Der zweite Schock

0
122

Israels Wirtschaft bekommt den Krieg gegen die Hamas voll zu spüren. Überall fehlen Arbeitskräfte, manche Branchen kommen gänzlich zum Erliegen. Niemand weiß, wann und wie der Konflikt zu Ende geht. Aber die Vergangenheit zeigt: Auf militärische Auseinandersetzungen folgte oft eine Wachstumsphase.

Von Ralf Balke

Der Tourismus bekommt es immer als Erstes zu spüren. Sobald im Nahen Osten die Waffen sprechen, hagelt es Stornierungen. So auch nach dem Massaker vom 7. Oktober und der Ausrufung des Kriegszustands in Israel. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: So kamen in dem Monat, in dem die von der Hamas verursachte Krise ausbrach, knapp 99.000 Besucher ins Land, davon fast zwei Drittel in der ersten Woche. Und die meisten dürften auch vorzeitig wieder abgereist sein. Zum Vergleich: Im Oktober des Vorjahres waren es 369.000. Entsprechend leer ist es schlagartig in den Hotels und den Stränden geworden. Sogar auf Airbnb fallen seit vielen Jahren erstmals die Preise, weil es keine Mieter gibt. Auch am Flughafen herrscht deutlich weniger Betrieb – fast alle ausländischen Airlines haben mangels Nachfrage und aus Sicherheitsgründen ihre Flüge nach Tel Aviv eingestellt. Es sind vor allem die israelischen Airlines, die die Verbindung zur Außenwelt noch aufrechterhalten.

Dabei sah alles recht solide aus für Israels Volkswirtschaft. Laut OECD hätte man für das laufende Jahr mit einem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 2,9 Prozent rechnen können und für 2024 wurde sogar ein Plus von 3,3 Prozent prognostiziert. Diese Zahlen sind schlagartig mit dem 7. Oktober zur Makulatur geworden. Und Gründe dafür gibt es zahlreiche. Da sind zum einen die mindestens 200.000 Binnenflüchtlinge im Land, also jenen Israelis, die aus dem Umland des Gazastreifens sowie aus der Gefahrenzone im Norden nahe der libanesischen Grenze evakuiert werden mussten. Das betraf nicht nur einige Kibbuzim und Moshavim, sondern ganze Städte wie Sderot oder Kiryat Shmona, wo derzeit nur noch wenige Menschen ausharren. Sie alle verloren nicht nur von einem Moment auf auf nächsten ihre Häuser und Wohnungen, sondern ebenfalls ihre Arbeitsplätze und Geschäfte. Viele von ihnen sind nun auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Zugleich sind mehr als 300.000 Reservisten zum Militär einberufen worden. Sie alle mussten ihren Job verlassen, um nun die Grenzen des Landes zu sichern oder im Rahmen der Bodenoffensive im Gazastreifen zu kämpfen. Und ein weiterer Faktor: Vielerorten schlossen Schulen, der Unterricht findet – wenn überhaupt – dann nur online statt, weshalb Eltern aktuell oftmals an die eigenen vier Wände gebunden sind und nicht so arbeiten können wie in ruhigeren Zeiten.

Was das Ganze aus ökonomischer Perspektive bedeutet, hatte dieser Tage die Bank of Israel einmal ausgerechnet. Allein die Abwesenheit einer so hohen Zahl an Personen von ihren Arbeitsplätzen aufgrund des Krieges kostet die israelische Wirtschaft schätzungsweise 2,3 Milliarden Schekel, umgerechnet rund 575 Millionen Euro, und das pro Woche. Das entspricht ungefähr sechs Prozent des wöchentlichen Bruttoinlandsproduktes, heißt es in dem Forschungsbericht. Und dieser ist nur eine Momentaufnahme, die Zahlen können sich jederzeit ändern. Sie sind abhängig davon, wie die militärische Auseinandersetzung weiter verläuft, und zwar, ob die Hisbollah die Füße stillhält und sich nicht stärker einmischt als bisher, und wie lange der Konflikt vor Ort im Gazastreifen anhält. Ferner betont die Zentralbank, dass ihre Analyse nicht den gesamten Schaden und die Kosten für den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft widerspiegelt, weil bestimmte Faktoren wie der Rückgang des Konsums sowie die Abwesenheit ausländischer Arbeitskräfte nicht berücksichtigt werden konnten.

