Das Ende einer Ära

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Die israelische Bodenoffensive im Gazastreifen hat noch nicht in vollem Umfang begonnen. Auch kann niemand sagen, wie lange der Kriegszustand anhalten wird – trotzdem beginnen in Israel bereits die Diskussionen darüber, wer die Verantwortung für das Desaster vom 7. Oktober trägt.

Von Ralf Balke

Vor wenigen Wochen war die Welt noch in Ordnung, zumindest aus der Sicht von Benjamin Netanyahu. Trotz vehementer Proteste seitens der Bevölkerung hatte der Ministerpräsident den ersten Teil seines umstrittenen Vorhabens, und zwar den Umbau des Justizwesens, in der Knesset durchboxen können. Auch außenpolitisch schien sich eine Sensation anzubahnen und es sah so aus, als ob bald eine israelische Botschaft in Riad eröffnet werden könnte und Saudi-Arabien, das mächtigste Land in der sunnitischen Welt, mit Israel offiziell diplomatische Beziehungen pflegen wird. Netanyahu wähnte sich bereits als der Politiker, der in die Geschichtsbücher eingehen wird, weil dank seines diplomatischen Geschicks der jüdische Staat endgültig von der arabischen Welt akzeptiert sein würde.

Dann kam der 7. Oktober und das von der Hamas verübte Massaker an über 1.400 Israelis, die allermeisten davon Zivilisten jeden Alters. Es ist das größte Massaker an Juden an einem einzigen Tag seit der Schoah. Zwar regierte man umgehend, rief über 300.000 Reservisten ein und kündigte an, der Herrschaft der Islamisten über den Gazastreifen ein baldiges Ende zu bereiten. Ihre Anführer seien „dead man walking“, hieß es seitens des Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu. Das gesamte Politbüro der Terrororganisation und alle ihre Kämpfer würden jetzt auf der Abschussliste stehen. Nur wie genau das geschehen soll, darüber scheint aktuell noch keine Gewissheit zu herrschen – die große angekündigte Bodenoffensive lässt weiterhin auf sich warten.

Doch auf etwas anderes wartet man ebenfalls, und das ist die Übernahme der Verantwortung für das, was geschehen konnte. Ganz offensichtlich gab es ein Versagen auf ganzer Linie. Weder war die Armee in der Lage, das Eindringen von mehreren Tausend Terroristen in das israelische Staatsgebiet zu verhindern und es sollte Tage dauern, bis auch die letzten von ihnen unschädlich gemacht wurden und die Kibbuzim und Moschawim im Umland des Gazastreifens zurückerobert werden konnten. Auch die Geheimdienste schienen blind gegenüber dem gewesen zu sein, was sich vor ihren Augen vor Ort im Gazastreifen da zusammengebraut hatte. In vielerlei Hinsicht wirkt das Geschehen wie eine Wiederholung dessen, was fast auf den Tag genau 50 Jahre zuvor geschehen ist, als Israel von Ägypten und Syrien überrascht wurde – nur war das damals eine Auseinandersetzung zwischen den Armeen der involvierten Staaten. Es starben Tausende Soldaten – jetzt aber mussten Zivilisten den Preis für eine Mischung aus Ignoranz, Inkompetenz und Hybris zahlen.

