Eine Wilnaer Sukkotlegende von Jizchok Brandes
Diese Geschichte erschien am 27.9.1928 in der Zeitschrift „Die Stimme“, dem Organ der Allgemeinen Zionisten in Österreich
Diese Geschichte begab sich vor hundertsiebenundsechzig Jahren, im Jahre 5526, während des siebenjährigen Krieges, den Friedrich der Große mit den Herrschern von Oesterreich, Rußland, Frankreich und Sachsen führte. Infolge des Krieges waren die Straßen lebensgefährlich, und aus Polen nach Eretz Israel oder in ein anderes Land zu kommen, wo Esrogim zu bekommen waren, war unmöglich. Der Sommer war bereits zu Ende und es kam die Elulzeit. Die Töne des Schofar erklangen schon und die Judenschaft von Wilna rüstete zu den hohen Feiertagen; man begann die Zeit der Buße vorzubereiten und im Wilnaer Ghetto wurde die Düsterkeit der Gerichtstage fühlbar. Auch der Gaon von Wilna – sein Andenken uns zum Segen – hatte viel Kummer und Sorgen. Er brauchte natürlich vor dem Tag der Gerichtes keine Furcht zu haben: denn wer außer ihm könnte vor den Richterstuhl mit so viel guten Werken und Wohltaten treten? Des Gaons Kummer war ein ganz anderer. Er sah ein, in einem so großen Kriege, an dem die halbe Welt teilnahm, würde es unmöglich sein, einen Esrog zu beschaffen; wie konnte man da die Mizwah der vier Fruchtarten erfüllen? Es war bereits nach Rosch-Hoschanah, der Jomkippur war schon vorüber, und in Wilna gab es noch immer keinen Esrog; was konnte das für ein Sukkotfest sein, ohne einen Esrog, und gar für den Gaon von Wilna, der die Mizwah der vier Fruchtarten so hoch schätzte, daß er sich das ganze Sukkotfest hindurch am Esrog erfreute; ihr wißt ja, als er zur Sukkotzeit im Jahre 5558 dahinging, da starb er, den Esrog und den Lulaw in der Hand.
Als aber das Sukkotfest nahte und noch kein Esrog da war, da schloß sich der Gaon von Wilna ein und ließ niemanden, auch keinen seiner Schüler, vor sein Angesicht; und er flehte zu Gott dem Herrn mit heißem Gebet. Da traf es sich, daß am Vortage des Sukkotfestes dem Woiwoden von Wilna, Fürst Radziwill, die Tochter erkrankte; und der berühmteste Arzt war berufen, Rabbi Jehuda Halewi Hurwitz, vo Wilna. Er untersucht die Kranke und befand ihren zustand gefährlich; als Fürst Radziwill ihn fragte, was zu tun sei, um die Prinzessin zu retten, antwortete ihm Rabbi Jehuda Hurwitz: „Es steht schlecht – und es gibt keine Hilfe.“ Da rief Fürst Radziwill verzweifelt aus: „Ich bin bereit, mein ganzes Vermögen herzugeben, nut rette mein Kind!“
Rabbi Jehuda Hurwitz versank in tiefes Sinnen und antwortete dann: „Durchlauchtigster Fürst! Arzneien helfen gar nichts; es gibt nur noch ein Mittel: Bei uns in Wilna gibt es einen großen, heiligen Rabbi, sein Name ist Rabbi Elijahu; nur dieser Rabbi kann durch sein Gebet das Leben deines Kindes retten!“
Der Fürst, dem keine Wahl blieb, sandte eiligst eine Reiterstafette mit einem hebräischen Brief aus, den der Arzt Rabbi Jehuda Hurwitz geschrieben hatte, worin der Führst den heiligen Rabbi beschwor, für die Gesundheit seiner Tochter zu beten.
Als dem Gaon gemeldet wurde, eine Stafette vom Fürsten Radziwill sei zu ihm gekommen, ließ er sie vor; er las den Brief durch, betete dann inbrünstig und übergab dem Boten einen Zettel, auf dem die Worten standen: „Denn gut ist der Herr zu allen Geschöpfen und sein Erbarmen ist in allen seinen Werken.“
Der Arzt Rabbi Jehuda Hurwitz, den Fürst Radziwill bis zur Rückkehr der Stafette in seinem Hause beherbergt hatte, las die Antwort des Gaon und teilte dem Fürsten freundlich mit, der Gaon habe seine Tochter gesegnet, auf daß sie gesunde.
Von diesem Augenblicke an wich die Krankheit der Prinzessin und am Morgen des ersten Sukkottages konnte sie schon ihr Lager verlassen.
Fürst Radziwill ließ noch einmal den Arzt Rabbi Jehuda Hurwitz rufen, und fragte ihn, wie er dem heiligen Rabbi für die Genesung seiner Tochter danken könnte.
„Durchlauchtigster Fürst“, antwortete der Arzt, „Geld nimmt der Rabbi nicht, aber wenn du es ihm möglich machen würdest, einen Esrog und einen Lulaw zu bekommen, die der heilige Rabbi gar sehr braucht, um in den Tagen unseres Sukkotfestes zu Gott zu beten, und die er heuer wegen des Krieges nicht zu kaufen bekommt, so wäre der Rabbi die dafür sehr dankbar.“
„Gut!“ rief der Fürst erfreut aus, „noch heute soll der Rabbi einen Esrog und einen Lulaw haben.“
Das Gefilde am Ufer der Wilja, wo jetzt der Palast des Grafen Tiskiewicz steht, gehörte damals dem Geschlechte der Fürsten Radziwill. Der polnische König Siegmund August hatte dort seiner Geliebten, der Prinzessin Barbara Radziwill, ein prächtiges Schloß mit einem Garten errichten lassen. Gärtner aus Italien waren gebracht worden und hatten in diesem Garten die wunderbarsten Bäume und Gewächse gepflanzt, in ihm blühten die schönsten Tropenpflanzen und alle Arten von Bäumen des Südens.
König Siegmund August hatte diesen Fleck Erde in ein Paradies verwandeln lassen und in der Orangerie dieses herrlichen, fürstlichen Gartens gab es auch einen Esrogbaum und einen Lulaw.
Der Woiwode Fürst Radziwill, der diesen wunderbaren Garten mit dem Schlosse geerbt hatte, sandte sofort einen Boten dahin, um einen Esrog und einen Lulaw zu holen, und mit seinem ganzen Gefolge brachte er diese Geschenke dem heiligen Rabbi, dem Gaon von Wilna.