Streit über ein Video-Tweet

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Steffen Seibert, deutscher Botschafter in Israel, nimmt als Zuschauer bei den Anhörungen des Obersten Gerichtshofs teil. Das israelische Außenministerium sieht darin eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Nun lautet die Frage, ob der Besuch des Diplomaten eine Grenzüberschreitung war oder gängige Praxis?

Von Ralf Balke

Ein Video-Tweet sorgt derzeit für Verstimmungen zwischen Deutschland und Israel. Gepostet hatte es am 12. September Steffen Seibert, deutscher Botschafter in Tel Aviv. In der Titelzeile ist zu lesen: „The place to be this morning“, woraufhin der Hashtag „Bagatz“ folgt, das hebräische Akronym für den Obersten Gerichtshof des Landes. Es zeigt den Diplomaten, wie er als Zuschauer in Jerusalem in dem Raum sitzt, in dem die höchsten Richter kurz darauf die Anhörungen zu den Petitionen leiten, die sich gegen die von der Knesset am 24. Juli beschlossenen Aufhebung der Angemessenheitsklausel, dem ersten Baustein dessen, was die Koalition von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu „Justizreform“ bezeichnet, aber auf einen Umbau des Justizwesens hinausläuft. Auf Hebräisch kommentiert Seibert das Ganze mit den Worten. „Ich denke, hier geschieht etwas Wichtiges für die israelische Demokratie. Wir als Freunde Israels schauen mit großem Interesse auf den Obersten Gerichtshof. Das wollte ich mir ansehen.“

Israels Außenminister Eli Cohen war von der Anwesenheit des deutschen Diplomaten bei den Anhörungen des Obersten Gerichtshofs offensichtlich nicht begeistert und beauftragte einen namentlich nicht genannten hochrangigen Mitarbeiter des Außenministeriums damit, Seibert mitzuteilen, dass man diesen Besuch als inakzeptable Einmischung in die Angelegenheiten Israels betrachte. Auch die israelische Botschaft in Berlin wurde angewiesen, das Ganze beim Auswärtigen Amt zu thematisieren. All das geschah aber nur „mündlich“, wie es die Nachrichtenagentur dpa sowie das ARD-Studio Tel Aviv in Erfahrung brachten. Denn eine offizielle Beschwerde sei beim Auswärtigen Amt nicht eingegangenen, wie ein Ministeriumssprecher bei der Regierungspressekonferenz versicherte. Dieses Prozedere deutet darauf hin, dass man in Berlin diesen Vorfall nicht weiter aufbauschen wollte.

Trotzdem reagierte man auf höchster Ebene auf die Kritik aus Israel. Bundeskanzler Olaf Scholz, der sich gerade in New York aufhielt, nahm Seibert in einem Statement in Schutz. „Der deutsche Botschafter ist ein sehr engagierter Mann mit sehr klaren Prinzipien“, sagte er. „Und ich glaube, dass das auch jeder weiß – auch in Israel.“ Ähnliches war ebenfalls von Annalena Baerbock zu hören. „Es ist das Alltagsgeschäft von Diplomatinnen und Diplomaten, auf dem aktuellen Stand von Entwicklungen in unterschiedlichen Ländern zu sein“, betonte die Außenministerin. „Es ist auch ganz normal, dass wir zu öffentlichen Anhörungen oder öffentlichen Gerichtsprozessen gehen. Deswegen ist es Teil seines Jobs.“ Und auch Michael Roth (SPD), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, sagte: „Eine Einmischung in innere Angelegenheiten kann ich nicht nicht erkennen.“ Zuspruch erhielt Seibert ferner von dem Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin sowie dem Vize-Unions-Fraktionschef Johann Wadephul (CDU).

Unabhängig davon, ob man den Besuch von Seibert bei den Anhörungen des Obersten Gerichtshofs als ganz normalen Vorgang oder als Grenzüberschreitung bewertet, überrascht dennoch die vielstimmige und parteiübergreifende Verteidigung des Botschafters auf deutscher Seite, ebenso die sehr umfangreiche wie auch sich mit dem Diplomaten solidarisierende Berichterstattung dazu. So hieß es beim Südwestrundfunk (SWR) „Hat Israel Botschafter Seibert auf dem Kieker?“ und die Neue Osnabrücker Zeitung titelte „Trotz Israel-Kritik an deutschen Botschafter: Weiter so, Herr Seibert!“. Die Frage ist schon erlaubt, ob die Reaktionen ähnlich unisono ausgefallen wären, wenn ein deutscher Diplomat in einem anderen Land für sein Verhalten kritisiert worden wäre. Das lässt sich durchaus als Beleg dafür anführen, dass die Beziehungen Deutschlands zu Israel immer noch als „besonders“ einzuschätzen sind. Umgekehrt wäre es ebenfalls interessant zu erfahren, wie man in Berlin reagiert hätte, wenn sich der israelische oder ein anderer Botschafter ähnlich parteiergreifend und öffentlich beispielsweise bei einem innenpolitischen Streitthema in Szene setzen würde. Die Begeisterung der deutschen Akteure über so ein Verhalten würde sich gewiss in Grenzen halten, Beschwerden wären garantiert.