Wie dysfunktional das System Netanyahu selbst nach dem 7. Oktober sein konnte, zeigt die Tatsache, dass es fünf Tage dauern sollte, um ein Kriegskabinett auf die Beine zu stellen, das unter der Leitung des Ministerpräsidenten neben dem Verteidigungsminister Yoav Gallant auch den Oppositionspolitiker und ehemaligen Generalstabschef Benny Gantz mit einbindet, flankiert von dem Bibi-Vertrauten und Ex-Botschafter Israels in Washington, Ron Dermer, den Vorsitzenden der sephardisch-orthodoxen Shass-Partei Arye Deri sowie Gadi Eisenkot, ebenfalls ein ehemaliger Generalstabschef. Einer der Gründe: Netanyahus Ehefrau Sarah hatte laut Medienberichten wohl vehement gegen die Zusammenarbeit mit Gantz opponiert. Auch das weitere Verhalten des Ministerpräsidenten sorgte für Unmut. So hatte er seit dem 7. Oktober alle Interviewanfragen von Journalisten ignoriert und sich in den Medien nicht weiter zu den Ursachen der Ereignisse geäußert. Gezeigt wurden stets nur Bilder, wie er mit Politikern aus aller Welt, die nach Israel kamen, allen voran US-Präsident Joe Biden oder Bundeskanzler Olaf Scholz, gemeinsame Auftritte hat oder Truppen vor Ort besucht. Am Mittwochabend hatte Netanyahu nun einen weiteren Auftritt im TV, diesmal zur Hauptsendezeit. Über das, was falsch gelaufen ist, oder Verantwortung für das Desaster wollte er aber nicht sprechen, sagte jedoch, dass „jeder Antworten wird geben müssen – auch ich – für das Debakel, das in den Gemeinden des Südens geschehen ist“. Zugleich betonte er sofort, dass „all dies erst nach dem Krieg passieren“ wird und erklärte, dass er derjenige sei und auch bleibe, der die Nation „zu einem vernichtenden Sieg über unsere Feinde“ führen werde.

Andere waren da schon weiter. Der Erste, der öffentlich erklärte, Verantwortung für die Versäumnisse zu übernehmen, war am 12. Oktober Erziehungsminister Yoav Kisch und der Likud-Abgeordnete Eliyahu Revivo. Es sollten der aktuelle Generalstabschef Herzi Halevi, der Leiter des Inlandsgeheimdienstes Shin Beit, Ronen Bar, der Chef des militärischen Geheimdienstes Aharon Haliva sowie Verteidigungsminister Yoav Galant und selbst Finanzminister Bezalel Smotrich folgen. Sogar Naftali Bennet, der Vorvorgänger Netanyahus, übernahm für eventuelle Fehler die Verantwortung – nur von Netanyahu waren solche Worte nicht zu hören. Entsprechend enttäuscht und wütend reagierten viele Israelis, vor allem solche, deren Angehörige in den Gazastreifen verschleppt wurden oder die man ermordet hatte. „Herr Ministerpräsident, gehen Sie zu den Medien und entschuldigen Sie sich!“ forderte stellvertretend für viele Shirel Hogeg, dessen Familienangehörige bei dem Hamas-Angriff in Kfar Aza verletzt wurden. „Diese Menschen wurden in der Zeit ermordet, in der Sie die Regierungsverantwortung hatten.“

Die israelische Gesellschaft, die durch die Kontroversen rund um den geplanten Umbau des Justizwesens bis vor wenigen Tagen noch tief gespalten war, ist sich nun in zwei Dingen sehr einig: Sie alle sind von der Notwendigkeit überzeugt, die Hamas zu vernichten. Und ihr Vertrauen in die Fähigkeiten der Regierung ist auf einem absoluten Tiefpunkt angekommen. Laut einer Umfrage der Tageszeitung „Maariv“ sind 80 Prozent der Israelis der Meinung, Netanyahu müsse öffentlich die Verantwortung für die Ereignisse vom 7. Oktober übernehmen. Selbst 69 Prozent der Likud-Wähler denken so. Nur acht Prozent glauben, dass er das nicht machen sollte. Auf die Frage, wer besser für das Amt des Ministerpräsidenten geeignet sei, nannten 49 Prozent Benny Gantz, und nur 28 Prozent Netanyahu, der Rest war unentschieden. Und wenn heute Wahlen wären, hieße der Sieger ebenfalls Benny Gantz, seine Partei der Nationalen Einheit käme alleine auf 40 Mandate in der Knesset, die aktuelle Koalition würde statt der momentanen 64 nur noch 43 Sitze erhalten.