Zudem können andere Maßnahmen noch gar nicht in ihrer Tragweite erfasst werden. So wurde bereits zwei Tage nach Ausbruch des Konflikts die Erdgasförderung vor der Küste von Ashkelon eingestellt, zu groß war das Risiko, dass das Tamar-Erdgasfeld und die Plattformen zu seiner Erschließung von Raketen getroffen werden könnten. Und die Kibbuzim und Moshavim rund um den Gazastreifen zählen zu den wichtigsten Lieferanten von Agrarprodukten in ganz Israel. Sie fallen nun aus. So stammen nach Angaben von Uri Dorman, Generalsekretär des israelischen Bauernverbands, etwa 75 Prozent des in Israel angebauten Gemüses sowie 20 Prozent des Obstes aus genau dieser Region. Auch die Milchwirtschaft hat es arg getroffen. Etwa sechs Prozent des israelischen Bedarfs an Milchprodukten werden dort gedeckt. „Wir haben Molkereien in Kibbuzim aufgegeben, zu denen uns die Armee keinen Zugang gewährt“, weiß Lior Simcha, Geschäftsführer der Milcherzeugervereinigung, gegenüber „Ynet“ zu berichten. „Es gibt zwar einige Molkereien, die versuchen, den Betrieb wieder aufzunehmen und wir versuchen, Hilfe zu schicken, um die Kühe in Kibbuzim wie Mefalsim zu versorgen. Aber die Armee lässt uns nicht in ihre Nähe. Die Molkereien in Nahal Oz, Alumim und Be’eri sind völlig zerstört. Wir sprechen hier von Tausenden von Kühen. Einige sind bereits gestorben, die andere werden noch sterben. Es ist eine einzige Katastrophe.“ Und weil die Hamas auch mehrere Dutzend ausländische Arbeitskräfte grausam ermordet und als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt hat, haben bereits mehrere Tausend Thailänder, die in der Landwirtschaft arbeiteten, Israel verlassen. Das trägt mit zur Verschärfung der Situation. „Sie werden nicht wieder zurückkehren“, glaubt Doron Eliyahu, Koordinator des Bauernverbandes. Um die Engpässe ein wenig zu entschärfen, sprangen nun Hunderte von Freiwilligen als Ersatz ein.

Zwar hat die israelische Regierung einen Wirtschaftshilfeplan vorgelegt, der umgerechnet mehr als eine Milliarde Euro zur Unterstützung von Unternehmen vorsieht – doch es hapert mit der Umsetzung, vielerorten wird beklagt, dass keine Hilfe ankommt und man sich stets auf private Initiativen verlassen muss, die von der gesamten israelischen Gesellschaft gerade ins Leben gerufen wurden, weil es mit manchem nicht klappt. Außerdem sei das viel zu wenig, beklagen viele Volkswirte, die zudem das unprofessionelle Handeln der Verantwortlichen kritisieren, allen voran des Finanzministers Bezalel Smotrich. „Sie verstehen schlichtweg nicht das Ausmaß der Krise, mit der Israels Wirtschaft gerade konfrontiert wird“, heißt es in einem aktuellen Brandbrief von mehr als 300 Experten, darunter ehemalige Präsidenten der Zentralbank oder Nobelpreisträger für Wirtschaft. „Der schwere Schlag, der den Staat Israel getroffen hat, erfordert eine grundlegende Änderung der nationalen Prioritäten und eine massive Umlenkung der Haushaltsmittel zugunsten der Beseitigung der Kriegsschäden, der Hilfe für die Opfer und des Wiederaufbaus der Wirtschaft. Nach unserer Schätzung werden sich die zu erwartenden Ausgaben nach dem Krieg auf mehrere zehn Milliarden Schekel belaufen.“ Zwar hatte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu kürzlich erklärt, er habe den Finanzminister angewiesen, „die Hand in die Tasche zu stecken“ und von einer Erhöhung der Staatsausgaben gesprochen. Doch die Volkswirte sind unisono der Meinung, dass das allenfalls „kosmetische Änderungen“ gewesen wären und keinesfalls ausreichten. So müssen man auch an die Ausgaben, die die eigene Klientel bei der Stange halten, beispielsweise die zusätzlichen Milliarden, die für die Alimentierung ultraorthodoxer Religionsschulen vorgesehen waren. „Die Regierung muss sich den Herausforderungen so schnell wie möglich stellen und versuchen, das Vertrauen der Bürger in ihre Fähigkeit, dies zu tun, wiederherzustellen.“

