Der raue Klang des Krieges

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Theodor Kramer berichtet aus den Schützengräben des Ersten Weltkrieges

Von Karl-Josef Müller

Der heilige Krieg lautet der Titel eines Büchleins aus der Feldpostbücherei mit dem Untertitel Gedichte aus dem Beginn des Kampfes. Uns liegt die Ausgabe 41. bis 45. Tausend vor. Das Nachwort, geschrieben Ende September 1914, dokumentiert den Enthusiasmus eines Kriegsbeginns, der für viele Soldaten an der Front schon bald in den Horror des Artilleriefeuers münden sollte:

Diese Sammlung will ein Bild des deutschen Geistes in den ersten Wochen des großen Krieges geben. Die leidenschaftliche Begeisterung, die überall erwachte, fand ihren notwendigen Ausdruck in einer Kriegs- und Vaterlandsdichtung, die in vielen Stücken mit Ehren neben der Dichtung vor hundert Jahren besteht.

Namen und Werke der meisten knapp sechzig Autoren und vier Autorinnen, die mit einem oder mehreren Gedichten in dem Band versammelt sind, dürften kaum noch bekannt sein.

Vier auch heute noch bekannte Namen seien aber genannt: Gerhard Hauptmann, Arno Holz, Ludwig Thoma und Klabund. Stellvertretend für Ton und Haltung dieser Lyrik, hier einige Zeilen des Gedichtes O mein Vaterland von Gerhard Hauptmann:

O, mein Vaterland, heiliges Heimatland,
Was du sagst, ich will es gerne tun:
Mähen will ich, mähen und nicht ruhn! –
Eh ich nicht die letzte Garbe band.

Die Ernte, die hier eingebracht werden soll, sind, wir sagen es der Deutlichkeit halber, Menschen, die Soldaten der gegnerischen Länder.

Die Kriegsgedichte von 1931, „Wir lagen in Wolhynien im Morast“ (hier war Theodor Kramer während des Ersten Weltkriegs schwer verwundet worden), richten ihre Anteilnahme denn auch nicht auf die sogenannten Helden und das außerordentliche Erlebnis, sondern auf das alltägliche Leiden in den Schützengräben; sie zeigen sich nicht fasziniert von den Stahlgewittern der Materialschlachten, sondern artikulieren die Sehnsucht nach Ruhe und Trost in der Natur.

Wir können das Bild, welches Thomas Anz von den Kriegsgedichten des Autors zeichnet, nur bestätigen. Auch die kritischen Anspielungen von Anz auf die Haltung Ernst Jüngers (1920: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers, 1922: Der Kampf als inneres Erlebnis) haben ihre Berechtigung, lassen bei Kramer Elend und Morast doch keinerlei Gedanken an irgendwelche das erlebte Geschehen überhöhende Sinngebungen aufkommen.

Die von Karl Müller und Peter Roessler neu herausgegebene Gedichtsammlung belässt es nicht dabei, die Gedichte erneut abzudrucken. In den Band aufgenommen sind weitere neunzehn Gedichte zum Ersten Weltkrieg; sie belegen, dass die Schrecken des Krieges den Lyriker über den damals viel beachteten Sammelband hinaus beschäftigten.

Im Nachwort mit dem Titel Theodor Kramer und seine Gedichte zum Ersten Weltkrieg schildert Peter Roessler die beachtliche Wirkung von Kramers Kriegslyrik in den Dreißigerjahren. Zu den durchaus kritischen Bewunderern zählte auch Bruno Kreisky, der spätere österreichische Bundeskanzler. Im Vorwort zum 1984 erschienenen ersten Band der Gesammelten Gedichte Theodor Kramers benennt Kreisky exakt das Spannungsfeld zwischen Zustimmung und Skepsis, welche die Gedichte auslösten:

In seinem Vowort, das ein persönlich und historisch gefasster Rückblick ist, erinnert sich Bruno Kreisky an den starken Eindruck, den das Wolhynien-Buch hervorgerufen hat. Er zählt es zur „eindrucksvollsten Kriegslyrik“ und erinnert sich daran, dass es „immer bei unseren Veranstaltungen gelesen“ worden sei. Kreisky bemerkt aber auch, dass die mit den Gedichten getroffene „Aussage (…) sogar umstritten“ war, da sie „manchen offenbar nicht negativ genug gegen den Krieg gerichtet“ war. „Heute über diese Zeit nachdenkend“, schreibt er weiter über die Gedichte, „muß ich sagen, daß gerade in der Nüchternheit ihre Wirksamkeit lag.“

Keinerlei Verständnis für Kramers Lyrik hatte 1931 Luitpold Stern, dessen Rezension in dem Kapitel Dokumente zur Wirkung des Gedichtbandes „Wir lagen in Wolhynien im Morast…“ (1931) nachzulesen ist:

Der Spießer als Dichter. Der Pedant als Lyriker. Der Kleinbürger im Morast seiner Gleichgültigkeit:

Diesen Typus des schreibenden Kleinbürgers (Nachwort) gilt es zu bekämpfen, denn er ignoriert, was doch unmittelbar bevorsteht:

Nein, wir lagen nicht in Wolhynien im Morast. Wir liegen im Morast dieser Gesellschaftsform. Das Grünen der Brombeerhecken ist lyrische Floskel veralteter Dichtung, ist konterrevolutionäre Ablenkung nicht mehr abzulenkender Revolution.