Auf den Video-Tweet, der bereits über 400.000 mal geklickt wurde, reagierten jedenfalls viele Israelis. Wenig überraschend erhielt Seibert von den Gegner des Umbaus des Justizwesens dabei viel Lob und Zustimmung, von anderen wurde er aber für seinen Besuch beim Obersten Gerichtshof kritisiert und nicht selten sogar beleidigt – die Kommentare spiegeln in vielerlei Hinsicht also den innergesellschaftlichen Konflikt wider, der durch das Projekt der Regierung ausgelöst wurde. Und es ist nicht das erste Mal, dass es Diskussionen um das Auftreten des Botschafters gibt. So war Seibert Anfang Juni bei einer Veranstaltung der NGO Parents Circle – Families Forum, bei der israelische und palästinensische Familien Angehörigen gedachten, die bei Terroranschlägen oder Militäreinsätzen verloren hatten, anwesend – wie er betonte nicht in seiner Rolle als Botschafter, sondern als Privatmann. Die NGO ist nicht unumstritten in Israel, weil sie gefallene Soldaten und Opfer von Terror mit Palästinensern gleichsetzen würde, die Angriffe auf Israelis verübt hatten und dabei zu Tode kamen. Und obwohl Seibert im Konflikt zwischen Israel und den radikalen Islamisten expliziter als seine Vorgänger die immer wieder stattfindenden Raketenangriffe aus dem Gazastreifen verurteilt, ist er zur Zielscheibe nationalistischer und rechtsextremer Organisationen geworden, beispielsweise wurde ein Festakt anlässlich des 75. Jahrestag der Gründung des Staates Israel sowie von 60 Jahren Studienreisen der Bundeszentrale für politische Bildung auf dem Gelände der Residenz der deutschen Botschaft massiv gestört und Seibert mehrfach beleidigt.

Steffen Seibert selbst hat eine recht ungewöhnliche Vita für einen Diplomaten auf diesem wichtigen Posten. Der 1960 in München geborene Steffen Seibert studierte nach seinem Zivildienst Geschichte, Literaturwissenschaften und Öffentliches Recht zuerst an der Universität Hamburg, dann an der London School of Economics. 1988 wird er Volontär beim ZDF, schließlich Redakteur und von 1992 bis 1995 Auslandskorrespondent in Washington. Wieder zurück in Deutschland moderiert Seibert unter anderem das „ZDF-Morgenmagazin“, „hallo-Deutschland“ sowie „ZDF-Reporter“, um ab 2003 Moderator der „heute-Nachrichten“ und ab 2007 des „heute-journals“ zu werden. 2010 ist dann Schluß bei den Öffentlich-Rechtlichen, Seibert löst Ulrich Wilhelm als Regierungssprecher und bleibt in dieser Position bis zum Ende der Amtszeit von Bundeskanzlerin Angelika Merkel im Dezember 2021.

Im März 2022 wird er schließlich zum Botschafter in Israel ernannt, im August 2022 überreicht er Staatspräsident Isaac Herzog sein Beglaubigungsschreiben. Der Hintergrund: Bundeskanzler Olaf Scholz hatte seiner Vorgängerin versprochen, ihren langjährigen Regierungssprecher im diplomatischen Dienst unterzubringen. Ursprünglich sollte Seibert im Rahmen einer ganzen Serie von personellen Neubesetzungen als Botschafter nach Madrid gehen, dann wurde es Israel. Man wollte seitens Berlin damit signalisieren, dass es eine Kontinuität in den engen Beziehungen beider Länder gibt, in dem man einen der engsten Vertrauten von Angela Merkel mit diesem Job beauftragte – schließlich genoss die Bundeskanzlerin wie kaum ein anderer Politiker höchstes Ansehen in Israel und ist dort immer noch sehr populär. Auch hat es eine gewisse Tradition, kein Gewächs des Auswärtigen Amts nach Israel zu entsenden. 1971 hatte Bundeskanzler Willy Brand den langjährigen Chefredakteur der Parteizeitung  „Vorwärts“, Jesco von Puttkammer auf den Posten gesetzt. Auch Klaus Schütz, Botschafter in den Jahren zwischen 1977 und 1981, war kein Diplomat, sondern zuvor Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen. Und last but not least hatte Gerhard Schröder im Jahr 2000 den SPD-Sozialpolitiker Rudolf Dreßler zum Botschafter in Israel ernannt.