Ganz offensichtlich wird gerade vieles von privater Seite geleistet. Das fängt bereits bei den Hightech-Startups an, die plötzlich verwaist sind, weil ihre zumeist jüngeren Gründer und Mitarbeiter jetzt alle Uniformen tragen müssen – laut Schätzungen sind knapp 20 Prozent aller Reservisten in der einen oder anderen Form in der Hightech-Branche tätig. So hat eine Gruppe internationale Risikokapitalgeber eine Initiative namens Iron Nation ins Leben gerufen, um die jungen Unternehmen vor dem Aus zu bewahren. Ihre Gründer sagen, dass bereits 150 Unternehmen um Hilfe gebeten haben. Meistens handelt es sich um Summen zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Dollar, um die Geschäfte weiter am Laufen zu halten. Und laut einer Studie der Hebräischen Universität, die das zivilgesellschaftliche Engagement in Israel während des aktuellen Krieges unter die Lupe nahm, hat sich fast die Hälfte der israelischen Bevölkerung in irgendeiner Weise freiwillig gemeldet, um anderen zu helfen, die direkt oder indirekt unter den Auswirkungen des Hamas-Angriffs zu leiden hatten. Ihre Autorin, Professor Michal Almog-Bar, erklärte gegenüber israelischen Medien, dass inländische philanthropische Organisationen und Nichtregierungsorganisationen „Dutzende Millionen Dollar“ aufgebracht hätten, und auch amerikanische Juden einige hundert Millionen Dollar an Spenden mobilisieren konnten.

Trotz allem zeigt sich ein düsteres Bild. Der Schekel hat ein 14-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar erreicht und der Motor des israelischen Wirtschaftswachstums, die Hightech-Branche, fing bereits vor dem 7. Oktober an zu stottern. Alle wichtigen Rating-Agenturen wie Fitch, Moody’s Investors Service und S&P warnten in den letzten Tagen, dass der Konflikt zu einer Herabstufung Israels führen könnte, was die Aufnahme neuer Krediten an den Kapitalmärkten sehr viel teurer macht.

„Die israelische Wirtschaft hat es in der Vergangenheit immer wieder verstanden, sich von Krisen zu erholen und schnell zum Wachstum zurückzukehren“, erklärte Zentralbankdirektor Amir Yaron auf eine Pressekonferenz dieser Tage und betonte, er „habe keinen Zweifel daran, dass auch dieses Mal das gelingen wird“. Schließlich sei man gut aufgestellt. Israel verfüge Devisenreserven von rund 200 Milliarden Dollar ein und kann auf weitere Hilfen aus den Vereinigten Staaten rechnen. Auch Professor Michel Strawczynski, Wirtschaftswissenschaftler an der Hebräischen Universität Jerusalem und ehemaliger Direktor der Forschungsabteilung der Zentralbank, glaubt an die Resilienz der israelischen Wirtschaft. Er stützt seine Aussage auf die Daten der Vergangenheit. So habe der Krieg im Gazastreifen 2014 die Wirtschaft damals 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gekostet und der Krieg im Libanon 2006 ganze 0,5 Prozent, so der Experte. „Ich erwarte für das 4. Quartal 2023 einen massiven Einbruch.“ Wie stark dieser sein wird, weiß er nicht. „Aber es würde mich nicht überraschen, wenn die Wirtschaft um 15 Prozent schrumpft.“ Sollten die Kriegsziele erreicht seien, „dann werden wir einen Aufschwung erleben – obwohl wir nicht wissen, wann das sein wird“, so Strawczynski. „Alles hängt davon ab, wie viele Fronten es am Ende geben wird. Aber das Wichtigste von allem ist die Dauer des Konflikts.“

Bild oben: Schüler und Schülerinnen einer 10. Klasse helfen auf Erdbeerfeldern, Foto: Rona Sarfati-Sagir