Es gibt keinerlei Dichtungstheorie, die benennen würde, wie  das sinnlose Leiden und Sterben des Krieges in Worte oder Bilder gefasst werden kann. Trakls Gedicht Grodek ist so schön und erhaben wie blutig. Zurzeit sorgt die Neuverfilmung von Im Westen nichts Neues für Aufsehen, über den Roman weiß Peter Roessler Folgendes zu berichten:

Was den Roman Im Westen nichts Neues betrifft, ist heute bekannt, dass Remarque seine beim Ullstein-Verlag eingereichte Fassung umschrieb, um dem Roman einen mehr schildernden, berichtenden Charakter zu geben, die kritischen Passagen zurückzudrängen und ihn dadurch gängigen Kriegsromanen anzunähern.

Ausrichtung und Qualität der Neuverfilmung sind umstritten:

Die Geschichte bleibe in der Inszenierung Edward Bergers so kraftvoll wie eh und je und gewinne sogar in dieser Zeit, in der in der Ukraine ein weiterer Krieg in Europa geführt wird. (Pete Hammond)

Der Militärhistoriker Sönke Neitzel hält den Film für „fehlerhaft, klischeebeladen und wenig authentisch“. (…) Bei einer Szene, in der bei den Franzosen Soldaten aus Nordafrika auftauchen, gebe der Film eine Diversität vor, die „historisch schlicht falsch“ sei, da es in der französischen Armee eine „klare Rassentrennung“ gegeben habe. Allgemein komme im Film praktisch nichts davon vor, „was die Forschung über das Kriegsende, die mangelnde Moral und den Rückzug ab dem 18. Juni herausgearbeitet“ habe.

Wolhynien wie Grodek gehören heute zum Staatsgebiet der Ukraine, eine erschreckende Kontinuität. Die Neuverfilmung des Remarque-Klassikers kontrastiert in ihrer Überwältigungstrategie à la Hollywood aufs Äußerste mit der so bescheiden wie rau wirkenden Kunst Theodor Kramers. Auf der großen Kinoleinwand wie auf den mittlerweile beinahe genau so großen Bildschirmen im Wohnzimmer steht das Spektakel im Mittelpunkt, davon halten die Gedichte von Theodor Kramer mit guten Gründen Abstand.

Kramers Mutter blieb in Wien und wurde nach Theresienstadt deportiert. Er sollte sie nie wieder sehen. Im späteren Exil plagte ihn die Ungewissheit um ihr Schicksal. Nach dem Krieg erfuhr er: Sie starb im KZ am 26. Januar 1943.

Sein Vater starb bereits 1935: „Ich bin froh, dass du schon tot bist, Vater, dass du starbst, bevor die Horde kam, die mich schrubben ließ“. Theodor Kramer heißt ab 1. April 1939 „vor Behörden und im Geschäftsverkehr“ Theodor „Israel“ Kramer. Entwurzelung beginnt mit solchen Stempeln. 

Theodor Kramer war jüdischer Herkunft; ob ihm der Glaube etwas bedeutete, ist uns nicht bekannt. 1939 konnte er nach England emigrieren, doch vorher, so muss seine Bemerkung über den frühen Tod seines Vaters wohl verstanden werden, musste er noch „schrubben“:

Der Anschluss Österreichs im März 1938 hatte exzessive antisemitische Ausschreitungen zur Folge: „So wurden sie unter anderem gezwungen, in so genannten Reibpartien Bürgersteige von anti-nationalsozialistischen Slogans zu reinigen. Dieser Ausbruch antisemitischen Hasses erfolgte spontan und war von keiner Seite vorhergesehen worden.“ Weiss entwirft eine ans Surreale grenzende Szene. Das Johlen im Hintergrund verweist auf die aufgeheizte Stimmung in diesen Tagen im März 1938, wie sie auch Carl Zuckmayer beschreibt: „Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen, das tage- und nächtelang weiterschrillte.“ Ähnlich die Schilderung bei Stefan Zweig in seinen Erinnerungen Die Welt von Gestern: „Mit nackten Händen mußten Universitätsprofessoren die Straßen reiben, fromme weißbärtige Juden wurden in den Tempel geschleppt und von johlenden Burschen gezwungen, Kniebeugen zu machen und im Chor ‚Heil Hitler‘ zu schreien.“ (Literaturkritik)

Wir lagen in Wolhynien im Morast… Und weitere Gedichte zum Ersten Weltkrieg. Hrsg. v. Karl Müller und Peter Roessler. Mit einem Nachwort von Peter Roessler. Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 2023. 204 Seiten, 24 €, Bestellen?