Selbst klassische Hochburgen des Likud sind erschüttert über das Versagen ihres Parteivorsitzenden, auch in den Tagen nach dem 7. Oktober. Beispielhaft dafür ist ein Brandbrief des Bürgermeisters der Kleinstadt Netivot im nordwestlichen Negev, der die Regierung beschuldigt, seine Gemeinde „im Stich gelassen“ zu haben, weil nichts zu ihrem Schutz seither geschehen würde. Auch dauerte es eine Woche, bis Netanyahu die in Mitleidenschaft geratenen Kibbuzim und Moschawim besuchen sollte, und ganze acht Tage, um sich mit den Angehörigen derjenigen zu treffen, die die Hamas als Geiseln in ihre Gewalt genommen hatte. Und die Tatsache, dass fast täglich neue Berichte darüber erscheinen, was alles vor dem 7. Oktober schief gelaufen ist, wird den Druck auf die Regierung, Geheimdienste und das Militär weiter verstärken, in der Zeit nach dem Krieg die Verantwortlichen für das Desaster zu benennen.

So hatten Soldatinnen und Soldaten, die an den Grenzanlagen zum Gazastreifen stationiert waren, schon vor einem Jahr immer wieder ihren Vorgesetzten von auffälligen Aktivitäten der Hamas Meldung gemacht – alle diese Berichte wurden ignoriert oder in den Wind geschlagen. Es herrschte die felsenfeste Überzeugung vor, dass die radikalen Islamisten an einer Eskalation kein Interesse hätten, weshalb im Umland des Gazastreifens zu diesem Zeitpunkt kaum Truppen vorhanden waren. Alle Aufmerksamkeit war auf das Westjordanland gerichtet – die Liste der Versäumnisse scheint schier endlos. Hinzu hatte man Strukturen geschaffen, die zu einem Kompetenzdurcheinander führten, das mit dazu beigetragen hatte, dass wichtige Informationen nicht zur Kenntnis genommen wurden. Exemplarisch dafür ist die Ernennung von Bezalel Smotrich als Minister im Verteidigungsministerium, verantwortlich für das Westjordanland, der stets nur den Schutz der Siedler im Auge hatte und entsprechend Druck aufgebaut hatte.

Nach dem Yom-Kippur-Krieg hatte man nach Protesten der Bevölkerung die Agranat-Kommission eingerichtet, die schließlich Personen im Militär und den Geheimdiensten nannte, die Schuld an dem Versagen von 1973 hatten. Die Verantwortlichen in der Politik, Ministerpräsidentin Golda Meir und Vereidigungsminister Moshe Dayan, kamen damals relativ ungeschoren davon. Das dürfte im Fall einer erneuten Untersuchungskommission wohl kaum möglich sein. „Im Moment ist es noch schwer, sich den ersten Tag nach dem Ende dieses Krieges vorzustellen, da der Konflikt gerade erst in seine erste Phase getreten ist“, schreibt Ksenia Svetlova in einer ersten Analyse des Thinktanks Atlantic Councils zu den aktuellen Entwicklungen. „Doch wenn dieser Tag schließlich kommt, wird das politische System Israels ganz anders aussehen als heute. Netanyahu wird nicht nur den Preis für dieses Scheitern zahlen, er wird auch einen viel größeren Anteil an der Schuld tragen als alle anderen. Jahrelang hatte er alle seine Minister und Helfer ins Abseits gepusht und aggressiv die meisten Lorbeeren geerntet. Nach dem Yom-Kippur-Krieg dauerte es drei Jahre bis zur großen Umwälzung von 1977, als der Likud der Arbeitspartei die Macht entreissen konnte. Nach dem 7. Oktober wird es wahrscheinlich deutlich weniger Zeit brauchen.“

Bild oben: Pressekonferenz von Premier Netanyahu am 26.10.23, Screenshot Youtube IsraeliPM