Israel am Pranger

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Velvet / CC BY-SA 4.0

Man würde im Gazastreifen einen Völkermord begehen – so lautet der Vorwurf, mit dem Israel sich konfrontiert sieht. Eingereicht beim Internationalen Gerichtshof hatte die Klage Südafrika. Heute findet in Den Haag nun dazu die erste Anhörung statt.

Von Ralf Balke

84 Seiten lang ist die Klageschrift, die Südafrika am 29. Dezember 2023 beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag eingereicht hat. Israel wird darin beschuldigt, im Rahmen seines militärischen Vorgehens im Gazastreifen als Reaktion auf die Massaker vom 7. Oktober „außergewöhnlich brutal“ vorzugehen und habe dort Maßnahmen eingeleitet, die auf eine Vernichtung der Palästinenser hinauslaufen würden, also einen „genozidalen Charakter“ hätten. Pretoria fordert den Internationalen Gerichtshof deshalb auf, einen Erlass zu erwirken, der zu einem Ende der Bodenoffensive führt. Ferner sollten Personen, die sich in irgendeiner Form schuldig gemacht hätten, ebenfalls vor ein Gericht gestellt werden und Israel Reparationszahlungen für die vor Ort entstandenen Schäden leisten.

Rechtsgrundlage in diesem Verfahren ist die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords“, also genau jene Übereinkunft, die unter dem Eindruck der Schoah am 9. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurde und am 12. Januar 1953 auch in Kraft trat. Sie geht zurück auf die Initiative von Raphael Lemkin, einem polnisch-jüdischen Juristen, der vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten fliehen konnte, wo er ebenfalls den Begriff „Genozid“ prägte. Darunter wird die teilweise oder vollständige Zerstörung einer „nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe“ verstanden. Die Anzahl der dabei getöteten Menschen spielt dabei keine Rolle, sehr wohl aber die Intention. Unterzeichnet hatten diese Konvention bis dato 153 Staaten, darunter auch Israel. Nach Jugoslawien, Myanmar und Russland ist der jüdische Staat nun das vierte Land, das sich vor dem Internationalen Gerichtshof wegen des Vorwurfs des Völkermordes verantworten muss.

Um dem Anliegen Nachdruck zu verleihen, zitiert die Klageschrift Südafrikas gleich mehrere israelische Politiker, darunter Verteidigungsminister Yoav Gallant, der am 9. Oktober 2023, der Palästinenser als „menschliche Tiere“ bezeichnet hatte, was von Pretoria als eine Begriffswahl interpretiert wird, die „genozidale Handlungen auslösen“ könnte. Auch eine Äußerung von Staatspräsident Isaac Herzog wird angeführt. So habe er am 12. Oktober 2023 gesagt: „Es ist eine ganze Nation da draußen, die verantwortlich ist. Es ist nicht wahr, dass die Zivilisten nicht wissen, dass sie nicht beteiligt sind. Es ist absolut nicht wahr.“

Das Prozedere ist nun wie folgt: Am Donnerstag wird Südafrika in Den Haag angehört und seinen Antrag auf eine einstweilige Anordnung des Internationalen Gerichtshof begründen. Tags darauf kann Israel reagieren. Vertreten wird es dabei von Malcolm Shaw, einem renommierten Experten für internationales Recht an der Universität von Leicester in Großbritannien. Ihn hatte Jerusalem gebeten, diesen Job zu übernehmen. Fünfzehn Richter entscheiden dann, ob dem Antrag Südafrikas stattgegeben wird oder nicht, dafür reicht eine einfache Mehrheit. Das kann recht schnell dauern, vielleicht ein paar Wochen. Doch bis das Gremium ein endgültiges Urteil darüber fällt, ob im Gazastreifen wirklich ein Völkermord begangen wird, könnten einige Jahre vergehen. Selbst wenn Den Haag bald schon Israel dazu auffordern könnte, seine militärischen Maßnahmen einzustellen, heißt das nicht, dass dies auch passiert, weil dem Internationalen Gerichtshof zur Durchsetzung die Möglichkeiten fehlen.

In Israel zeigt man sich irritiert von dem Eilantrag aus Südafrika. „Es gibt wohl kaum etwas Abscheulicheres und Absurderes als die Behauptung“, lautete die Reaktion von Staatspräsident Isaac Herzog. „Schließlich sind es doch unsere Feinde, die Hamas, die in ihrer Charta die Zerstörung und Vernichtung des Staates Israel fordern, des einzigen Staates des jüdischen Volkes.“ Ein weiterer Kritikpunkt ist die Tatsache, dass sich die Hamas hinter zivilen Einrichtungen wie Krankenhäusern und Schulen versteckt und die Bevölkerung des Gazastreifens als menschliches Schutzschild missbraucht. Genau davon ist in der Klageschrift aber kein einziges Wort zu lesen. Die israelische Regierung weist daher die Vorwürfe zurück und pocht im Gegenzug auf das Recht auf Selbstverteidigung. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu betonte gleich mehrfach, dass Israel nicht gegen die Palästinenser als Volk kämpft, sondern gegen die Terrororganisation Hamas. Genau das steht nicht nur für ihn im Einklang mit dem internationalen Recht. Ferner hob er hervor, dass man keinerlei Gebietsansprüche im Gazastreifen habe und auch nicht plane, die Bevölkerung zu vertreiben. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sieht das genauso. Auf ihrer jüngsten Nahostreise zu Anfang dieser Woche sagte sie, dass zu einem Völkermord auch eine Intention gehört, das jedenfalls schreibt die Definition vor. „Diese Absicht kann ich bei Israels Selbstverteidigung gegen eine bewaffnete Terrororganisation der Hamas nicht erkennen.“

