, war tolerant; seine Seminare, die sich z.B. mit jüdischen Frauen in der Aufklärung beschäftigten, waren beliebt. Er war verlässlich. Er war immer da und half mir bei meinen Prüfungsängsten. In den wenigen Jahren, die ich bei ihm lernen durfte, vermittelte er mir Werte und ein politisches Bewusstsein. Er gab mir das nötige Rüstzeug, eine Grundlage, auf der ich heute noch fuße. Sagen, wie es ist und nicht, wie es sein soll, war sein Motto.

Bis zu meinem 18. Lebensjahr war mein Leben durch den Alkoholmissbrauch und die Gewalttätigkeiten meines Vaters geprägt gewesen. Hermann Greive war wichtig für mich; wichtiger, als mir damals überhaupt bewusst war.

Ich reagierte völlig irrational. Statt sofort im Institut anzurufen, versuchte ich vergeblich, einen Kollegen zu erreichen, mit dem ich an einem Projekt arbeitete. Schließlich wählte ich doch die Nummer des Instituts, ließ aber Frau Hoerkens, die Sekretärin, gar nicht zu Wort kommen. Ich redete über den Kölner Stadt Anzeiger, über die Artikel, die schockierenden Fotos, die Greive auf einer Trage und dem Weg ins Krankenhaus zeigten. Ich ahnte die Wahrheit und wollte sie hinauszögern. Irgendwann blieb mir die Luft weg.

„Prof. Greive ist tot“, sagte Frau Hoerkens in die Stille hinein, und ich fiel ins Nichts.

Die Trauerfeier mit dem Sarg fand in der Halle des Melaten Friedhofes statt. Weinen war verpönt. Nur wer stark war, sollte kommen. Ich war schwach und heulte wie ein Schlosshund. Immer mehr Details traten zutage. Die Täterin war zum Judentum konvertiert und ertrug nicht, dass Nichtjuden Judaistik lehrten. Sie fühlte sich verfolgt. Computergesteuert. Paranoide Schizophrenie wurde diagnostiziert. Deshalb galt sie als schuldunfähig. Sie kam nach Düren ins Landeskrankenhaus. Für unabsehbare Zeit eine Gefahr für die Gesellschaft. 1986 wurde sie
entlassen.

Ich verstand die Welt nicht mehr; versuchte, das Unfassbare zu fassen. Vergeblich.

Schon wurde gemunkelt, der Mossad stecke hinter dem Attentat. In der Institutstür wurde ein Einwegspiegel angebracht, um die im Treppenhaus Stehenden einer Gesichtskontrolle zu unterziehen. Jeder fremde Student wurde kritisch beäugt. Beim Kommen musste er sich in ein sogenanntes Gästebuch eintragen und beim Gehen wieder austragen. Im Falle eines weiteren Attentats erfahre man so, wer der Täter sei.

Andere ignorierten die Tat schlichtweg. Die Frau war krank, wir waren gesund und mussten uns damit abfinden. Weitermachen wie bisher und Objektivität wurden gefordert. Subjektivität war ein Sakrileg und wurde verdammt.

Nein, wir brauchten nicht an Greive zu erinnern. Es gab ihn ja nicht mehr. Es musste nicht mal sein Name erwähnt werden. Selbst in Symposien ging es nur um Gedanken, Erkenntnisse, Forschungsansätze. Der Name des Betreffenden war unerheblich.

Und seine Bücher? Ja, die verkauften sich prächtig. Gerade hatte es wieder eine neue Auflage gegeben. Was wollte man also mehr?

Irgendwann ging ich. Dieses Wechselspiel zwischen Hysterie und bornierter Kaltschnäuzigkeit brachte mich um den Verstand.

Und heute? Was bleibt nach 40 Jahren? Keine Symposien. Wenig gedruckte Bücher. Keine Objektivität.

Aber es bleibt die Erinnerung an einen gütigen, humorvollen Menschen; einen Menschen mit Ironie, Witz und Verstand; einen mutigen Menschen, der sich nicht scheute, gegen den Strom zu schwimmen und unliebsame Wahrheiten zu benennen. Es bleibt die Tatsache, dass Dodo ihr Leben aufs Spiel setzte, dem sterbenden Greive zur Seite stand und Menschlichkeit bewies. Und es bleibt die Erfahrung, dass erlebte Verlässlichkeit und Güte nicht zerstörbar sind.

Bleibt noch mehr? Vielleicht. Denn der Tod sprengt alle erdachten Kategorien.
Es bleibt Hoffnung.