Sowohl Südafrika als auch Israel wird einen der fünfzehn Richter in Den Haag stellen, so sehen es die Regeln vor. Jerusalem entschloss sich, Aharon Barak, den ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofes in Israel in die Niederlande zu entsenden. Das war eine kleine Sensation – schließlich gilt der 87-Jährige, der im litauischen Kaunas geboren wurde und selbst die Schoah als Kind überlebt hatte, als ein ausgesprochener Kritiker von Benjamin Netanyahu. Vor allem im Streit um den geplanten Umbau des Justizwesens war er einer der prominentesten Gegner dieses Vorhabens. Für die Unterstützer der „Justizreform“ sollte er zur Hassfigur werden, mehrfach fanden im Frühjahr 2023 vor seinem Privatwohnsitz deshalb Demonstrationen statt. Ins Spiel gebracht hatte übrigens die Entsendung Israels Generalstaatsanwältin Gali Baharav Miara, ebenfalls alles andere als eine Freundin des umstrittenen Ministerpräsidenten – kein Wunder, dass diese Personalie bei den rechtsextremen Koalitionspartnern von Benjamin Netanyahu heftige Kritik hervorrief.

„Es ist ein Fehler, die Verantwortung in die Hände von Aharon Barak zu legen, der gewiss ein ehrenwerter Mann ist“, sagte Bezalel Smotrich, Vorsitzender der Partei des Religiösen Zionisten. „Das ist eine Entscheidung, die der Premierminister getroffen hat, ohne uns zu konsultieren.“ Andere dagegen begrüßten diesen Schritt, allen voran Benny Gantz, Mitglied des Kriegskabinetts und Chef der Partei der Nationalen Einheit. Er bezeichnete Barak einen „israelischen Patrioten, der immer dem Ruf seines Landes gefolgt ist, das er so sehr liebt“. Ebenso Oppositionsführer Yair Lapid, der auf X, vormals Twitter, schrieb: „Es ist nicht das erste Mal, dass der Staat Israel den Verstand, das unendliche Wissen und den einzigartigen internationalen Status von Richter Aharon Barak braucht. Ich gratuliere ihm zu seiner Ernennung und wünsche ihm viel Glück.“

In Den Haag steht für Israel manches auf dem Spiel. „Obwohl die Vorstellung, dass Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht, also absichtlich palästinensische Zivilisten ermordet, einigen abwegig erscheinen mag, sind die Anschuldigungen äußerst ernst zu nehmen“, brachte es Jeremy Sharon in der „Times of Israel“ auf den Punkt. „Selbst ein vorläufiges Urteil gegen Israel könnte schwerwiegende Auswirkungen auf seinen internationalen Status und sein weltweites Ansehen haben, mit möglicherweise negativen diplomatischen und politischen Folgen.“ So manche Minister im Kabinett würden mit ihren Äußerungen zum Gazastreifen den Anklägern aus Südafrika die Munition quasi frei Haus liefern. Gemeint sind die Äußerungen von Smotrich oder Itamar Ben Gvir, die bei einigen Gelegenheiten von einer „Umsiedlung der Bewohner des Gazastreifens“ fantasierten.

„Durch die Einleitung eines substanzlosen Verfahrens gegen Israel wegen Völkermordes und Aufstachelung zum Völkermord bietet Südafrika der Hamas und den mit ihr verbündeten iranischen Terrorgruppen, die sich selbst genau dieser Verbrechen schuldig gemacht haben, Schutz – ein klassisches Beispiel für eine Täter-Opfer-Umkehr“, so die Einschätzung von Irwin Cotler, ehemals Generalstaatsanwalt in Kanada, in der „Jerusalem Post“. „Damit kehrt Südafrika die Realität um und untergräbt die auf Regeln basierende internationale Ordnung. Diese Umkehrung ist gefährlich und zutiefst besorgniserregend, da sie genau dem Muster folgt, das von Wladimir Putins Russland vorgegeben wurde – wobei Präsident Putin falsche Anschuldigungen des Völkermords in seiner >Nazifizierung<-Verleumdung als Vorwand für seine kriminelle Aggression gegen die Ukraine in Stellung brachte.“

Dass es Südafrika um mehr als nur den aktuellen Krieg im Gazastreifen geht, zeigte sich bereits am ersten Verhandlungstag. So erklärte sein Justizminister Ronald Lamola in Den Haag vor dem Internationalen Gerichtshof: „Die Gewalt und die Zerstörung in Palästina haben nicht erst am 7. Oktober begonnen, sondern schon vor 76 Jahren.“ Damit impliziert er bereits, dass die Gründung des Staates Israel ein Problem gewesen sei. Und Tembeka Ngcukaitobi, einer der vor Ort anwesenden Anwälte Südafrikas, legte nach. Er zeigte Videoaufnahmen von israelischen Soldaten, die im Gazastreifen tanzen sowie singen und rufen, dass sie das biblische Gebot der Vernichtung von Amalek erfüllen würden und es dort keine Unschuldigen gäbe. „Völkermörderische Äußerungen finden nicht irgendwo am Rande statt, sondern sind in der staatlichen Politik verankert“, behauptet er. „Die Absicht zu zerstören wird von den Soldaten vor Ort durchaus verstanden“, erklärt Ngcukaitobi weiter. „Jede Andeutung, dass israelische Politiker nicht gemeint haben, was sie sagten, oder von den Soldaten vor Ort missverstanden wurden, sollte von diesem Gericht zurückgewiesen werden.“ Spätestens jetzt sollte allen klar sein, dass es sich hier weniger um ein Verfahren handeln soll, sondern um ein Tribunal, an dem Israel an den Pranger gestellt wird.

Bild oben: Dienstgebäude des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag (2015), (c) Velvet / CC BY-SA 4.0